Donnerstag, 12. Juni 2025

Great Women #420: Gretel Adorno

Heute wieder eine Frau, die bloß als Gattin & Witwe in die Kulturgeschichte des letzten Jahrhunderts eingegangen ist. Ihr Mann, das heißt, die Lektüre seiner Werke, war ein Muss in den Zeiten meines Studiums, wenn man/frau zur intellektuellen Elite zählen wollte. Dass er auch eine Partnerin hatte, spielte damals absolut keine Rolle. Dabei hat Gretel Adorno einiges zu bieten. Mehr darüber in diesem Post.

Berlin Gesundbrunnen
(1900)

Gretel Adorno ist vor 123 Jahren, am 10. Juni 1902, als Margarethe Karplus in einer Klinik in der Königin-Augusta-Straße in Berlin zur Welt gekommen. Sie ist die erste Tochter der aus Mainz gebürtigen Emilie Amalie "Millie" Cahn, 31 Jahre alt, und des Joseph Albert Karplus, fast 40 Jahre alt. 

Der Vater stammt aus dem jüdischen Großbürgertum Wiens, wo dessen Vater ein bedeutender Industrieller gewesen ist. 1887 ist der junge Mann nach Berlin gekommen, um dort sein Glück zu machen. Als studierter Chemiker & Ingenieur wird er Teilhaber der Glacée-Lederwaren-Manufaktur Karplus & Herzberger. ( Glacéehandschuhe sind für Damen von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts unabdingbares Accessoire der Tagesbekleidung außer Haus gewesen. ) Er hält etliche Patente zu Verfahren der Aufbereitung und Reinigung von Lederwaren, die heute Standard sind.

Prinzenallee 82 heute, 
ehemalige Glacée-Lederwaren-Manufaktur Karplus & Herzberger
CC BY-NC-ND 4.0

Eine Schwester, Lieselotte "Lotte", wird erst sieben Jahre auf Gretels Geburt folgen. Die wächst quasi zunächst als Einzelkind auf in ihrer wohlhabenden, gut assimilierten Familie, wohnhaft in der Prinzenallee 10 in Berlin-Gesundbrunnen. Der Vater verlässt offiziell 1905 die jüdische Gemeinde, in der er als Mitglied eingetragen gewesen ist. ( Gretel wird bei Studienbeginn als Konfession "protestantisch" angeben. ) 

Im Alter von sechs Jahren wird das Mädchen in das damalige Schillerlyzeum eingeschult, welches sie bis Ende Dezember 1914 besuchen wird. Es ist das Jahr, in dem Frauen und Mädchen im gesamten Deutschen Reich erstmals zum regulären Universitäts- und gymnasialen Schulsystem zugelassen werden. Bis dahin hat der Unterricht an Mädchenschulen weder zu Berufschancen noch zur Zulassung an einer Universität geführt. 

Während der sechs Jahre, die Gretel die Schule besucht, wird der Lehrplan als Reaktion auf die neuen Möglichkeiten der Mädchenbildung standardisiert und umfasst nun akademische Fächer wie Religion ( in der protestantischen Variante ) Deutsch, Französisch, Englisch, Geschichte und Kunstgeschichte, Geographie, Naturwissenschaften und Mathematik neben den fünf praktischen, als da sind: Schreiben, Zeichnen, Handarbeiten, Singen und Gymnastik. In der Familie Karplus spielt die Bildung eine sehr große Rolle, auch die der Mädchen, wie es in vielen jüdischen Familien der Zeit üblich gewesen ist ( vergleiche hier, hier , hier, hier und hier  zum Beispiel ).

Als Angehörige des Großbürgertums und Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten hat Gretel den materiellen Vorteil, nach der Entlassung aus dem Schillerlyzeum Privatunterricht zur Vorbereitung aufs Gymnasium finanziert zu bekommen. Im April 1915 legt sie erfolgreich die Aufnahmeprüfung für ein Realgymnasium ab, sechs Jahre später, im Frühjahr 1921, folgt das Abitur. Gretel schreibt sich anschließend zum Studium der Chemie an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin ein. 

