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Donnerstag, 12. Dezember 2024

Great Women #400: Karoline von Perin

Heute begebe ich mich auf völliges Neuland, auch wenn ich in den 2010er Jahren viel in Wien verbracht habe und mich dort etlichen historisch-kulturellen Phänomenen zugewandt hatte. Aber in puncto Frauen- bzw. Demokratie- Bewegung blieb vor lauter Sisi & Torten-Seligkeit - in Österreich ist es mit dem Erinnern so eine Sache - ein weißer Fleck. Den will ich für mich wie euch beseitigen und stelle Karoline von Perin vor, deren Todestag sich vorgestern zum 136. Mal gejährt hat.
"Ideen können nicht erschossen werden."
Hermann Jelinek (1822 — 1848) 

Karoline von Perin kommt als Karolina Rosalia Franziska von Pasqualati am 12. Februar 1806 in Wien zur Welt. Ihre Mutter ist Eleonore Fritsch, über die aber nichts weiter in Erfahrung zu bringen ist, ihr Vater Joseph Andreas Freiherr von Pasqualati, 22 Jahre alt. Die Pasqualatis sind 1784 in den erbländischen Ritterstand und 1798, ein Jahr vor dem Tod des Großvaters, in den Freiherrenstand erhoben worden. Das Mädchen wächst also in einer wohlhabenden, adligen Familie auf und wird noch einen Bruder, Moriz (*1810) und einen Halbbruder, Josef (*1813 oder 1815 ), bekommen. Karolines Mutter stirbt schon 1811, und das kleine Mädchen bekommt in Franziska von Thoren eine Stiefmutter.

Karolines Vater ist wie schon sein aus Triest stammender Vater Pomologe und "Blumist", zudem Obst- u. Gemüsegroßhändler und Besitzer der "Pasqualati’schen Pflanzen-Cultur-Anstalt" in der Vorstadt Rossau, die erst ab 1850 als 8. Bezirk der Stadt Wien zugeschlagen werden wird.  




Das Unternehmen des Vaters zeichnet sich - so Zeitzeugen - durch die reiche Auswahl der schönsten Blumen und Früchte aus, welche durch das ganze Jahr zu beziehen sind. Joseph von Pasqualati "scheut kein Opfer", sein Unternehmen nach allen Seiten hin zu erweitern und die verschiedenartigsten Spezialitäten aus fremden Ländern anzupflanzen. So stellt er auch ein Kirschlorbeerwasser her, was er über entsprechende Anzeigen Pharmazeuten anpreist. Das als Wohnsitz von Ludwig van Beethoven bis heute berühmte Pasqualati - Haus im 1. Wiener Gemeindebezirk an der Mölker Bastei gehört allerdings dem Onkel Johann Baptist Freiherr von Pasqualati, einst Leibarzt Maria Theresias, Freund & Gönner des Komponisten.

Schon im Jahr 1774 ist im Habsburgerreich die "Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt und Trivialschulen in sämmtlichen Kayserlich Königlichen Erbländern" in Kraft getreten, verfasst von einem Abt namens Ignaz Felbinger. Sie gilt für beide Geschlechter. Vorher haben sich vor allem die Klosterschulen um die Erziehung der Mädchen gekümmert. Felbinger legt nun fest, dass nur Töchter aus Adelshäusern ein breitgefächertes Wissen erhalten dürfen. Die Schulordnung sieht den Unterricht in "weiblichem Handarbeiten" und "Französisch" vor. Eine wissenschaftliche Ausbildung bleibt den den Mädchen verwehrt. Um ein "mehr" an Bildung zu erhalten, werden Kinder der höheren Schichten von Hauslehrern und Gouvernanten unterrichtet. Was davon für Karoline zutrifft, ist nicht bekannt.

1829
Biografisch tritt sie erst wieder in Erscheinung, als sie mit 24 Jahren ganz standesgemäß heiratet, und zwar Christian Freiherr von Perin-Gradenstein, K.u.K. Hofsekretär in der Staatskanzlei. Christian ist der einzige Sohn der damals namhaften Schriftstellerin Josephine Freiin Perin von Gradenstein und des K.u.K. Hofrates der geheimen Hof- und Staatskanzlei, Eberhard Perin von Gradenstein, den diese 1799 geheiratet hat. 

