Donnerstag, 3. Dezember 2020

Great Women #242: Maria Farandouri

Es gab mal eine kurze Zeit in meinem Leben, da war ich ein Groupie. Da bin ich mit den Mitgliedern meiner griechischen Folklore-Gruppe bei jedem ihrer Konzerte aufgetaucht und hinterher noch im "Diogenis", wo sie anschließend mit ihren Musikern & Roadies gegessen, weitergesungen und diskutiert hat. Irgendwann war Schluss damit, denn ich war schwanger und alsbald mit mir und dem Kinde beschäftigt. Und auch sie hat bald keine Konzerte mehr gegeben, warum, weiß ich jetzt.  Heute geht es um Maria Farandouri, der wir vor fünf Tagen zum 73. Geburtstag gratulieren konnten.

"Der Grieche singt, wenn er glücklich ist 
oder einen Freund zu Grabe trägt, 
wenn er weint oder eine Hochzeit feiert.
Der Grieche singt, um zu existieren.
Singen ist kein Beruf, sondern ein Pathos." 

Zur Welt kommt Maria Farantouri ( Μαρία Φαραντούρη ) am 28. November 1947 in Athen. Ihre Eltern stammen von den Ionischen Inseln: Vater Gerasimos von der schönen Insel Kefalonia, Mutter Eleni von der kleinen Insel Kythira vor der Südspitze des Peloponnes. Maria hat zwei ältere Geschwister, Babis und Matina. 

Es ist eine schwere Zeit für das Land, in das sie geboren wird, welches noch immer von den Wunden des Krieges und der deutschen Besatzung gezeichnet ist. Die Familie lebt im 1923 gegründeten Stadtteil Nea Ionia im Nordosten der Stadt, der für die nach der "Kleinasiatischen Katastrophe" 1922 - dem griechischen Trauma - aus der Türkei vertriebenen Griechen geplant & errichtet worden ist. Marias Eltern sind allerdings keine Flüchtlinge. Der Stadtteil wird geprägt von den vielfältigen kulturellen Gepflogenheiten der Einwohner und ihrer ebenso vielfältigen Fähigkeiten & Fertigkeiten, der alsbald mit seiner Textilindustrien ein Anziehungspunkt für Arbeiter aus ganz Griechenland geworden ist. Während der deutschen Besatzung ist Nea Ionia ein Zentrum des Widerstandes.

Maria (links vorn)
mit ihrer
Familie

Marias Kindheit ist nicht einfach und sorglos. Die Familie ist eher arm, und als Maria zwei Jahre alt ist, wird sie Opfer der damaligen Epidemie, die hauptsächlich Kinder betroffen hat, der Kinderlähmung. Bis zum Ende ihrer Kindheit wird sie damit geschlagen sein. 

"Aber alles beginnt mit einer herzlichen Umarmung, der Unterstützung meiner Eltern, meiner Lehrer in der Schule, aber auch der Nachbarn, denn dort habe ich die ersten Buchstaben gelernt, dort habe ich die ersten Töne gesungen, dort habe ich die Liebe, die Kämpfe und die Ängste der Menschen gefühlt und ich habe sie nie vergessen. Mit diesen Vorräten stellte ich mich meinem Leben und meiner musikalischen Reise", so sieht sie in der Rückschau ihre Kindheit.

Jeden Sonntag wird in ihrer Nachbarschaft eine Plattform auf der Platia eingerichtet, und die Leute gehen dorthin zum Singen, Tanzen und Feiern. Dort findet auch ihr erster Kontakt mit anderer populärer griechischer Musik statt, als die, die sie von zu Hause kennt. Ihre Mutter, ebenfalls mit einer schönen Stimme gesegnet, singt die Lieder ihrer ionischen Heimat bei der Hausarbeit. Diese Lieder sind geprägt vom italienischen Belcanto, denn die Ionischen Inseln haben lange zu Venedig gehört. Neu sind für Maria Lieder im Stil des "Rembetiko" und "Laiko Tragoudi" des beliebtesten Sänger jener Tage, Stelios Kazantzidis, Sohn einer pontischen Flüchtlingsfamilie in Nea Ionia. Bei einem Onkel mit einem der ersten Plattenspieler hört sie Verdi und andere klassische Musik. 