Es gibt Anzeichen, dass die junge Frau davon geträumt hat, sich der Medizin bzw. Psychologie zuwenden zu können. Die Wahl des Studienfachs ist vermutlich auf den väterlichen Wunsch abgestimmt, die Nachfolge im Familienunternehmen anzutreten. Wenn auch nicht aus eigenem Ehrgeiz gewählt, ist das für eine junge Frau zu jener Zeit ein außergewöhnliches Schicksal: An der Universität sind damals nur etwa 1150 bis 1520 Frauen eingeschrieben, ein Fünftel der Anzahl der Männer. In Chemie ist Gretel eine von 53 Frauen in ihrem Jahrgang. Als Nebenfach belegt sie Physik und Philosophie.

Im März und Dezember 1923, nach zwei Jahren mit Seminaren wie Laborstunden, schließt sie jedes ihrer akademischen Fächer mit der Bewertung "cum laude" ab und beginnt im Januar 1924 unter der Leitung von Professor Dr. Wilhelm Schlenk - andere sprechen von Max Born - mit der Arbeit an ihrer Dissertation. Die - Titel: "Über den Einfluss von Calciumhydrat auf Cetane" - schließt sie am 4. August 1925 mit dem Rigorosum als Doktor der Philosophie ab. 23 Jahre alt ist sie da.

Auf Capri
(1928)
Es ist die Zeit der Weimarer Republik, einer Blütezeit der Emanzipation in der deutschen Hauptstadt, die zu einem Zentrum großer kultureller und intellektueller Umwälzungen geworden ist. Grenzen sind der weiblichen Emanzipation jedoch immer noch durch die vorherrschende Überzeugung gesteckt, dass der Platz einer Frau zu Hause sei. Diese Diskrepanz zwischen dem Gefühl völliger Akzeptanz, ja Ermutigung, an der Uni und der immer noch virulenten Ablehnung einer neuen Frauenrolle durch die Gesellschaft, dürfte Gretel gespürt haben. Mangels Quellenmaterial bleibt vieles in ihrer Lebensgeschichte allerdings Spekulation. 

Das Wenige, was wir wissen, lässt schlussfolgern, dass die junge Frau sich einen Raum außerhalb des häuslichen Umfelds schaffen kann, indem sie einmal eine aktive öffentliche Rolle als Fabrikleiterin, zum anderen als Intellektuelle in entsprechenden Berliner Kreisen spielt. Sie befindet sich regelrecht an der Grenze von bürgerlicher und liberaler Kultur, und die Bezeichnung "Neue Frau" trifft auf Gretel sicher zu. Klug - und dazu äußerlich attraktiv - zählt sie viele der tonangebenden Berliner*innen zu ihren Freunden - darunter Bertolt Brecht & Elisabeth Hauptmann ( siehe dieser Post ), Kurt Weill & Lotte Lenya ( siehe dieser Post ), Siegfried Kracauer, Ernst Bloch, Herbert Marcuse und  dann ab 1928 auch Walter Benjamin.

Theodor "Teddie" Wiesengrund Adorno hat Gretel schon 1923 über Geschäftsbeziehungen kennengelernt: Sein Vater, der Frankfurter Weingroßhändler Oscar Wiesengrund, hat das zum Gerben notwendige Tannin an die väterliche Firma verkauft und pflegt gute Kontakte zum Geschäftspartner Herzberger, so dass sich die Familien auch privat gegenseitig besuchen. "Ihrer eigenen Bekundung nach", schreibt Stefan Müller-Doohm in seiner Adorno-Biografie, sei Gretel bereits nach der ersten Begegnung "von dem Temperament und der Intelligenz des jungen Mannes fasziniert" gewesen und habe ihn für sich auserkoren. Es wird kolportiert, dass Gretel gesagt habe, sie habe beschlossen, "wenn sie schon heiraten muss, dann ein Genie". Im Berlin ihrer jungen Jahre kommen da nur zwei Männer in Frage: der zehn Jahre ältere, verheiratete Walter Benjamin und eben jener fast gleichaltrige Theodor W. Adorno. 

Der ist am 11. September 1903 als Sohn des Weinhändlers Oscar Alexander Wiesengrund und seiner Frau, der italienischen Sängerin Maria Calvelli-Adorno, in Frankfurt am Main in großbürgerliche Verhältnisse hineingeboren worden. Zur Religion seiner väterlichen Vorfahren hat er keine besondere Beziehung, denn er ist auf Wunsch der Mutter katholisch getauft. 1921 - 23 studiert er Philosophie, Soziologie, Psychologie und Musiktheorie in Frankfurt/Main, arbeitet schon als Musikkritiker und schließt Freundschaft mit Max Horkheimer und Walter Benjamin. 1924 promoviert er und nimmt anschließend ein Studium der Musiktheorie und Kompositionslehre bei Alban Berg und Arnold Schönberg in Wien auf und widmet sich demzufolge kompositorischen sowie schriftstellerischen Arbeiten. 1929 wird er für ein Jahr Redakteur der Kulturzeitschrift "Anbruch", um sich dann 1931 zu habilitieren und als Privatdozent an der Frankfurter Universität zu lehren.

