Donnerstag, 5. Dezember 2024

Great Women #399: Joan Didion

Ihr nahe gekommen bin ich, als ich nach dem Tod meines Mannes ihr Buch über den Tod ihres Mannes - "The Year of Magical Thinking" - gelesen habe. Heute jährt sich ihr Geburtstag zum neunzigsten Male. Die Rede ist von Joan Didion.
 

"Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben."
..... 
"Writing is the only way I’ve found
 that I can be aggressive,
I’m totally in control of this tiny, tiny world."

Joan Didion ist also am 5. Dezember 1934 in Sacramento, Kalifornien zur Welt gekommen. Sie ist das erste Kind ihrer Eltern Eduene Jerrett, 24 Jahre alt, und Frank Reese Didion, 25 Jahre alt. Fünf Jahre später werden die noch einen Sohn namens James bekommen.

"Sie gehörte dem kalifornischen Uradel an. Sie wusste genau, wann welcher ihrer Vorfahren Mitte des 19. Jahrhunderts die Prärie durchquert hatte und was er mit sich führte, denn schon ihre Ahnen führten Tagebuch und vererbten diese Tagebücher wie allerlei andere Artefakte ihren Nachkommen. So lässt sich in einem Siedlermuseum sogar der Kartoffelstampfer bewundern, den eine frühe Didion im Planwagen mit sich führte", weiß Tobias Lehmkuhl an dieser Stelle zu berichten.

"Wenn Du eine Klapperschlange siehst, töte sie, damit sie niemanden, der nach Dir kommt, noch beißen könnte", so habe ihre Großmutter ihr eingetrichtert, was Joan bis ins hohen Alter nicht vergessen wird. In dem Essay "Where I Was From" ( dt. "Woher ich kam" ) wird sie diese, ihre Geschichte 2003 als Nachgeborene der ersten Siedler Kaliforniens schildern.

Mit Eltern & Bruder
(1943)
"Die einzige Konstante am Kalifornien meiner Kindheit ist die Geschwindigkeit, mit der sie verschwindet", wird Joan später schreiben. 

Fassen wir an dieser Stelle aber erst einmal die bekannten Fakten zusammen:

Frank Reese Didion ist Finanzoffizier bei der Air Force, der mit der Abwicklung von Rüstungsverträgen im  2. Weltkrieg zu tun hat. Die Familie zieht deshalb von Armee-Stützpunkt zu Armee- Stützpunkt, bevor sie sich dann 1944 wieder in Sacramento niederlassen und in einem schönen Haus an der Ecke "T"- und 22nd Street wohnt. Dort betreibt der Vater auch ein Büro für Immobilien und Versicherungen, und Joan besucht schließlich die High School in der Stadt. Durch den ständigen Wohnortwechsel ist die frühe schulische Sozialisation des Mädchens bis dahin eher unkonventionell, da unregelmäßig gewesen. 

Kalifornien in den Jahren von Joans Kindheit & Jugend ist immer von Naturkatastrophen wie Bränden und Erdbeben bedroht gewesen. Das permanente Gefühl einer drohenden Apokalypse hat sich wohl auch auf das Seelenleben des kleinen Mädchens gelegt: Joan, so sie selbst, sei ein ängstliches, ein schwermütiges Kind gewesen, von Kopfschmerzen geplagt, dazu noch schüchtern und sich immer als Außenseiterin empfindend. 

Mutter Eduene reagiert auf die Gemütslage ihrer Tochter und deren stetiges Klagen und gibt ihr ein Quartheft, in das sie ihre Gefühle notieren kann. Das Tagebuchschreiben ist ja von jeher Tradition in der Familie. Joan wird sich später erinnern, dass sie fünf Jahre alt war, als sie damit angefangen hat, und 1966 einen Text mit dem Titel "Vom Sinn, ein Notizbuch zu besitzen" veröffentlichen. Darin wird es heißen: 

"Egal, wie pflichtbewusst wir niederschreiben, was wir um uns herum beobachten, der gemeinsame Nenner ist immer, unverhüllt und schamlos, das unerbittliche Ich."