Die Musik "ergreift" sie bereits als Kind und sie wird ihr treuer Begleiter, vor allem in den schwierigen Momenten ihrer Gesundheit, wenn sie gegen gegen die Polio kämpft. Sie verbringt dann nicht nur einige Tage im Krankenhaus, sondern Monate für Monate in Sanatorien. Ihre Leidenschaft kann sie sich schon da als Beruf vorstellen: Einmal, in einem Streit mit einer Freundin, droht sie dieser, dass sie sie nicht zu ihren Konzerten einladen würde. 

Im Asklepieio Hospital in Voula
Kinder spielen damals immer auf der Straße, und Maria ist immer dabei, denn die Krankheit hat bei ihr nicht so viel Schaden angerichtet wie sonst üblich. Sie erfährt auch nicht die Zurücksetzung wegen ihres Humpelns wie andere Kinder und entwickelt deshalb auch keine Komplexe den anderen gegenüber. Ihrer besonderen Gabe, mit ihrer Stimme ihre Emotionen auszudrücken, ist sich Maria bewusst.

Die Behandlung der an Polio erkrankten Kinder ist damals allerdings sehr hart. So ist Maria einmal für ein ganzes Jahr in einem Athener Kinderkrankenhaus eingesperrt, aus Angst, dass die Krankheit auf Gesunde übertragen wird. Die Eltern kann sie bei ihren Besuchen nur durch ein Fenster sehen. Ein Trost ist ihr dort die Musik im Radio der Krankenschwestern und sie merkt sich viele der gehörten Titel. Als sie im Asklepieio Hospital am Bein operiert wird, singt sie auch dort vom Bett aus für die anderen. ( Zum Vergleich die Geschichte von Joni Mitchell )

Auf einem Hügel im Nachbarviertel Nea Ionia gibt es ein Freiluftkino. Dort versuchen die Kinder, die Filme heimlich mit anzuschauen. Maria erinnert sich später noch an die mit der Kaiserin Sisi. Sie ist von der Musik verzaubert und voller Emotionen. Zu Hause versucht sie dann in Tagträumen, ihre eigene Musik mit ihren eigenen Bildern auszuleben.

Als sie elf Jahre alt ist, wird sie an ihrer Schule dann tatsächlich ausgewählt, um in einem Film mitzuspielen. Für "Htypokardia sto thranio" ( "Heartbeats at the Desk") mit Aliki Vougiouklaki, damals die erfolgreichste Filmschauspielerin Griechenlands,  soll sie in einem Chor mitsingen. Auf dem großen Hof einer Schule in Maroussi, einem Athener Vorort, werden zehn Tage lang mehrere Chorszenen gedreht. Das wird Marias erste Erfahrung mit der professionellen Filmerei und der Beginn ihrer Bekanntschaft mit Aliki Vougiouklaki.

Die Adoleszenz bringt weitere kreativen Erfahrungen: Nach dem Schulunterricht geht sie zum Chor der "Vereinigung der Freunde der griechischen Musik" (SFEM). Der Chor bestärkt das junge Mädchen darin, dass das Singen ihr Leben bestimmen sollte. Die SFEM hat das Ziel, progressive Musik zu fördern,  die auf der griechischen Kultur und Tradition beruht, und entwickelt sich zu einer Art Kindergarten für die junge Künstler Griechenlands, darunter Komponisten, die allerdings nur einem Kenner der griechischen Musik etwas sagen . Dank ihrer wunderbaren Altstimme wird Maria bald die Solistin des Chores.