Gretels Verhältnis mit Adorno wird alsbald noch im Jahr des Kennenlernens durch eine Verlobung besiegelt.

Irgendwann nach ihrem Studium absolviert Gretel auch eine praktische Ausbildung zur Chemikerin bei der IG Farben AG in Frankfurt am Main, bevor sie 1930 dann schließlich die Verantwortung für das Familienunternehmen übernimmt. Nach der Mutter Tod 1927 heiratet der Vater ein zweites Mal. Und obwohl Gretel mit der Stiefmutter "Melly" nicht gut zurechtkommt, bleibt sie in der elterlichen Wohnung. Für den Vater ist so etwas wie ein Sohn-Ersatz. Sie wird sich auch später um ihn kümmern, als er kränkelt, weil sie sich dazu verpflichtet fühlt. Joseph Albert Karplus wird im Mai 1936 mit 73 Jahren sterben.

Von links nach rechts: Walter Benjamin (1928), Gretel Karplus, Theodor W. Adorno (beide 1925)

Ab 1930 beginnt auch das Privatleben von Gretel, wie sie selbst schreibt, "zwischen zwei Literaten zu schweben ... beide waren entsetzt über alle meine Fehltritte". Da ist also der Verlobte Theodor W. Adorno, mit dem sie mehr als ein Jahrzehnt eine Fernbeziehung zwischen Berlin und Frankfurt am Main bzw. London oder Oxford führt, in der sie ihn nur sporadisch sieht. In dieser Zeit sind sie finanziell voneinander vollständig unabhängig. Einer Ehe scheinen sie ohnehin skeptisch gegenüber zu stehen:

"Die Ehe, deren schmähliche Parodie fortlebt in einer Zeit, die dem Menschenrecht der Ehe den Boden entzogen hat, dient heute meist dem Trick der Selbsterhaltung", wird Adorno 1949 in "Minima Moralia" schreiben.

Der andere, Walter Benjamin, ein liberaler Denker, Literaturkritiker, Schriftsteller, ebenfalls säkularisierter Jude, lebt mit einem Universitätsstipendium in Europa und teilt sein Herz zwischen Dora Keller, seiner Noch-Ehefrau, der Bildhauerin Jula Cohn, Schwester eines Jugendfreundes, und Asja Lacis, einer marxistischen Revolutionärin.

Der Machtergreifung der Nationalsozialisten erschwert das Leben des Paares Karplus-Adorno erheblich, denn Adorno, von den Nazis zum "Halbjuden" erklärt, darf keine Vorlesungen mehr halten und geht 1934 in Großbritannien auf die Suche nach einer Sicherung seiner materiellen Existenz. Aber auch Benjamin sitzt seit 1933, Opium rauchend, im Ausland, auf Ibiza. 

Gretel bekennt in einem Brief an ihn: "Detlef, es gibt keinen Menschen, dem ich mich durch Briefe näher fühle als Dir, nirgends gibt es mehr Süße als in den Worten, die Du mir auch nur verständlich machst." ( Detlef ist Benjamins Pseudonym; Gretel heißt bei ihm Felizitas.) Adorno "... weiß nichts über unser 'Du'", meint Gretel an anderer Stelle. Der wiederum äußert sich nach Aussichten auf eine sich abzeichnende Zukunftsperspektive in den USA, er fühle sich "nachgerade verpflichtet, Gretel zu heiraten, schon um sie aus dieser Hölle herauszubringen".

Hölle ist zu diesem Zeitpunkt für Gretel erst einmal nur die geistige Einsamkeit, weil die Berliner Intellektuellenszene - und damit ihr Freundeskreis - unter den Nazis zerschlagen worden ist: 

"Die Isolierung … wird von Tag zu Tag unerträglicher, mit keinem Menschen kann ich ein vernünftiges Wort sprechen, im Geschäft sind alle sehr nett, aber doch finster kleinbürgerlich und immer nur Handschuhe. Als Beruf ist ja alles in Ordnung, aber dann das sogenannte Privatleben völlig unerfüllt." 