Mit zehn will sie eine Geschichte über eine Frau erzählen, die einfach immer weiter ins Meer hinausgeht , um zu sterben. Da Joan nicht weiß, wie sich das anfühlt, kann sie davon aber nicht schreiben. Folglich probiert sie es selbst aus. Bei diesem Experiment ertrinkt sie beinahe. Keiner ihrer Erwachsenen bekommt es mit, denn die spielen derweil Karten...

"Was mich schon als Kind faszinierte, war die Art, in der Sätze funktionieren und wie man eine Geschichte ändern kann, indem man einfach die Art der Sätze ändert. Nur die Form der Sätze. Inhalte sind für mich immer sprachlich."

In ihrer Jugend tippt sie beispielsweise die Werke von Ernest Hemingway - ihr großes Vorbild - ab , um zu lernen, wie seine Satzstrukturen funktionieren. Auch Henry James lehrt sie: Sätze müssen gut sein, der Rest ist eigentlich egal.

1958
Ihre Mutter ist es, die Joan auch auf Schreibwettbewerbe aufmerksam macht, die die Zeitschriften "Mademoiselle" und "Vogue" jährlich ausloben. Joan gewinnt 1955 tatsächlich den "Mademoiselle-" -Schreibwettbewerb in der Zeit, als sie an der University of California in Berkeley schon Literatur studiert. Im Jahr darauf - da macht sie grade ihren Bachelor- Abschluss - geht sie als Siegerin aus dem "Prix de Paris"- Wettbewerb der "Vogue" hervor. Das Thema ihres siegreichen Beitrages dreht sich um den Architekten William Wurster aus San Francisco. Joan erhält daraufhin eine Stelle bei dem Magazin in New York und siedelt um an die Ostküste, anstatt ein Aufbaustudium zu absolvieren. Da ist sie gerade mal knapp 22 Jahre alt.

Ihre Aufgabe als Junior-Redakteurin ist das Erstellen von Bildunterschriften, ein Teil der "monatlichen großen Illusion" ( O-Ton Joan ) eines Hochglanz- Magazins. Ihr Name taucht nur selten auf. 

Ihr erster richtiger Vogue-Artikel 1961 handelt von der self reliance, und an ihm lässt sich schon die intellektuelle Schärfe und die sprachliche Eleganz der Autorin erkennen, die ihr Werk charakterisieren wird. Es geht darin um Charakterstärke, Disziplin und die Bereitschaft, Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen, und man spürt darin den Frontier-Geist ihrer Vorfahren. Doch er lässt auch, eher unmerklich, Joans psychische Probleme und Ängste durchscheinen. 

Bis 1964 bleibt sie bei der "Vogue" und arbeitet sich dort zur stellvertretenden Feuilleton-Redakteurin hoch. 

Joan ist durch und durch Kalifornierin. "Es ist schwer, sich eine Vorstellung von Kalifornien im Allgemeinen zu machen, die frei von ihrem Einfluss ist", wird einmal später über sie ausgesagt. 

An der Ostküste leidet sie an Heimweh, und ihren ersten Roman "Run, River" ( dt. "Menschen am Fluss" ) von 1963 lässt sie im heimatlichen Sacramento spielen. Der Schriftsteller, Literaturkritiker und Zeitschriftenkollege John Gregory Dunne hilft ihr beim Redigieren dieses Buches und zwischen ihnen entwickelt sich eine romantische Beziehung, die in einer Heirat am 30. Januar 1964 in San Juan Bautista in San Benito County, Kalifornien endet. Das war "eine sehr gute Sache, aber zur falschen Zeit" kommentiert sie später. 