1963 veranstaltet die SFEM ein Konzert im Stadttheater von Piräus. Maria singt "O Kaimos" von Mikis Theodorakis ( leider nur in einer jüngeren Fassung zu finden ):

1966
Am Ende des Konzerts kommt der der Komponist hinter die Bühne und spricht die junge Sängerin an: "Weißt du, dass du geboren wurdest, um meine Lieder zu singen?" "Ich weiß", lautet die postwendende Antwort - Maria verfügt über ein unglaubliches Selbstvertrauen. 

Doch es dauert noch etwas, bis Maria Farandouri die emblematische Sängerin der Theodorakis- Lieder werden wird. Sie fühlt sich zwar ermuntert, seine Lieder einzustudieren, doch Theodorakis lässt sie quasi am langen Arm verhungern. Die SFEM hingegen schickt sie ab 1964 zu Auftritten in die Bars der Athener Plaka, wo sie u.a. auch von Giannis Argyris entdeckt wird, der von ihrer Stimme begeistert ihr ein Lied schreibt - "Κάτος γιορτάπη" - das auf einer 45-U/min - Platte herauskommt - Marias erste Schallplatte!

Über ein halbes Jahr verstreicht, bis Mikis Theodorakis wieder auf den Plan tritt und  Maria anbietet, mit ihm auf eine Griechenland - Tournee durch 22 Orte zu gehen. Maria unterschreibt sofort, ihr Leben verändert sich auf einen Schlag. Im Stadttheater von Patras tritt sie zum ersten Mal vor so vielen Menschen auf, geplagt von Lampenfieber, von Angst, dass ihr der Auftritt misslingt. "Dann begann der Applaus, und ich merkte, dass ich den Anfang eines, meines Weges betrat."

Auch für die Aufnahme des Soundtracks, den Theodorakis 1964 zum Film "Die Insel der Aphrodite" von Charilaos Papadopoulos komponiert hat, wird Maria engagiert,.

1966 vertont er extra für ihre Stimme vier Texte von Iakovos Kambanellis, einem Überlebenden des Konzentrationslagers Mauthausen. Die Lieder des Mauthausen - Zyklus gehören mit zum Eindringlichsten, das Maria jemals singen wird:

Maria ist jetzt fester Bestandteil der Theodorakis - Truppe - ihre "Familie", wie sie sagt - und hat das Gefühl, dass der Komponist sie auf höhere Ebenen erheben kann, geistig wie ästhetisch.

"Ich war seine Tochter, er war mein Vater. Und neben ihm stand ich den großen Dichtern, Autoren, Malern und Intellektuellen nahe", beschreibt sie hier ihr Verhältnis zu dem 22 Jahre älteren Theodorakis. "Wenn Mikis nicht erschienen wäre, hätte ich mich für die Klassik entschieden. Ich hatte allerdings eine zu leise Stimme für einen Mezzo- Sopran.

Mit der Truppe geht sie auf eine große Tournee bis in die Sowjetunion, nach England, Deutschland, die Niederlande. 

"In München gaben wir ein Konzert für griechische Arbeiter. Die Halle war überfüllt. Sobald wir auf die Bühne gingen, standen alle auf und riefen "Es lebe Griechenland" und ließen zwei Tauben fliegen. Als wir fertig waren, sah ich sie weinen. Es war einer der lebhaftesten Momente meines Lebens", erinnert sie sich in ihrem ersten Interview

In Moskau (1968)
In der Sowjetunion hört ihr der armenische Komponist Aram Chatschaturjan zu, der Maria zu überreden versucht, in Moskau zu bleiben, um dort Musik zu studieren und aus ihr einen "richtigen" Sopran zu machen. Aber sie will nicht noch einmal eine solche Trennung von ihrer neuen Familie wie einst in ihren Kindertagen wegen der Kinderlähmung. Sie befürchtet, das psychisch nicht ertragen zu können.