Nicht nur ein reger schriftlicher Austausch findet mit Benjamin statt: Gretel unterstützt ihn finanziell, schickt ihm Bücher und versieht ihn mit lebenspraktischen Tipps. Und sie interessiert sich auch für seine schriftstellerische Arbeit. 

Doch dann wird auch für sie die Situation unter dem NS-Regime kniffliger: Die Assimilation und die protestantische Religion schützen ihre Familie alsbald nicht mehr vor Schikane & Diskriminierung. Den Karplus’ werden zeitweise als "Ostjuden" die Pässe fortgenommen. Schwester Lotte entzieht sich schon 1934 dem drohenden Unglück nach bestandenem Medizinexamen durch Emigration in die USA.

Während ihre berufliche Verantwortung noch wächst - ab 1933 hat sie sich nach dem Verkauf der Anteile an der elterlichen Firma an dem Unternehmen George Tengler der gleichen Sparte beteiligt, 1934 nach Tenglers Tod dann dort die Hauptverantwortung übernommen - wird Gretels Verdienst immer geringer. Aufgrund der stärker werdenden antijüdischen Propaganda und der Schwierigkeiten mit dem Bezirksrechnungshof sieht sie im Frühjahr 1936 keine andere Lösung mehr, als in einem Kraftakt ihr Unternehmen nach allen Regeln wirtschaftlicher Kunst zu liquidieren. Vorher versucht sie noch, ihre über zweihundert Angestellten möglichst gut zu versorgen.  

Nur mit Walter Benjamin bespricht Gretel in ihren Briefen Dinge, die sie mit Adorno wohl nicht besprechen will oder kann: Die Rede ist von ihren Selbstzweifeln, von gesundheitlichen Problemen, aber auch von Lektüreeindrücken und auch von Affären. Sie verliebt sich nämlich in Benjamins Cousin Egon Wissing, einen morphinsüchtigen Arzt, seit 1933 verwitwet, den er ihr empfohlen hat, als ihre seelischen Spannungen sich zusehends in psychosomatischen Beschwerden ausdrücken. Doch diese Beziehung befriedigt sie nicht. ( Wissing wird später ihre Schwester Lotte in den USA heiraten. ) Auch mit dem Philosophen Ernst Bloch gibt es eine Affäre, der sie 1934 nach Prag einlädt, was Gretel aber nicht wahrnimmt.

Für Gretel ist es das gegenseitige, menschliche Verstehen, die Fürsorge füreinander in dieser bedrohlichen Lebenslage das, was ihr die Beziehung zu Benjamin gibt . Für sie ist er ein "Meister der zarten Kleinigkeiten", demzufolge hat sie "Hunger nach Deinem Wort". 

"Manchmal denke ich, liebe Felizitas", verlautbart Benjamin im Juni 1933, "ob Sie nicht unter Ihrem Kindersegen leiden? Ein Sorgenkind und ein Adoptivkind. Sehnen Sie sich nicht einmal nach einem Erwachsenen?" Mit Sorgenkind ist Adorno gemeint, das Adoptivkind ist er selbst. "... ich adoptiere Dich anstelle des Kindes, das ich doch nie bekommen werde", hat sie ihm geschrieben.

Ihre Korrespondenz offenbart die eher zerbrechliche und schüchterne Seite der Gretel Karplus, die von ihren Zeitgenossen oft als kühl, distanziert, praktisch und emotionslos geschildert wird. Sie macht auch sichtbar, was die junge Frau in ihrer Beziehung zum Verlobten vermisst.

1934 können sich die "Briefeschreiber" sogar noch einmal in Kopenhagen treffen, 1937 dann in Paris, nachdem sie im April 1937 nach England emigriert ist. Dort heiratet sie am 8. September 1937 Theodor W. Adorno. Vorstellbar ist, dass die Eheschließung ohne den Druck der politischen Gegebenheiten auch im Jahr 1937 nie  stattgefunden hätte, selbst wenn sich damit für Gretel ein Traum erfüllt hat, wie sie gegenüber Benjamin äußert:

"Gewiß, ich wünsche mir seit Jahren nichts sehnlicher, ich habe mein ganzes Sein im Grunde auf diese Vereinigung eingestellt, ich wüsste auch gar nicht mehr, was sonst anzufangen, und trotzdem kamen mir Bedenken, ob ich der Aufgabe gewachsen sein werde. Ich kenne Teddies Bedürfnis nach Glanz, Schönheit und Abwechslung, wo soll ich das alles stets herschaffen, jetzt, da ich längst nicht mehr ganz jung und ohne jedes eigene Einkommen und ohne Besitz bin?" Sie ist jetzt 35 Jahre alt.