Mit ihrem Mann wird Karoline vier Kinder bekommen, wovon das erste noch im Säuglingsalter stirbt. Mit ihm, musikbegeistert, führt sie ein offenes Haus. Doch die Ehe nimmt einen tragischen Verlauf: Von Perin stirbt schon nach elf Ehejahren. Das sensibilisiert die Mutter von drei Kindern - zwei Töchtern und dem gerade geborenen Sohn Anton - schon sehr früh für die prekäre Situation von Alleinerziehenden. 
"Ihre Forderungen nach Gleichstellung mit den Männern sowie einer höheren Schulbildung für Mädchen, wiedergegeben in den Statuten des ersten Wiener demokratischen Frauenvereins, entsprangen keineswegs der spontanen Laune einer exaltierten Adeligen, wie man im ersten Moment vermuten würde, sondern waren nichts anderes als ein Resultat ihrer jahrelang selbst erlittenen familiären Situation", schreibt Lea Roma an dieser Stelle.

Alfred Julius Becher
(1844)
Sie lebt mit ihren Kindern in Penzing im 14. Wiener Gemeindebezirk, als sie Mitte der 1840er Jahre auf Empfehlung des Musikers und gesuchtesten Klavierlehrer Wiens, Joseph Fischhof, den Komponisten und Journalisten Alfred Julius Becher als Klavierlehrer für ihre Tochter Marie engagiert. 

Bald ist der der Mann an ihrer Seite, und sie leben ohne Legitimation von Kirche & Staat zusammen, durchbrechen somit die standesgemäßen Normen und hinterfragen durch diese Entscheidung die geltende Moral. Dadurch kommt es zum Bruch mit ihren Verwandten, was sie in ihrem Streben nach echter Gleichstellung von Frauen noch mehr anfeuert. 

Becher ist Herausgeber der revolutionären Zeitung "Der Radikale", die Karoline finanziell unterstützt. Er reift zu einer der führenden Persönlichkeiten der demokratischen Bewegung während der Revolution 1848 heran und zusammen werden sie bekannt als politisch engagiertes Paar.

Zum besseren Verständnis scheint es mir an dieser Stelle angebracht, "Ausflüge" in die Geschichte Österreichs jenseits unseres vom "Sisi- Kult vernebelten Bildes zu unternehmen:

In den drei Jahrzehnten vor 1848 herrschte im Kaisertum Österreich eine grundsätzliche Reformfeindschaft und eine totale Unbeweglichkeit innerhalb des Regierungssystems. Die größte Aufmerksamkeit erhält der Kampf gegen liberale und demokratische Gedanken.  Essenzielle Probleme im Reich bleiben hingegen ungelöst. 
Am 13. März 1848 erhebt sich schließlich in Wien das Volk gegen den Kaiser. Die Bauern haben es satt, viele Früchte ihrer Arbeit an die Lehensherren abzuliefern, die Arbeiter hungern, viele kämpfen ums Überleben. Der Adel lebt währenddessen in einer abgeschotteten, anderen Welt. Zwei Tage nach Beginn dieses revolutionären Aufstandes muss Kaiser Ferdinand I. die Zensur der Presse aufheben. Hunderte Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen sprießen jetzt aus dem Boden. Am 25. April 1848 wird in Wien dann die erste Verfassung Österreichs erlassen, die die Aufständischen beruhigen soll, ihnen aber nicht wirklich Macht gibt: Das Parlament soll aus habsburgischen Erzherzögen, kaisertreuen Ministern, Großgrundbesitzern und anderen Männern mit Besitz bestehen, die dem Kaiser loyal ergeben sind. Einen Monat später, am 26. Mai, wird ein neuer Höhepunkt durch eine klassenübergreifende Solidarität mit den Aufständischen erreicht: Frauen der höheren Schichten verbünden sich jetzt mit den Frauen der Unterschicht. Alle Aufständischen gehen mit dem oben genannten Zweikammersystem, dem Zensurwahlrecht und dem Einspruchsrecht des Monarchen nicht konform.

Immer wieder flammt der Widerstand auf: Im August des Jahres senkt der Arbeitsminister Ernst Schwarzer Edler von Heldenstamm den Tageslohn von 8000 Erdarbeiterinnen, darunter auch Kinder, von 20 auf 15 Pfennige. Die  Frauen könnten mit Akkordarbeit ihr Gehalt ja aufstocken, so seine Begründung.  Das bedeutet allerdings die noch stärkere körperliche Ausbeutung der Frauen, die außerdem, verglichen mit ihren Männern, schon vorher benachteiligt worden sind: Die Männer bekommen nämlich einen Tageslohn von 25 Pfennig. Am 21. August 1848 demonstrieren nun Österreichs Frauen. Zwei Tage später säbelt die bürgerliche Nationalgarde sie nieder ( sogenannte Praterschlacht ). Es sterben 22 Menschen, ca. 300 werden verletzt.  