1966 adoptieren sie ein Baby, das sie Quintana Roo nennen, und leben gemeinsam in Los Angeles. Das Familienleben bringt so seine eigenen Komplikationen für die 32- bzw. 34jährigen mit sich. Dunne wird sogar wegen einer Schreibblockade 18 Monate getrennt von ihr in Las Vegas zwischen Prostituierten, Falschspielern und Komikern verbringen.

1968
Während Joan auf sich alleine gestellt ist, verfasst sie 1968 die Essaysammlung "Slouching Towards Bethlehem". Sie beschreibt darin die Hippies, die sich in Haight-Ashbury sammeln, einem Viertel von San Francisco. Sie taucht nicht als Anhängerin oder als scheinbar objektive Journalistin in die Szene ein, sondern als sozial engagierte, politisch eher konservative Beobachterin und entdeckt eine Generation junger Menschen, die von ihrem Land in Stich gelassen worden ist und nun Halt in New-Age-Philosophie, Hare-Krishna-Gesängen und Drogen sucht, kaputt & verloren. Sie sieht auch, was kommen wird: Dass in der Sonnenschein-Rhetorik der Hippies auch der "edle Irrsinn der Blumenkinder" angelegt ist, der zur grausigen Paranoia der Manson-Familie mutieren wird, dass die Versprechen der Technik und der chemischen Industrie in einer boomenden Wirtschaft darin enden werden, Vietnam zu zerbomben und zu entlauben...

Diese Anthologie macht Joan auf einen Schlag berühmt, und ihre Karriere startet eigentlich jetzt erst richtig. Sie wird nun dem New Journalism zugerechnet, jenem höchst subjektiven, der Popkultur eng verbundenen Reportagestil, den auch Hunter S. Thompson, Norman Mailer, Tom Wolf & Truman Capote pflegen. Doch sie ist nur zur Hälfte Journalistin, insofern, als dass sie extrem viel und genau recherchiert. Für eine Journalistin denkt sie aber zu genau nach und formuliert viel besser als es selbst gute Journalisten gemeinhin vermögen:

"Der Didion-Stil: präzise und so distanziert, dass es mitunter teilnahmslos wirkt oder wie unter einem Sedativ. Doch zwischen den kühl gesetzten Worten schimmert etwas Schwermütiges durch, und zwar nicht im Sinne einer süßen Melancholie, sondern schon eher harte, mitleidlose Depression: die Angst, vielleicht sogar Überzeugung, dass nichts einen Sinn hat, nichts etwas bedeutet. Nur an der Schreibmaschine habe sie Kontrolle, hat Joan Didion gesagt." ( Johanna Adorján an dieser Stelle )

Tatsächlich ist Joan in diesen Jahren zwar schriftstellerisch produktiv, kann aber keinen Sinn mehr in ihrem Leben erkennen und leidet unter Depressionen. Zum Teil führt sie das auf die Umwälzungen der Zeit zurück, zum Teil auf ihre persönlichen inneren Probleme. 1969 kann sie auch einen solche Aussage "raushauen":

"1969: Ich sitze in einem Zimmer mit hoher Decke im Royal Hawaiian Hotel in Honolulu und versuche mein Leben neu zusammenzusetzen. Mein Mann ist hier und unsere Tochter, drei Jahre alt. [...] Wir sind hier, auf dieser Insel inmitten des Pazifischen Ozeans, anstatt unsere Scheidung einzureichen."

Solche Tagebuchaufzeichnungen sind nicht geheim, ihr Mann wird sie redigieren, und sie zeigen auf, welche Haltung Joans Art des Erzählens prägen: Ironie, die den Mut hat zur Ambiguität und zum Zweifel am Gesagten. Dass sie sich selbst in ihren radikal subjektiven, doch nie bloss privaten Geschichten nicht schont, macht bis heute den kantigen Reiz ihres Schreibens aus.