Max Horkheimer, Adornos Freund, meint, man habe nur geheiratet, um im puritanischen Amerika akzeptiert zu werden. Er nämlich lädt sie einen Monat nach der Heirat in die Vereinigten Staaten ein. Gretels Schwester legt im Namen der Adornos dem amerikanischen Konsulat in London eidesstattliche Erklärungen vor, dass sie sowohl ihre Schwester als auch Adorno im Falle finanzieller Not zu unterstützen bereit ist. Das Paar reicht diese Erklärung jedoch nicht mit ihren Visa-Anträgen ein, da sie befürchten, ihre begrenzten Mittel könnten ihre Einreise eher gefährden als erleichtern. Am 16. Februar 1938 können sie sich einschiffen & gelangen eine Woche später nach New York. Vorher haben sie sich als Paar noch ein letztes Mal mit dem Freund Benjamin in San Remo getroffen.

Max Horkheimer ( 1930er Jahre ), Gretel Adorno

Adorno findet im neugegründeten "Institute for Social Research" seines Freundes Horkheimer an der Columbia University in New York eine neue wissenschaftliche Heimstatt. 

Für Gretel ist ihr neuer Stand jedoch zunächst prekär: Sie ist stellungslos und ohne eigenes Einkommen, was ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Zur Hausfrau fühlt sie sich keinesfalls berufen ( und ihr Ehemann bekennt, dass das eine Aufgabe sei, "an der ich mich auf zynischste Weise weigere, teilzunehmen", die sie aber notgedrungen erlernen muss ). Auf Kinder will das Paar aufgrund der Erfahrung der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland und der Barbarei des Faschismus verzichten. Ihre Ehe mit dem sensiblen, introspektiven Denker muss als einschneidender Paradigmenwechsel in Gretels Leben aufgefasst werden.

Obwohl sie ab da eine Vielzahl anderer täglicher Aufgaben übernimmt, im Mittelpunkt ihres Daseins wird die Arbeit ihres Mannes stehen. Ab jetzt fließt ihre praktische und intellektuelle Produktivität in den Erfolg seines künstlerischen und philosophischen Werks. Ihre Liebe ist sozusagen intellektuell, ihr Nachwuchs sozusagen ein geistiges Kind, das sie nun auf Schritt und Tritt pflegen wird. 

Ab März 1938, kurz nach der Emigration nach Amerika und der vollständigen Integration Adornos in das Leben des "Institute for Social Research", startet sie dieses, ihr neues Projekt:

Sie schreibt nun die zahlreichen Gespräche nieder, die ihr Mann mit Max Horkheimer führt. Ohne Tonbandgerät ist sie dafür verantwortlich, diese hochabstrakten Unterhaltungen getreu zu dokumentieren, die sich in einem rasenden Tempo entwickeln. Es grenzt an ein kleines Wunder, dass überhaupt ein zusammenhängender Text entsteht. Die von ihr stenografierte Unterhaltung transkribiert sie auf der Schreibmaschine und fertigt die Manuskripte an, die ihr Mann in mehreren Arbeitsschritten überarbeiten kann. Immer wieder berät sie ihn, muss sie die Texte neu schreiben. Es ist diese Zusammenarbeit, wie Adornos Biograf Müller-Doohm schreibt, die es dem emsigen Denker ermöglicht, in einer fast übermenschlichen Geschwindigkeit und in einer so großen Vielfalt literarische Texte zu produzieren. "Ich weiß nicht, wie ich jetzt ohne sie überleben könnte", schreibt Adorno an seine Eltern.

Ohne dass es für andere sichtbar wird, startet Gretel Adorno also eine neue Karriere. An ihr zeigt sich gleichsam symptomatisch aber auch das asymmetrische Geschlechterverhältnis, welches am "Institute for Social Research" herrscht, auch in der späteren Bundesrepublik, wo nie Frauen in den eigenen Reihen als benennenswert erfahren worden sind.