Auf Initiative von Katharina Strunz, die sich schon vorher damit hervorgetan hat, als sie mit anderen Bürgersfrauen den Kaiser aufgefordert hat, aus seinem "Exil" in Innsbruck nach Wien zurückzukehren, erscheinen daraufhin schriftliche Aufrufe an allen Straßenecken Wiens. Ziel: Die Gründung eines demokratischen Frauenvereins. Politisch interessierten Frauen wird nämlich in der bürgerlichen Vereinsform kein Platz neben den Männern zugestanden. 

Am 28. August 1848 findet im Salon des Volksgarten diese erste Versammlung statt. Laut Zeitungsberichten kommen zwischen 150 und 400 Frauen. Bei der Gründungsversammlung stehen drei Frauen auf dem Podium. Karoline von Perin wird die erste Präsidentin des Vereins. Sie ist Witwe und adelig, sie vertritt die Grundsätze der Emanzipation der Frauen, setzt sich für mehr Rechte für die Frauen ein. Damit scheint sie prädestiniert für eine solche Position und sie wird eine der wenigen Frauen aus der Wiener 1848er‑Bewegung werden, von der man mehr als ihren Namen kennen wird.

Einige Frauen gewanden sich an diesem Tag allerdings in die kaiserlichen Farben schwarz-gelb, womit sie sich für die alte Ordnung der Monarchie aussprechen und kundtun, dass sie an einer Einigung der durch die Praterschlacht gespaltenen revolutionären Bewegung nicht interessiert sind. Diese Gegnerinnen werden in tumultartigen Szenen von der konstituierenden Sitzung des Vereines ausgeschlossen, so dass die Männer, denen der Zutritt verweigert worden ist, den Saal stürmen können. Die Vereinsfreiheit für Frauen ist ihnen ein Dorn im Auge. Auch Nationalgardisten sind darunter, so dass die Sitzung am Nachmittag an einem anderen Ort fortgesetzt werden muss.

Zwei Wochen nach dem ersten Treffen wird ein Statut herausgegeben, entwickelt in der dritten Versammlung des Vereins. In § 2 des Vereinsstatuts heißt es zu den Zielen:

"Die Aufgabe des Vereins ist eine dreifache: Eine politische, eine soziale und eine humane:  

a) eine politische, um sich durch Lektüre und belehrende Vorträge über das Wohl des Vaterlandes aufzuklären, das demokratische Prinzip in allen weiblichen Kreisen zu verbreiten, die Freiheitsliebe schon bei dem Beginne der Erziehung in der Kinderbrust anzufachen und zugleich das deutsche Element zu kräftigen; 

b) eine soziale, um die Gleichberechtigung der Frauen anzustreben durch Gründung öffentlicher Volksschulen und höherer Bildungsanstalten, den weiblichen Unterricht umzugestalten und die Lage der ärmeren Mädchen durch liebevolle Erhebung zu veredeln; 

c) eine humane, um den tief gefühlten Dank der Frauen Wiens für die Segnungen der Freiheit durch sorgsame Verpflegung aller Opfer der Revolution auszusprechen.

Kurz nach der Gründung beteiligt sich der Verein an der Organisation der Totenfeier für die in der Praterschlacht ums Leben gekommene Männer und Frauen am 3. September 1848. Damit erlangt er endgültig Bekanntheit in der Allgemeinheit, und auch jene Zeitungen, welche die Gründung nicht erwähnt haben, kommen nun nicht umhin, auf die Existenz eines solchen, speziellen Frauenvereins zu verweisen.

Obwohl der Frauenverein nur zwei Monate bestehen wird, markiert er den Beginn der Frauenbewegung in Österreich. In der Öffentlichkeit wird er inzwischen heftigst mit sexual-pathologischen Bemerkungen attackiert und den Frauen vorgeworfen, dass sie Amazonen, hässlich, sexbesessen und unweiblich seien.  An dieser Methodik hat sich also nichts  bis heute geändert.

Karoline von Perin selbst wird von der Bevölkerung wie Presse persönlich diffamiert. Da wird einmal ihr Einfluss auf ihren Gefährten auf die weibliche Verführungskraft ( Eva & die Schlange! ) zurückgeführt, andererseits wird sie als unweibliche Geliebte eines Demagogen verunglimpft, als "schmutzige Amazone", "politische Marktschreierin" oder "politische Pechfrau", "Konkubine" und als "Egeria der Wiener Revolution" tituliert. Man schreibt ihr eine Bedeutung zu, die sie nach eigener, späterer Darstellung nicht gehabt hat. Doch dazu mehr im Laufe des Posts.