Marias Sicht auf die Welt verändert sich in der Nähe von Mikis Theodorakis: Ist sie von zu Hause aus eher politisch konservativ beeinflusst gewesen, erfährt sie nun eine andere politische Anschauung:  Theodorakis persönliche Geschichte ist geprägt von seiner Teilnahme am Widerstand gegen die deutschen Besatzer  und  der Gefangenschaft & Folter durch sie mit 18 Jahren. Im anschließenden Befreiungskampf ist er dann Mitglied der "Nationalen Befreiungsfront" (EAM) in den Reihen der Griechischen Volksbefreiungsarmee gewesen. 

Bald ist Marias Stimme bei wichtigen politischen und gesellschaftlichen Veranstaltungen im Land wie im Ausland präsent. Auf Protestmärschen ist sie immer öfter mit dem Lied "To gelasto paidi" ( "Der lachende Junge" ) zu hören, von Theodorakis komponiert auf einen Text des Iren Brendan Behan für Michael Collins, einen der Köpfe des Irischen Unabhängigkeitskampfes der Jahre 1919-21, mit 31 Jahren von den eigenen Leuten erschossen - so geht Internationalismus seinerzeit! Später wird sie darüber sprechen, wie sehr sie sich damals mit Theodorakis identifiziert hat: 

"Mit einer Linken der Utopie, weil wir an Utopien glauben müssen. Auf jeden Fall mit einer Linken, die niemals parteiisch war. [... ] Als treibende Kraft, die einem eine Vision gibt… Durch diese Logik stand ich immer weit links. Und mit dieser Logik bin ich viel später als Abgeordnete zur PASOK gekommen. Ich bin nie Mitglied der PASOK geworden. Ich wollte keinen Parteizwang. [... ] Immerhin habe ich mit meinen Liedern eine viel intensivere Politik gemacht als im Parlament, wo man eine Rolle spielen muss. Was kann man sonst noch verlangen, wenn Mikis Theodorakis dich mit einer politischen Arbeit wie "Die Ballade von Mauthausen" betraut?" ( Quelle hier ).

Er habe durchaus eine besitzergreifende Tendenz gehabt, wird sie im Nachhinein sagen, sie aber auch machen lassen, denn sie habe auch Interesse an den Liedern anderer Komponisten & Liedermacher gehabt und dieses Interesse findet sie für eine Sängerin ganz natürlich & selbstverständlich. Dazu gehört der einmalige Manos Hadjidakis, im gleichen Alter wie Theodorakis und ein Freund.

Mit Telemachos Chytiris (1979)

Sie schafft auch noch ein weiteres Paradoxon: "Meine Leidenschaft war mit der Musik gestillt, es gab keine Lücke zu füllen. Es bestand aber zweifellos die Notwendigkeit einer dauerhaften Liebe. Ich fand sie in Telemachos."

Telemachos Chytiris, ihren späteren Mann, lernt die inzwischen 20jährige in Florenz kennen, als sie dort ein von griechischen Studenten organisiertes Konzert besucht. 

Da hat sie Griechenland schon via Paris in Richtung London verlassen gehabt, denn im April 1967 ist durch einen Militärputsch aus ihrem Heimatland eine Diktatur geworden, die Musik von Mikis Theodorakis verboten, er selbst alsbald inhaftiert. Zuvor hat er Maria noch auf einem Stück Mastixpapier heimlich eine kurze Nachricht zukommen lassen, sie solle ins Ausland gehen.