Dani Karavan "Passagen"
 in Portbou in Erinnerung
an Walter Benjamin,
der sich auf der Flucht dort das Leben nahm
(1994)
Daneben sorgt sie weiterhin für Walter Benjamin, will ihn bewegen, Paris zu verlassen, um zu ihnen in ihr Haus am Hudson zu kommen. Der wird allerdings nach dem Einfall der Nazideutschen für drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen im Lager "Château de Vernuche" bei Nevers in Zentralfrankreich interniert. Dank der Intervention einiger Freunde kommt er frei und schreibt Gretel noch, bevor er nach Lourdes in den Ausläufern der Pyrenäen an der Grenze zu Spanien weiterzieht. Er legt ihr seine unveröffentlichten Manuskripte ans Herz. Aus Angst, den Nazis ausgeliefert zu werden, begeht er in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1940 Suizid. Er wird in einem Massengrab bestattet. Die Adornos erfahren davon Anfang Oktober. Gretel ist verständlicherweise tief erschüttert.

Als Horkheimer 1941 aus gesundheitlichen & finanziellen Gründen mit dem "Institute for Social Research" an die amerikanische Westküste nach Pacific Palisades ( Los Angeles ) übersiedelt, folgen die Adornos erst am Ende des Jahres. Horkheimer stellt ihnen dort ein Auto zur Verfügung, und ganz selbstverständlich fährt das Gretel, die in New York den Führerschein gemacht hat ( vergleiche auch hier mit diesem Post über Nelly Mann ). 

Die Isolation, in der sie in Kalifornien zunächst leben, schätzen sie anfänglich, weil es der Arbeit förderlich ist. Bald gehören jedoch die Kontakte zu den anderen Exilanten in Salka Viertels Salon zu ihrem Leben. Und in Kürze organisiert Gretel auch eigene Soiréen. Empfindlich beeinträchtigt wird das gute Leben, als sie mit dem Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg zu alien enemies erklärt und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.

Über ein halbes Jahr dauert ihre Unsicherheit. Gretel reagiert mit schlimmen Migräneattacken und anderen Erkrankungen, während ihr Ehemann in Depressionen verfällt. Zu guter Letzt werden sie im November 1943 dann doch noch eingebürgert. Weil sie sich aber immer unter Deutschen bewegen und Deutsch die Sprache ist, mit der sie leben, und Adorno der amerikanischen Kultur kritisch gegenübersteht, wird die Hoffnung auf eine Rückkehr hoch gehalten. 

Im September 1949 erhält der Philosoph tatsächlich dann eine Einladung von der Frankfurter Universität zurückzukommen und seine Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen. Gretel fährt ihn & Horkheimer zwei Wochen später zum Bahnhof. Von New York aus fliegen sie nach Deutschland zurück. Er reist nicht ohne Angst ab: "Ewige Verbundenheit mit Gretel, bis in den Tod. Ich möchte nicht ohne sie an meiner Seite sterben", schreibt er in sein Reisejournal. Auch sie findet die Trennung unerträglich.

Kettenhofweg 123/125
Über fünf Monate dauert die. Dann folgt sie ihm am 5. April 1950 auf einem Schiff nach Le Havre. Sie reist direkt nach Frankfurt weiter, denn es gibt keine Familienbande mehr nach Berlin. Das Paar lässt sich schließlich in einer Wohnung im Kettenhofweg 123 im Frankfurter Stadtteil Westend-Süd nieder.

Trotz einiger Bedenken fühlen sie sich in Deutschland so wohl, wie es nach der Exilerfahrung möglich ist. Die Rückkehr beschert ihnen ein aktives kulturelles Leben mit häufigen Theater-, Opern-, Konzert- und Kunstausstellungsbesuchen – eine willkommene Abwechslung zur relativen Isolation des "Lebens auf dem Lande" in Kalifornien, über eine halbe Autostunde von jeder größeren Stadt entfernt. 

Sie entwickeln schnell enge Beziehungen, u.a. zur Dichterin und Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz, die sich wohlwollend über Gretel als sehr intelligente & anregend Frau äußert. Und bald gibt es auch wieder Soiréen im adornoschen Domizil, jeden Dienstag. Müller - Doohm weiß zu berichten: "Wenn er Gäste im Hause hatte, bewies er, nachdem Gretel die Cocktails serviert hatte, sein Talent, die Geladenen glänzend zu unterhalten."