Positive Resonanz erfährt der Frauenverein bei den demokratischen Männervereinen, die in ihm einen Partner sehen. So werden die Frauen auch am 10. September neben acht anderen Vereinen zu einer Diskussion hinsichtlich der Strategie zur Verteidigung des revolutionären Wiens eingeladen. Am 30. September dann wird ein Zentralausschuss der demokratisch-freisinnigen Vereine Wiens ins Leben gerufen. Auch dazu gehört der Demokratische Frauenverein.

Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Theodor Baillet de Latour am 6. Oktober 1848 bildet Argument und Auftakt zur Konterrevolution und führt zur Abreise des kaiserlichen Hofes aus Wien. Am 17. Oktober marschieren einige hundert Frauen zum Wiener Reichstag, da die Stadt inzwischen von kaisertreuen Truppen, zurückgekehrt aus Ungarn, umstellt ist. Eine vierköpfige Delegation, darunter Karoline, überreichen den Abgeordneten eine Petition mit tausend Unterschriften und verlangen die Einberufung des Landsturmes, welches das ländliche Pendant zur städtischen Nationalgarde ist. Die Abgeordneten machen die Frauen daraufhin lächerlich, indem sie ihnen vorschlagen, sie sollten sich besser als Krankenschwestern zur Verfügung stellen. ( In der Parlamentsbibliothek kann frau die Petition im Original-Sitzungsprotokoll nachlesen. )

Karoline selbst bleibt weiterhin Ziel von Attacken: Angeblich habe sie sich in eine schwarz-rot-goldene Trikolore gehüllt, um ihr Bekenntnis zur revolutionären Bewegung kundzutun und so von den Barrikaden zum Weiterkämpfen aufgefordert. Die Zeitung "Die Gegenwart" diffamiert sie daraufhin als "verrückt", "überspannt" und "unzurechnungsfähig". Ähnliche Bezeichnungen, die Karoline von Perin als "geisteskrank" verunglimpft haben, sind schon bei der Berichterstattung zur Präsentation der Landsturmpetition gefallen.

Die Mitglieder des Frauenvereins nehmen tatsächlich auch an verschiedenen Demonstrationen und am Verteidigungskampf gegen die kaiserlichen Truppen teil. 

Am 31. Oktober 1848 gelingt es den Truppen des Fürsten Windisch-Graetz, aus Ungarn von der Niederschlagung der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung zurückgekehrt, auch die Wiener Proteste endgültig zu unterbinden. Karoline gehört neben ihrem Lebensgefährten zu den 14 Personen, deren Auslieferung in den Kapitulationsbedingungen ausdrücklich gefordert wird. ( Das kann frau durchaus als Zeichen dafür lesen, dass der Frauenemanzipation staatsgefährdender Charakter zugesprochen wird.) 

Das Ende des ersten politisch organisierten Frauenvereins ist mit der Niederschlagung der Revolution besiegelt. Karoline selbst wird freilich später in ihren geschichtsklitternden Ausführungen behaupten, dass sich der Frauenverein schon in den beiden letzten Oktoberwochen selbst aufgelöst habe.

Nach dem Zusammenbruch der demokratischen Bewegung beginnt - und absehbar gewesen ist - die polizeiliche Verfolgung. Karoline hat zwar alles für die Flucht aus der Stadt organisiert gehabt, wird aber nach einem politischen Verrat am 4. November 1848 verhaftet. Am nächsten Tag wird auch Hermann Jelinek, ebenfalls Redakteur bei "Der Radikale", in ihrer Wohnung festgenommen, ein paar Tage später, am 13. November auch Alfred J. Becher. 

Währinger Park
Auf der Wachstube wird die 42jährige auf dem Boden liegend von Polizisten getreten und durch den Raum geschleift. "Die provokant ‚Emancipation’ einfordernde Präsidentin des Frauenvereins wurde nicht nur verurteilt, sondern von ihren ‚Wachen’ sogar durch körperliche Misshandlung persönlich gedemütigt", heißt es in den Quellen. Nach 23 Tagen Haft wird sie als psychisch krank bezeichnet - immer eine effektive und oft angewandte Methode, um widerspenstige, rebellische Frauen in die Schranken zu weisen.  

Karolines Vermögen wird konfisziert und das Sorgerecht für ihre Kinder, darunter der erst achtjährige Anton, entzogen.