Weil das so ist, schreibt sie vor allem auch über die Milieus, die glauben, ohne Ironie auszukommen wie die amerikanische Innenpolitik oder die Frauenbewegung der 1970er Jahre. Kritisch sieht sie zum Beispiel die Autorin Doris Lessing ( siehe dieser Post ), lobt hingegen die Malerin Georgia O’Keeffe ( siehe dieser Post ): 

"Manche Frauen kämpfen und andere nicht. Wie so viele erfolgreiche Guerillas im Krieg zwischen den Geschlechtern – scheint Georgia O’Keeffe schon frühzeitig mit einem unumstößlichen Gespür dafür ausgestattet gewesen zu sein, wer sie war, und der ziemlich deutlichen Gewißheit, daß sie es würde beweisen müssen." ( Quelle: "Das weiße Album", 1979 )

Joans fatalistische "Weltanschauung" prägt auch ihren Roman "Play It As It Lays" ( dt. "Spiel dein Spiel", ) von 1970, in dem das misogyne Hollywood die Hauptfigur systematisch zum Sexobjekt degradiert und sie langsam ihrer Menschlichkeit beraubt. "Wie die Vögel unter dem Himmel" folgt 1978. Joans Romane nehmen in der Regel kein glückliches Ende. Ihr Mann sagt aber über sie: "Persönlich hat sie keine düstere Sicht auf das Leben. Sie erwartet einfach nicht viel vom Leben oder von den Menschen."

Mit Mutter & Tochter und glamourös mit ihrer gelben Corvette (1970er Jahre)

Unterdessen ist dem Ehepaar geglückt zu kooperieren, um Drehbücher zu schreiben: Beginnend mit "Panik im Needle Park" starten sie eine lukrative Karriere, die sie in erlesene Promi-Gesellschaft bringt und Gehälter, die sie zu zwei der bestbezahlten Drehbuchautoren Hollywoods machen. U.a. stammt auch die Version von "A Star Is Born" mit Barbra Streisand und Kris Kristofferson 1976 von ihnen. Die Einkünfte ermöglichen nun finanziell ihre höchst individuellen literarischen Streifzüge. Ihre Bücher - Dunne verfasst u.a. etliche Novellen - hingegen schreiben sie getrennt. Sie werden im Laufe der Zeit Amerikas bekanntestes Schriftstellerpaar, und 1982 wird die "The Saturday Review" zur "First Family of Angst" küren, weil die beiden sich unermüdlich mit der nationalen Seele auseinandersetzen...

1972 wird bei Joan Multiple Sklerose diagnostiziert, nachdem sie zeitweise auf beiden Augen bis zu sechs Wochen lang blind gewesen ist. Da keine weiteren Remissionen erfolgen, genießen sie dennoch quasi eine Art Star-Hollywood-Häuslichkeit, veranstalten regelmäßig Partys und erscheinen in den Klatschkolumnen zusammen mit Leuten wie Bianca Jagger, Paul Morrissey und Linda Ronstadt. Vanessa Redgrave, Harrison Ford oder Filmregisseure wie Brian de Palma und Martin Scorcese zählen zu ihren Freunden und kommen regelmäßig zum Essen. 

Familie Didion- Dunne
(1982)
Ihr partnerschaftliches Umgehen ist ihrer Zeit eher voraus: Dunne macht das Frühstück für Quintana und bringt sie morgens zur Schule, während Joan mit ihrer Arbeit loslegt. Doch sie sind auch eher überbehütend gegenüber dem Mädchen. Besonders Joan wird von vielfältigen Ängsten geplagt: "Die Quelle der Angst war offensichtlich: Es war der Schaden, der ihr zugefügt werden könnte", bekennt sie am Ende ihres Lebens. Quintana passt auch sonst nicht immer problemlos in das Universum einer aalglatten Traumfabrik und beneidet Gleichaltrige um deren Freiheit.