Was für Gretel sicher entscheidender ist: In ihrem Leben als Paar beginnt das produktivste Kapitel! Beide, nun das 6. Lebensjahrzehnt vor Augen, veröffentlichen nicht nur Bücher, sondern Adorno tritt auch in anderen Medien auf wie Radiosendungen, Essays, Rezensionen, Zeitungsbeiträgen, ganz zu schweigen von Vorlesungen und den Verwaltungsaufgaben am Institut, die sie gemeinsam bewältigen müssen.

Paul Klee "Angelus Novus"
(1920)
Zwischen den Beiden besteht eine enge, symbiotische Beziehung, so die Zeitzeugen Gretel wird nun endlich auch offiziell wissenschaftliche Mitarbeiterin des "Instituts für Sozialforschung" in Frankfurt, Theodor Adorno 1958 schließlich Leiter des Instituts. Der Professor für Philosophie und Soziologie und produktive Autor wird rasch zu einem der einflussreichsten Intellektuellen Westdeutschlands aufsteigen.

Arbeitet man zunächst noch von zu Hause aus, erhält jeder schließlich 1951 im Neubau des Instituts ein eigenes Büro, in das Gretel den "Angelus Novus" von Paul Klee hängt, einst im Besitz ihres Freundes Benjamin, zusammen mit dessen Nachlass aus der "Bibliothèque Nationale" in Paris über den Bibliothekar George Bataille auf sie gekommen.  Sie wird ab 1950 als Herausgeberin  von Walter Benjamins Werken fungieren.

Offiziell leitet Gretel die Publikationsabteilung des Instituts. Aber anders als in der vermutlichen Stellenbeschreibung ist sie vorwiegend als Gesprächspartnerin & Vertraute, Managerin & Assistentin ihres Mannes gefragt, die im Verborgenen scheinbar Unmögliches möglich macht - eine Rolle, die ihr bei den Kollegen nicht nur Sympathien einbringt. Sie ist auch Ansprechpartnerin für die Studierenden in Bezug auf all die Widersprüche, denen die als Forscher am Institut und als Menschen mit Familien im Nachkriegsdeutschland ausgesetzt sind. Manche Zeitgenossen sprechen von ihr als Herz & Seele des Instituts. Dass Gretel Adorno aber auch negativ herüberkommt, liegt an den Einlassungen von Maidon, der Ehefrau von Max Horkheimer, die eifersüchtig ihre wichtige Rolle im Institut beäugt und ihr "diktatorische Qualitäten" zuschreibt.

Für Adorno ist es undenkbar, einen Tag ohne seine Frau zum Institut zu kommen, und sie selbst verpasst selten eine seiner Vorlesungen. Jeden Morgen pünktlich um 9.30 Uhr betreten sie das Institut, machen Mittagspause zwischen 13 und 15 Uhr und verlassen es dann um 18 Uhr. 

1964
Unterschlagen werden darf auch nicht, dass sich Gretel nicht nur für das Lebenswerk ihres Mannes eingesetzt hat, sondern zeitweise auch für Horkheimer - und das bereits im amerikanischen Exil  - tätig gewesen ist. Und wie schon erwähnt widmet sie sich mit ebenso viel Elan und Loyalität dem Nachlass Walter Benjamins. Horkheimer drückt in einem Brief zu Adornos 65. Geburtstag seine Wertschätzung & Anerkennung ihres Anteils an seiner Arbeit immerhin einmal aus.

Eine Neuausgabe der "Dialektik der Aufklärung", entstanden in jenen Jahren in Amerika unter Gretels Mitarbeit, Hauptwerk der Kritischen Theorie, jener einflussreichsten Gesellschaftstheorie des 20. Jahr­hunderts, wegweisend für die Auseinandersetzung mit totalitären Strukturen, ist gerade herausgekommen, da geht das Paar in seine gewohnte Sommerfrische in den Schweizer Bergen, diesmal im Mattertal. Als er Herzbeschwerden hat, begleitet ihn Gretel in ein Krankenhaus in Visp. Dort erliegt er am Morgen des 6. Augusts 1969, einen Monat vor seinem 66. Geburtstag, einem Herzinfarkt.

1967
Sie martert sich anschließend mit Vorwürfen: Sie hat ihn zwar noch ins Krankenhaus gebracht, ist dann aber in ihr Hotel zurückgekehrt. Als sie ihm am nächsten Morgen Bücher vorbeibringen will, ist es zu spät. Sie glaubt offenbar, dass sie in der Lage hätte sein sollen, das Schlimmste zu verhindern, dass ihre Unaufmerksamkeit zum Tod ihres Mannes geführt habe. 