Alfred J. Becher kommt am 22. November vor ein Militärtribunal. Ihm wird vorgeworfen, mittels publizistischer Tätigkeit auf die "gänzliche Zerstörung" der "bestehenden Staatseinrichtung" hingewirkt zu haben und er wird zum Tode verurteilt. Es wird ihm verwehrt, Karoline vor seinem Tod noch einmal zu sehen. Das ist als besondere Grausamkeit zu bewerten, denn anderen wird das gestattet. Am nächsten Tag schon wird er zusammen mit Hermann Jelinek vor dem Neutor in Wien standrechtlich erschossen.

"Die Willkür des Todesurteils wurde sofort erkannt, nicht nur bei den Unterstützern der Revolution", so die Historikerin Brigitte Biwald. 

Ohne Jahr
Karoline ist nach dem Tod ihres Lebensgefährten und ihrer Entlassung aus der Haft den Machthabern in der Monarchie völlig ausgeliefert. Sämtliche bürgerliche Freiheiten sind ja jetzt eingeschränkt sowie Auflösung und Verbot aller politischer Vereine nach nur wenigen Monaten ihres Bestehens erlassen worden. Die staatliche Zensur ist wieder eingeführt, und die polizeiliche Überwachung verstärkt worden. Mit den Frauenemanzipationsbestrebungen wird radikal gebrochen, und die Frauen werden in politischen Vereinen für lange Zeit keinen Platz mehr haben, genauer gesagt bis 1918.

Am 17. April 1849 emigriert Karoline von Perin schließlich nach München. Sie verfasst ihre Memoiren "Ungedruckte Aufzeichnungen" so, dass sich ihre Rolle in den letzten Oktobertagen vor dem Niedergang der demokratischen Bewegung heute nur noch schwer rekonstruieren lässt. In ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit schwört sie dem revolutionären Gedanken völlig ab, wahrscheinlich auch, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft werden zu können. 

Aufgrund dieser Bekenntnisse wird es ihr nämlich im Oktober 1849 erlaubt, nach Wien zurückzukehren - ein Treppenwitz sozusagen: Die Rückkehr in die Gesellschaft bleibt ihr zeitlebens verwehrt. Man ist dauerhaft gewillt, an ihr zwecks Abschreckung ein Exempel zu statuieren: "Für ihre Leugnung der Natürlichkeit der Geschlechter bekam sie in den Augen vieler die gerechte Strafe“, so die Historikerin Gabriella Hauch, die sich um die Forschung rund um Karoline von Perin verdient macht.

Da ohne Vermögen und familiale Unterstützung widmet sie sich den 1850er Jahren der Fotografie. Sie führt zeitweise Studios in Wien, Bad Ischl und Salzburg unter dem Namen Gradenstein C., ganz ohne Hinweis auf Geschlecht und Vergangenheit. Doch die Metternichsche Geheimpolizei kann sie 1855 in Bad Ischl identifizieren. ( In fotografischen Handbüchern wird bis heute vom "Wiener Fotografen Gradenstein" geschrieben. ) 1862 gibt Karoline die Fotografie wieder auf und lebt von den Einkünften eines Stellenvermittlungsbüros. Danach verliert sich jede Spur von ihr.

Am 10. Dezember 1888 stirbt Karoline von Perin in Wien mit 82 Jahren. Es gibt einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen ist. Einmal erscheint der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. In der ersten Zeitung heißt es: "Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen...", während in der zweiten Zeitung steht: "Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil...". 

Ein bitteres Ende für eine mutige Frau, die ihre aristokratische Herkunft hinter sich gelassen hat, um sich dem Kampf für die demokratischen Rechte der Frauen zu widmen...

Infam und beschämend ist, dass in Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, dem "Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich" (BLKÖ) bei den Einträgen unter dem Namen "Pasqualati" neben dem Vater Andreas Joseph Pasqualati lediglich seine Söhne Joseph und Moriz erwähnt werden. Die Tochter wird totgeschwiegen. Diese Institution in der Wiener Geschichtsforschung gilt als sakrosankt und beweist, wie tiefgreifend das patriarchiale System weiterhin Geltung hat! 

Im Wiener Volksgarten wird zu Beginn dieses Jahrzehnts ein Gedenkstein für den Ersten Wiener Demokratischen Frauenverein gesetzt. 2018 war schon in der Seestadt Aspern im 22. Bezirk die Karoline-Perin-Gasse nach ihr benannt worden - alles vielversprechende Anfänge. 