"Salvador" (1983)  markiert einen Wendepunkt in Joans Karriere: Im Gegensatz zu anderen Menschen, die nach dem Abschied von den politischen Idealen ihrer Jugend im Alter konservativ werden, wird Joan konsequent progressiver. Das ist ein direktes Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit der amerikanischen Politik, deren Ergebnisse sie vor allem in der Zeitschrift "New York Review of Books" veröffentlichen wird. 

1983

Joan hat sich zu Beginn der 1980er Jahre zwei Wochen lang im zentralamerikanischen El Salvador aufgehalten, wo die von der damaligen US-Regierung unterstützte Militärdiktatur einen blutigen Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung geführt hat. Ihr gelingt etwas fast Unvorstellbares: Sie bringt eine Mitarbeiterin der dortigen US-Botschaft dazu, zuzugeben, dass die Reagan-Regierung auch täglichen Massenmord und Folter als Zeichen einer demokratisch-freiheitlichen Entwicklung wertet.

Das Buch wird ein eindringliches Zeugnis der alltäglichen Banalität des Terrors und über die grausame Logik entgleister politischer Machtkämpfe. 

Im Jahr darauf folgt ihr Roman "Democracy", der sich um die zynische Welt Washingtons dreht, deren Verwerfungen für Konflikte in der ganzen Welt sorgen. Ihre Figuren halten sich verzweifelt an den Totems von Reichtum und Glamour fest. In ihren politischen Essays macht Joan Didion es sich jetzt zur Aufgabe, jene Geschichten zu hinterfragen, die sich die US-Öffentlichkeit nicht erzählt, weil sie wahr sind.

Akribisch recherchiert sie und beobachtet präzise, wie Ronald Reagan den US-amerikanischen Sozialstaat zerstört. Sie untersucht den Rassismus der US-Gerichte. Sie rekonstruiert, wie die republikanische Partei es schafft, Bill Clintons Affäre mit Monica Lewinsky so zu skandalisieren, dass Washingtons politische Klasse plötzlich glaubt, die amerikanische Bevölkerung brauche eine "moralische Wende".

1996
Ab den neunziger Jahren sieht sie die Polarisierung voraus, die heute die amerikanische Politik prägt. Sie konzentriert sich bis in die frühen Nullerjahre auf dieses Thema und verfasst kaum noch jene autobiografisch angehauchten Essays, mit denen sie berühmt geworden war. Das wird sich erst 2003 ändern.

Bereits 1988, nach 24 Jahren Los Angeles, ist das Paar Didion - Dunne wieder zurück nach New York, in die Upper East Side, gekehrt, um ihrer Tochter Quintana näher zu sein, die dort studiert. Entscheidend ist aber auch ihre Arbeit für die "New York Review of Books".

2001 stirbt ihre Mutter Eduene. Und das ist für die Schriftstellerin ein Anlass, "Where I Was From" zu verfassen, ein Buch über die Wahnvorstellungen ihrer kalifornischen Pioniervorfahren.

Ende Dezember 2003 stirbt dann ihr Ehemann, der schon länger herzkrank gewesen ist, im Alter von 71 Jahren am Esstisch sitzend durch einen Herzinfarkt, während Joan gerade dabei ist, den Salat für das Abendessen anzurichten. Über ihre Ehe sagt sie:

"Ich war nicht immer der Meinung, dass er Recht hatte, und er war auch nicht immer der Meinung, dass ich Recht hatte, aber wir waren beide Menschen, denen der andere vertraute." 

Und dann stirbt auch noch die Tochter Quintana im August 2005 an den Spätfolgen eines Sturzes und ihrer Alkoholabhängigkeit mit 39 Jahren, nach einem Leben mit vielen gesundheitlichen und emotionalen Problemen, für die Joan sich teilweise verantwortlich fühlt. Es ist ein langwieriger Tod gewesen und das Finale dann doch überraschend & unerklärlich.