Maria gerät dadurch als Sängerin in eine ganz neue, weitere Rolle, die der Kämpferin und der politisch bewussten Frau, die sich gegen die Diktatur wendet. Mit hunderten von Konzerten in Europa und Amerika sowie Aufnahmen, die von der BBC und der Deutschen Welle gesendet werden, hält sie Theodorakis Musik am Leben,  protestiert so auf der ganzen Welt gegen die Obristendikatur und sammelt gleichzeitig Geld zur Unterstützung der innergriechischen Opposition und der Opfer des Regimes. Theodorakis wiederum, verbannt in die Berge Arkadiens, lässt ihr Kassetten mit Aufnahmen seiner neuesten Kompositionen zuspielen, von ihm selbst gesungen und am Klavier begleitet. Erst im April 1970, nach einem Aufenthalt in einem Konzentrationslager, wird er auf Initiative u.a. von Dimitri Schostakowitsch, ins Pariser Exil entlassen werden. 

Die Kritik feiert Maria Farandouri enthusiastisch. So schreibt der englische "Guardian": "Ihre einzigartige Stimme ist ein Geschenk der olympischen Götter" und die französische "Le Monde": "Farantouri ist die Joan Baez des Mittelmeers." Und der spätere französische Präsident François Mitterrand meint in einem Buch: "Maria ist für mich Griechenland. So stelle ich mir die Göttin Hera vor."

Mit Manos Hadjidakis, der schon seit 1966 in New York lebt, arbeitet Maria an seinem Werk "Pou einai i Melissanthi", seinem Opus 37 zur Erinnerung an seine Mutter. Es ist auch Hadjidakis, der im Jahr 1972 interveniert, damit Maria an der Beerdigung ihres Vaters in Griechenland teilnehmen kann. Das Regime gewährt ihr dafür 48 Stunden. Hadjidakis Haltung gegenüber den Obristen ist im Übrigen nicht so eindeutig wie die von Maria, Mikis oder Melina Mercouri ( siehe dieser Post ).

Seit 1970, nachdem Theodorakis endlich in Paris im Exil ist, arbeitet er an der Vertonung von Teilen eines Gedichtzyklus von Pablo Neruda zu einem Oratorium: "Canto General" für zwei Solostimmen, gemischten Chor und Orchester ( siehe auch dieser Post ). Natürlich mit dabei: Maria Farandouri. 

"Ich erinnere mich an eine Studioprobe mit Mikis Theodorakis, als Pablo Neruda vorbei kam. Das werde ich niemals vergessen! Pablo Neruda, der große Dichter und Diplomat in Paris. Er hat Theodorakis mit der Sprache sehr geholfen – mit den Gedichten auf Spanisch." (Quelle hier)

Die ersten sechs Teile des Oratoriums werden in ihrer finalen orchestrierten Fassung am 7. September 1974 beim Pressefest der Zeitschrift "Humanité" noch in Paris uraufgeführt. Bald darauf, nach dem endgültigen Fall der Militärdiktatur und der Rückkehr zur Demokratie kehren im Oktober des gleichen Jahres Maria Farantouri und Mikis Theodorakis nach Griechenland zurück. Nun sind sie Symbole des Widerstands, und Mikis Theodorakis ein Nationalheld. Ein erstes Konzert findet am 10. Oktober 1974 im Karaiskakis-Stadion in Piräus vor etwa 40 000 Menschen statt:

125 000 Zuhörer finden sich ein, als sie im Jahr darauf im gleichen Stadion den "Canto general" aufführen. Die Uraufführung des vollständigen Werkes findet dann allerdings erst am 4. April 1981 in Ost-Berlin statt. Auch in Cuba tritt sie im gleichen Jahr damit auf.

1976 hat Maria bereits die Zusammenarbeit mit Zülfü Livaneli, einem nach Schweden emigrierten türkischen Liedermacher, begonnen, von dem sie einige Titel einspielt.

"Ich wollte mich einerseits einem Land öffnen, dessen Nachbar ich war, aber das sich wie auf der anderen Seite des Erdballs befand. Andererseits entdeckte ich in Livanelis Liedern, was ich bereits bei Theodorakis bewundert hatte."