Mich hat es dennoch erstaunt, dass über eine solche Persönlichkeit in der Geschichte des Landes so wenig in Erfahrung zu bringen ist. Das ist mir bei meinen Recherchearbeiten für vierhundert Blogbeiträge in dieser Rubrik eher selten passiert...

                                                                      


Donnerstag, 1. August 2024

Great Women #385: Alice Urbach

Wieder ist ein Quadrat - das sechzehnte - mit Fotos von 24 Frauen gefüllt. 384 Frauen habe ich inzwischen in meinem Blog porträtiert, seit ich die Anregung von Barbara Bee vor fast zehn Jahren aufgegriffen habe. Heute kommt die 385. Frau dran, eine österreichische Jüdin, deren geistiges Eigentum der Niedertracht, Habgier & Gewissenlosigkeit der Nazis und ihrer Nachgeborenen zum Opfer gefallen ist. Die Rede ist von Alice Urbach.

Alice Urbach kommt am 5. Februar 1886 als Alice Mayer in Wien in der österreichischen Doppelmonarchie in einer angesehenen & wohlhabenden Familie zur Welt. Ihr Vater Sigmund Mayer, im Pressburger Ghetto 1831 als Sohn eines Textilgroßhändlers geboren, selbst Kaufmann im Orient-Export mit Firmenhauptsitz in Alexandria, aber auch Kommunalpolitiker & Autor, ist zum Zeitpunkt ihrer Geburt schon 55 Jahre alt. 
Sigmund Mayer

Mayer, so seine spätere Urenkelin in ihrem Buch über die Großmutter, habe das Ghetto gehasst, weil er und seine Geschwister dort so gut wie nie lachen konnten und immer in Angst gelebt haben ( vergleiche auch mit diesem Post ). Schon vor seiner Geburt, 1848, ist es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die Pressburger Juden gekommen, und das  Ghetto verwüstet worden. Sigmund Mayer wird später in seiner Autobiografie sehr eindrücklich die Ereignisse in Pressburg und seine weiteren Schwierigkeiten in Wien darstellen.

Seine Ambitionen als junger Mann, Anwalt zu werden, hat er nach einer Infektion mit zeitweiliger Erblindung aufgeben müssen und sich schließlich im Familientextilgeschäft mit Erfolg engagiert.

Ab 1894 ist er in der "Österreichischen Israelitischen Union" als aktiver Kämpfer gegen den wachsenden Antisemitismus in der K.u.K. Monarchie maßgeblich aktiv. Vor dem ersten Weltkrieg liefert er sich Rededuelle mit dem antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger, mit dem er zunächst als Konservativer gemeinsame ökonomische Einstellungen geteilt hat.

Mit Alices Mutter Pauline Gutmann, 1850 in Wien geboren, ist Sigmund Mayer in zweiter Ehe verheiratet. Mit ihr zusammen bekommt er nach fünf Kindern aus der ersten, geschiedenen Ehe drei weitere: Felix (*1884), Alice und Helene (* 1894). 
Der zweite Nordbahnhof von 1865 in der Leopoldstadt  -
für Zuwanderer das Tor zur Stadt

Alice wächst zunächst in der jüdisch geprägten Wiener Leopoldstadt in der Oberen Augartenstraße auf. Vor der Jahrhundertwende wird man nach Döbling ins angesehene Cottage-Viertel ziehen, der schönsten Wohngegend der Donaumetropole.

Das Mädchen gilt als hübsches Kind, hat aber nicht das Potential bzw. besondere Begabungen, um ein Wunderkind zu werden - das Ziel vieler jüdischer Eltern, die deshalb all ihren Kindern, egal ob Junge oder Mädchen, eine sehr gute Bildung zukommen lassen ( viele meiner Frauenporträts zeugen davon ). Zwar träumt Alice selbst von Höherem, muss aber erkennen, dass ihre Halbgeschwister und die kleine Schwester einfach intelligenter sind. Sie redet sich ihren Status in der Familienhierarchie damit schön, dass sie halt faul gewesen sei.

Den Vater bewundert und fürchtet sie, ist er eine sehr imposante Persönlichkeit trotz seines kleinen Wuchses. Mit seinen Kindern spricht er nur bei den Mahlzeiten, und die dürfen nur auf seine Fragen antworten. Die Mutter erfährt das Kind als echte Dame, die die Küche einer versierten Köchin überlässt. In diesem Raum fühlt Alice sich wiederum wohl & aufgehoben und sie träumt davon, dass sie einmal so gut wird kochen können, dass es dem Vater, einem Gourmet, ein Lächeln entlocken wird. 
Mit ihrer Schwester Helene
(ohne Jahr)

Auch sonst entspricht sie nicht dem Klischee des "süßen Mädels", welches für ihre Generation in Wien so maßgebend ist. Geboren in eine Textilhändlerdynastie gibt es keinen Mangel an schönen Kleidern und ihre "'Mehlspeisenfigur' mit üppigem Dekolleté" entspricht dem damaligen Schönheitsideal. 