Zunächst geht sie weiter ins Institut, ordnet seine nachgelassenen Papiere. Mit Unterstützung eines seiner Studenten widmet sie sich der Publikation der Fragment gebliebenen "Ästhetischen Theorie" und bringt noch die Veröffentlichung der "Gesammelten Schriften" in Gang. Wenn, wie Detlev Claussen meint, Theodor Adornos Tod eine Leere in der kulturellen Öffentlichkeit Deutschlands hinterlassen habe, dann müsse die Leere im Menschen Gretel verheerend gewesen sein. Sie ist wohl so groß, dass sie am 29. November 1970 Schlaftabletten schluckt.
"Sie, eine erfahrene Chemikerin, nahm Gift, sobald die Funeralien beendet, der Tote begraben, einiges Schriftgut und das Testamentarische bereinigt waren. Ungeduldig zog sie in den Tod. Erst hier, unterwegs, verhielt sie sich unaufmerksam. Das Gift, nicht recht dosiert, lähmt einen Teil ihrer Seele, der andere lebte gedächtnislos viele Jahre",  schreibt der Adorno -Schüler Alexander Kluge in einem Film - Essay ( Quelle hier ).

Grabstätte auf dem Frankfurter Hauptfriedhof 
Sie ist ab da nicht mehr in der Lage, ihren Alltag selbständig zu bewältigen.  Während sie ihrer geistigen Kräfte beraubt und für über 23 Jahre ein Pflegefall ist, von der Öffentlichkeit unbeachtet, wird ihr Mann immer mehr zur Ikone des fortschrittlichen Denkens in unserem Kulturraum.

Am 16. Juli 1993 stirbt Gretel Adorno mit 91 Jahren in Frankfurt. 

Wie hat sie nach dem Selbstmordversuch gelebt, fragt man sich? Auf dieses Schicksal aufmerksam wird man noch einmal, als in einem Buch von Andreas Maier - "Die Universität" (2018) - der Pflegejob eines Philosophiestudenten bei einer Philosophenwitwe geschildert wird. Was da faktisch und was fiktiv ist, ist nicht zu sagen. 

Da war die beschriebene Witwe des berühmtesten aller Frankfurter Philosophen bereits tatsächlich ein Schatten geworden, "the poor Gretel", die nicht mehr Stellung dazu nehmen konnte, dass sie mehr als eine Sekretärin im "Institut für Sozialforschung" gewesen ist. Ihr Beitrag zum Leben und Werk der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts - Adorno, Horkheimer, Benjamin -  ist bis heute nicht quantifizierbar, da er eben im Schatten dieser Persönlichkeiten geleistet worden ist. Sie ist aber tatsächlich keine zurückhaltende, verlegene Figur im Hintergrund gewesen, der passive, "negative Raum", der die "Hauptfigur" umgibt, das legen andere Quellen nah. 

Möge ihr Tun noch Gegenstand weiterer Forschungen sein und ihr den Respekt & die Anerkennung verschaffen, die Gretel Adorno meines Erachtens zusteht.

                                                                           


Und wie immer Link-Hinweise zu den Frauen, die in dieser Woche einen Gedenktag hatten:



3 Kommentare:

  1. Das Schicksal von Gretel Adorno ist ja unglaublich. 23 Jahre Pflegefall und der wache Geist musste schlafen... Ich bin echt fassungslos.
    Auch ich wünsche ihr, dass es hier mehr Forschung gibt über ihr Leben und Wirken. Du hast ein Stück weit den Vorhang gelüftet. Danke dafür!
    Herzlichst
    Sieglinde

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  2. du meine Güte
    was für ein trauriges Ende für so eine agile Frau
    leider auch wieder eine Person die im Schatten
    der Männer "übersehen" wurde
    dabei war ihr Zutun doch ersichtlich
    wird aber immer noch als selbstverständlich
    und nicht erwähnenswert angesehen
    vielleicht bekommt sie ja rückwirkend
    die Anerkennung die ihr gebührt
    liebe Grüße
    Rosi

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  3. Wie traurig, dass sie sich zu früh verabschieden wollte. Sie hätte doch selber noch Zeugnis über ihr Werk und Mitwirken ablegen können.
    Liebe Grüße
    Andrea

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