Livanelis Stücke beziehen sich auch auf die Rembetika, jene kleinasiatische Volksmusik, die von griechischen Flüchtlingen aus Westanatolien in die Vorstädte Athens getragen worden ist und die kleine Maria in Nea Ionia schätzen gelernt hat. Türkische wie griechische Musiker greifen also auf dieselben byzantinischen Wurzeln zurück. 

Ihre gemeinsamen Konzerte werden vom griechischen Publikum begrüßt, was damals der jahrzehntelangen griechisch-türkischen Konfrontation müde gewesen ist und seine Bereitschaft zur Versöhnung und zum friedlichen Zusammenleben zeigen möchte. Dieselbe Reaktion auf diese Zusammenarbeit gibt es auch seinerzeit in der Türkei.

1982–83 tritt Maria dann bei mehreren Konzerten der westdeutschen Friedensbewegung auf, teilweise zusammen mit Theodorakis, teilweise gemeinsam mit Zülfü Livaneli. "Ensemble" lautet der deutsche Titel einer griechischen Langspielplattenproduktion-Produktion Marias mit dem türkischen Kollegen aus dem Jahr 1982. 

In Deutschland findet Maria Farantouri immer ein großes Publikum. Wie sie, so stelle man sich hierzulande die ideale, weil heißblütige und aus reicher Kultur schöpfende Griechin vor, meint  Moritz von Uslar hier. Ich weiß nicht: Seit dem Ende der Junta bin ich bis in die Mitte der 1980er Jahre so gut wie jeden Sommer und manches Frühjahr im Land gewesen und habe demzufolge sehr diverse Griechinnen vor Augen. Ich identifizierte mich eher mit der Stimme..

Am 28. Oktober 1985, dem griechischen Nationalfeiertag, bringt Maria ihren Sohn Stephanos zur Welt und ist für eine gewisse Zeit von der Bildfläche verschwunden, zieht sich aus allen künstlerischen Engagements zurück und arbeitet nur selten und sehr selektiv. So tritt sie 1987 mit den "Romancero gitano" des Dichters Federico Garcia Lorca, vertont von Theodorakis, in Fuente Vaqueros in Lorcas Geburtshaus auf. Sie hört also auf zu singen und konzentriert sich ausschließlich auf Plattenaufnahmen. 

Die Geburt ihres Sohnes bezeichnet Maria später als einen der hellsten Momente in ihrem Leben.
 
Ihr Mann Telemachos ist in jener Zeit Pressereferent der griechischen Botschaft in London und wird 1989 von Andreas Papandreou, dem Chef der PASOK ( Panhellenische Sozialistische Bewegung ), zu seinem Medienvertreter bestellt. 1989 kandidiert auch Maria für die PASOK und zieht als Abgeordnete bis 1993 ins griechische Parlament.

"Ich habe mich vor allem damals dazu entschieden, nicht weil ich Politikerin sein wollte, sondern weil ich Kulturpolitik mitmachen wollte. Ich stand an der Seite von Melina Mercouri, die wurde später sogar Ministerin. Begonnen haben wir aber in der Opposition. Die Beziehungen zwischen den Parteien waren schon damals schwierig. Es gab ein solches Durcheinander, dass es für uns einfach wichtig war, nicht nur auf der Bühne Flagge zu zeigen", erklärt sie ihre Entscheidung in diesem Interview. 

Nach ihren Erfahrungen in der Politik ist sie etwas desillusioniert und stellt für sich wieder die Musik in den Vordergrund. 1991 ist sie schon, begleitet vom Israelischen Philharmonischen Orchester unter Zubin Mehta, wieder mit der Mauthausen-Kantate aufgetreten:

"Da hatte ich das Gefühl, ich singe im Namen aller Frauen, die ihre Kinder, ihre Männer oder ihr eigenes Leben in Kriegen, in Gefängnissen oder auf der Flucht verloren haben." 