Allerdings führt das ebenfalls vorherrschende rigide Moralkonzept auch bei ihr zu großer Angst vor der Sexualität. Die Erfahrungen ihrer älteren Halbschwestern mit ihren Ehemännern sind nicht gerade verlockend & verheißungsvoll. Alice würde gerne einer Ehe entgehen und Lehrling in einer der berühmten Wiener Konfiserien werden.

Doch Mädchen sind dort nicht zugelassen. Immerhin kann sie mit achtzehn eine exklusive, private Kochschule in der Nähe ihres Hauses besuchen. Ihre Künste probiert sie zu den Einladungen ihrer Eltern aus. Doch mit 26 Jahren ist ihre Schonfrist vorbei, droht sie doch nach damaliger Anschauung ein "spätes Mädchen" zu werden. Dem Vater kommt als Heiratsaspirant ein Dr. Maximilian Urban gerade recht, zehn Jahre älter als sie, und Alice fügt sich aus reiner Gefälligkeit ihren Eltern. Im Dezember 1912 wird sie in der Synagoge getraut.

Dass den Ehemann aus angesehener Familie ein "Schadchen", der jüdische Heiratsvermittler, aufgetrieben hat, ist durchaus wahrscheinlich. Aber nicht nur ein solcher, auch der künftige Ehemann kann an einer derart vermittelten Partie gut verdienen - Alice bringt als Mitgift immerhin 80 000 Kronen in die Ehe. 

Im September des darauffolgenden Jahres schenkt sie ihrem Sohn Otto Robert das Leben, November 1917 kommt Karl Friedrich zur Welt. Schon nicht ganz drei Jahre später, am 1. April 1920 stirbt Maximilian Urbach, 44jährig, nach kurzem Leiden "an einer Gehirngrippe", wie es verschleiernd in der Todesanzeige heißt.

In einer inoffiziellen Fassung ihrer Lebenserinnerungen wird Alice 1977 zu ihrer Hochzeit schreiben:

"... als ich mich zum Festessen hinsetzte, hatte ich nur einen Gedanken: Oh Gott, was habe ich getan!"  ( Quelle hier )

"Mit Max verheiratet zu sein war nicht nur eine sexuelle Enttäuschung, er stellte sich auch als großer sozialer Abstieg heraus", konstatiert ihre Enkelin Jahrzehnte später. Urbach ist nicht nur ein Fremdgänger, sondern auch ein Spieler gewesen. Mit ihm hat Alice das angenehme Döblinger Familienzuhause gegen eine Wohnung im Arbeiterviertel Ottakring tauschen müssen. Dort lernt sie die "schrecklichen Verhältnisse"  der Arbeiterschaft kennen, die unhygienischen Wohnverhältnisse, in der die "Motten", wie die Tuberkulose in Wien genannt wird ( siehe auch dieser und dieser Post ), grassieren, die Konflikte & Schlägereien unter den Bewohnern.

Der Erste Weltkrieg hat das ohnehin nicht wirklich erfreuliche Eheleben der Urbachs dann noch weiter belastet, und Alice fragt sich: 

"... wie konnte sich ein jüdischerMann so schlecht benehmen? Ich schämte mich entsetzlich, eine so schlechte Wahl getroffen zu haben. Wem hätte ich es auch erklären können? Meine Eltern waren alt, und man sprach nicht über Dinge, die sich im Schlafzimmer abspielten."

Ihre zweite Schwangerschaft kann sie sich unter diesen Umständen gar nicht erklären. Weil sie Angst vor einem durch Alkohol geschädigten Kind hat, rät ihr Mann ihr zur Abtreibung. Sie entscheidet sich anders. Aber eine Scheidung mag Alice mit einem Säugling auch nicht ins Auge fassen. 

Nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches am Ende des 1. Weltkrieges bricht auch alles andere zusammen  - die Versorgung mit Lebensmitteln, Elektrizität und Heizmaterial wird knapp. Urbach verspielt, bevor er stirbt, noch den Erlös eines Diamantarmbandes seiner Ehefrau.