Das sind Schicksalsschläge, vor denen sich die meisten Menschen fürchten und über die nur schwer hinwegzukommen ist. Freunde meinen, Joan habe sich nie wirklich davon erholt.

Nachdem die Schriftstellerin jahrzehntelang das Leid anderer seziert hat, richtet sie das Skalpell nun gegen sich selbst. In ihren jungen Jahren scheint sie nur vorgetäuscht zu haben, Selbstgeständnisse abzulegen, als sie sich eigentlich der Beobachtung der Welt gewidmet hat. Jetzt ändert sich alles.

"Das Jahr magischen Denkens" (2005), in dem sie das erste Jahr nach dem Tod ihres Ehemanns beschreibt, wird das erfolgreichste Buch der Schriftstellerin, ein Weltbestseller. Es verkauft sich über eine Million Mal und macht Joan gar zu einer Art literarischen Heiligen. Sie schildert darin die radikale Umkehr ihrer Überzeugungen zu Krankheit, Tod und Trauer, über Lebensglück, Ehe und Familie. Sie beschreibt, wie grausam es sich anfühlt, sich seinen schlimmsten Ängsten stellen zu müssen, und wie verschwindend schmal der Grat geistiger Gesundheit ist, wenn man das tut. Ein erbarmungsloses Buch, eine schriftstellerische Meisterleistung!

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2011 setzt sie ihr Nachdenken über den Tod, nämlich den ihrer Tochter, in "Blaue Stunden" fort. Doch jetzt verwebt sie Quintanas verkürztes, problematisches Leben mit ihrem eigenen körperlichen Verfall und reflektiert das eigene Lebensende mit, das sich wie jene melancholischen blauen Stunden vor dem Sonnenuntergang schon am Horizont ankündigt. Zudem ist es eine Abrechnung mit ihren Unzulänglichkeiten als Mutter.

Joan ist jetzt immerhin weit über siebzig Jahre alt, hat im Anschluss an den Verlust der ihr nächsten Menschen eine schlimme Gürtelrose bekommen. Sie sagt:

"Ich hatte keine Angst mehr vor dem Sterben, falls ich das jemals getan hatte: Ich hatte jetzt Angst, nicht zu sterben."

Schließlich setzt ihr noch der Morbus Parkinson zu. Am 23. Dezember 2021, im Alter von 87 Jahren, stirbt Joan Didion in ihrem Haus in Manhattan. Sie wird nach dem Ritus des "Book of Common Prayer" von 1928 bestattet, und ihre Asche findet Platz im Columbarium der Cathedral Church of Saint John the Divine in Manhattan, New York neben der ihres Mannes und ihrer Tochter.

Eine von Didions großen Gaben ist  die Fähigkeit gewesen, die Geschichte hinter der Geschichte zu erkennen, die Rätsel zu lösen, die in das Leben einzelner Menschen eingewoben sind, das Talent, das zu lesen, was zwischen den Zeilen des Lebens steht.

Inzwischen ist Joan Didion Stilikone und Leitstern für einen bestimmten Typus junger Literaturschaffender, aber bei uns wohl noch eher eine, die entdeckt werden könnte ( müsste )...

                                                       

Auch heute eine - lange, da über zwei Wochen gehende - Liste von den Frauen, die ich schon porträtiert hab und deren Geburts- bzw. Todestag angestanden hat:



3 Kommentare:

  1. Joan Didion war mir absolut kein Begriff. Danke, dass du da mal wieder ein Fenster aufgestoßen hast.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  2. Danke dir für dieses Porträt...ich kannte sie noch nicht.
    Lieben Gruß von Marita

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  3. Das weiße Album steht seit meinen Studententagen im Bücherregal, wieso habe ich eigentlich nicht mehr von ihr gelesen? Über die Autorin selbst wusste ich bisher kaum etwas, danke wieder mal für die Wissenserweiterung.
    Liebe Grüße, heike

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

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