Es beginnt eine Zeit der Zusammenarbeit mit international tätigen Musikern: Neben Zülfü Livaneli sind das Leo Brouwer, Vangelis, Lucio Dalla, Taner Akyol, Charles Lloyd und der Gitarrist John Williams. Mit dem Australier hat sie bereits 1971 Songs und Gitarrenstücke von Theodorakis aufgenommen, darunter auch die bereits erwähnten Vertonungen von Federico García Lorcas Gedichten. Und natürlich arbeitet sie immer wieder mit Mikis Theodorakis.

Und während ihr Mann in der Politik bleibt und bei jeder Wahl bis 2009 in seinem Wahlkreis in Athen wiedergewählt wird und Regierungsaufgaben bis 2011 wahrnimmt, feiert Maria ab 1995 ein internationales Comeback mit Konzerten in Europa, den USA, Kanada und Australien. 1996 beginnt sie eine Zusammenarbeit mit dem deutschen Komponisten und Arrangeur Henning Schmiedt, mit dem sie von der Kritik hoch gelobte Theodorakis-CDs - "Poetica" (1996), "Asmata" (1998) - und  später "Way home" (2007) produziert. 

Im Juli 2000 ist sie auch dabei, als internationale Künstler*innen den 75. Geburtstags des griechischen Komponisten- Titans in München feiern. Das Konzert gibt es unter dem Titel "Happy Birthday, Mikis!" später dann auch auf CD. Im August 2001 füllt Maria das "Odeon des Herodes Atticus" in Athen mit einem Konzert mit "Ein Jahrhundert griechischer Lieder". Im Juni 2003, neun Jahre nach dem Tod von Hadjidakis, singt sie - erneut im Odeon - die fertige Fassung seines Werkes "Amorgos", eine Vertonung von Gedichten von Nikos Gatsos. Daraus "Chronia Palepsa":


"Ich will zeigen, dass es sogar in unserer prosaischen Epoche mit dem herrschenden kommerzialisierten Klang ein qualitatives Lied möglich ist, das sich auf Dichtung stützt und voller Visionen ist", erklärt sie ihren lebenslangen Einsatz für die Liedkunst. 

Im September 2013 kann Maria Farandouri dann ihr fünfzigjähriges Bühnenjubiläum begehen - mit einem Konzert im "Odeon des Herodes Atticus". Mit ihr treten Elli Paspala, eine in New York geborene griechische Sängerin, und Savvina Yannatou, eine zwölf Jahre jüngere Athenerin, auf. Auch der inzwischen 88jährige Mikis Theodorakis lässt es sich nicht nehmen, sie zu feiern und kommt dazu auf die Bühne. 

"Der wahre, echte Künstler erreicht nie den Höhepunkt. Bis zu seinem letzten Atemzug sagt er: "Und was habe ich getan?". Das sage ich heute nach fünfzig Jahren", antwortet sie auf die Frage nach dem Höhepunkt ihres Ruhmes in  einem Interview.

Aus einem Konzert von 2019 in Athen mit lauter Liedern aus der Welt des griechischen und internationalen Kinos stammt dieses letzte Foto der äußerst lebendigen 72jährigen, zusammen mit dem griechischen Theaterschauspieler Giannis Stankoglou:


Seitdem sitzt "die größte Stimme Griechenlands" in ihrem Bungalow im Athener Vorort Ekali, hört hauptsächlich klassische Musik und modernen Jazz: Die Pandemie hat alle ihre internationalen Konzerte abgesagt. Und sie?

"Ich bin optimistisch, dass wir diese schmerzhafte Tortur überwinden werden, weil der Mensch unbegrenzte positive Kräfte hat, von denen ich sicher bin, aber ich hoffe auch, dass die sich durchsetzen."

Ans Aufhören denkt sie jedenfalls nicht. Und ich, ich lasse mich abschließend noch einmal von ihrer Stimme an jenen "geheimen Strand" ( das Lied ist die Theodorakis-Vertonung eines Gedichtes des griechischen Literaturnobelpreisträgers Giorgos Seferis ) versetzen, mit einem meiner Lieblingslieder: "Sto perigali"


Στο περιγιάλι το κρυφό
κι άσπρο σαν περιστέρι
διψάσαμε το μεσημέρι
μα το νερό γλυφό.

Πάνω στην άμμο την ξανθή
γράψαμε τ’ όνομά της
Ωραία που φύσηξε ο μπάτης
και σβήστηκε η γραφή .

Με τι καρδιά, με τι πνοή,
τι πόθους και τι πάθος
πήραμε τη ζωή μας. Λάθος!
κι αλλάξαμε ζωή.



8 Kommentare:

  1. Bin ich froh, dass sie sich nicht zum Sopran hat ausbilden lassen. Ob das gut für diese wunderbare Stimme gewesen wäre...Sie ist mir von den Fotos und Aufnahmen durchaus bekannt, aber leider "kannte" ich sie nicht
    Danke für ein sehr schönes (nicht nur) musikalisches Portrait, welches besonders persönlich geworden ist
    Liebe Grüße
    Nina

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  2. Was war das für eine Zeit! 1974 war ich in Athen am Campingplatz als Günter Wallraff sich ankettete am Syntagma Platz und verhaftet wurde und gefoltert im griechischen Gefängnis. Wir wurden auch gleich misstrauisch beäugt daraufhin...
    Maria Farantouri und Theodorakis, welche Lichtgestalten damals. Diese Lieder, diese Stimme.
    Über ihr Leben wusste ich bis heute nichts. Als Kind so schwer krank und isoliert. Jetzt in der Pandemie kann man sich noch besser vorstellen, was das bedeutet. Gut, dass sie den Schatz ihrer Stimme schon früh erkannt hat und für sich selbst auch heilend einsetzen konnte.
    Danke für dieses Portrait, viele persönliche Erinnerungen sind damit verbunden.
    Herzlichst, Sieglinde

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  3. Was für eine wunderbar ausdrucksvolle Stimme Maria Farandouri doch hatte und hoffentlich noch hat. Dein so persönlich geprägtes Frauenportrait hat mich wieder sehr begeistert, denn von ihrer Biographie wusste ich bisher noch nichts.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. eine wundervolle Stimme
    ich kannte sie auch nicht
    allerdings das letzte Lied mag ich auch seh..
    sang das nicht auch Milva?
    Ja die Kinderlähmung .. die war schon grausam
    dank Imfung fast weg
    das wird aber wieder kommen wenn die Impfgegner immer mehr werden :(
    wie kann man nur so doof sein..
    ich finde das toll dass du sie kanntest
    danke für das Portrait

    liebe Grüße
    Rosi

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  5. Oh, was für eine Erinnerung. Ich habe die Uraufführung des "Canto General" damals am Radio und dann TV erlebt. Und diese Stimme vergißt man nicht. Mikis Theodorakis war ja einer der gefeierten Helden in der DDR, daher gab es davon auch Platten, wenn auch begrenzt, zu kaufen. Danke für das Erinnern! Sunni

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  6. Canto General im Palast der Republik in Ost-Berlin! Unvergesslich!

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  7. Nein, mir war sie fremd. Ein berührendes Porträt. Interessant. Dankeschön dafür. 😘

    Eventuell kennt diese Sängerin und engagierte Griechin meine Freundin? Ich werde sie gelegentlich fragen - denn die Freundin bereist Griechenland seit Jahrzehnten, das Land wurde zur Heimat auserkoren und sie singt selbst im griechischen Chor.

    Lebkuchenfeine Grüße von Heidrun

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  8. Jetzt hab ich mich endlich durch Deine letzten 4 Great Women Posts gelesen. Das war wieder sehr interessant und kurzweilig.

    Vielen Dank und einen schönen 2. Advent
    Astrid rechtsrheinisch

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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