Es ist nachvollziehbar, dass Alice seinen Tod zunächst als Befreiung erlebt. Doch dann muss sie realisieren, dass sie wirtschaftlich vor dem Nichts steht. Den Vater will sie nicht behelligen, denn der hat ja ausreichend in ihre Ehe investiert, ist nun alt & gebrechlich und stirbt dann auch schon knapp sieben Monate nach seinem Schwiegersohn, die Mutter im Jahr darauf ( sie erhalten ein monumentales Grab auf dem Döblinger Friedhof ). Das väterliche Testament bedenkt Alice, anders als ihre Geschwister, nur mit dem Pflichtteil: Der Vater hat sie wohl nie geliebt. Das wird der 34jährigen Witwe klar.

Eine Stütze als Vormund der kleinen Söhne ist zunächst der Schwager Ignaz Urbach, der aber im Juli 1924 unter ungeklärten Umständen nach Zahlungsschwierigkeiten seiner Bank ums Leben kommt.

Alice kann untervermieten, Alice kann für ihre jüngere, in sehr viel reputierlicheren Verhältnissen lebende Schwester, Dr. Helene Eissler, bei deren Abendeinladungen kochen bzw. ihre Bridgepartys mit Kreationen wie den "Bridgebissen" versorgen. Einige Damen dieser Gesellschaften zeigen sich schließlich an Alices Kochkünsten interessiert. Und so entwickelt sich allmählich die Idee von einer eigenen Kochschule.

In einem Laden für Herde in der Inneren Stadt spricht Alice den Besitzer auf eine Nutzung seiner Testküche an. Das klappt! Montags & freitags ab 15 Uhr gibt sie nun Unterricht in Zuckerbäckerei. Die Mund-Zu-Mund-Propaganda verschafft ihr alsbald viele Schülerinnen, auch die Fähigkeit der jungen Frau, jede Weibsperson anzusprechen, die ihr vor den "elegantesten Wiener Delikatessengeschäfte(n)" in die Arme läuft.

Das Konzept geht auf, die Nachfrage steigt, so dass Alice bald einen zweiten Raum anmieten muss. Doch dann tritt ein, was der Wiener Publizisten Friedrich Torberg beobachtet hat: "In Wien gibt es Sacher und Widersacher": Die Behörden werden auf Alice und ihr nicht genehmigtes Gewerbe aufmerksam. 

Zum Glück ist die Ehefrau des zweiten Bürgermeisters eine zufriedene Schülerin und verhilft ihr zu einem Gewerbeschein. Jetzt steht der Kochschule in der Goldeggasse in Wieden nichts mehr im Wege. Ein illustres Publikum lässt sich bald von Alice in der Wiener Küche einweisen. Auch ihre 22 Jahre ältere Halbschwester Sidonie fördert sie. 1925 publizieren sie sogar gemeinsam "Das Kochbuch für Feinschmecker" beim jüdischen Verlag Moritz Perles. Alice hält auch Vorträge in der ganzen Stadt, z.B. über die Schnellküche für berufstätige Frauen, die Presse bringt Artikel, ein immer internationaleres Publikum findet sich ein, und Alice muss gar auf Englisch & Französisch unterrichten. Ihre internationalen Schüler*innen bringen sie auf die Idee, einen Lieferservice zu initiieren. Ab 1932 bringt sie komplette Menüs ins Haus oder ins Büro. 

Um die beiden Söhne kümmert sich derweil Sidonie & eine Kinderfrau. Das ist auch nötig, denn der alleinerziehenden, gut beschäftigten Mutter läuft der ältere Sohn schulisch immer mehr aus dem Ruder. 1932 bricht er die Schule sogar ab und geht für anderthalb Jahre nach England, um sich zum Techniker ausbilden zu lassen. Schweren Herzens lässt Alice ihn ziehen, als er dann 1934 auch noch weiter, nun in die Vereinigten Staaten, aufbricht. Karl hingegen legt wie erwartet das Abitur ab und beginnt Medizin zu studieren.

1935 erscheint ihr zweites Kochbuch "So kocht man ihn Wien!", fünfhundert Seiten stark und alles enthaltend, was Alice seit ihrem fünften Lebensjahr übers Kochen & Haushaltsführung gelernt hat. Über das Zustandekommen dieses Werkes wird der Nachfolger des Verlegers später seine ganz eigene Geschichte erzählen, die erheblich und zu ihren Ungunsten von dem abweicht, was Alice Urban erlebt hat, denn sie ist zum damaligen Zeitpunkt keine Neuentdeckung des Verlages, sondern eine angesehene Wiener Größe in Kochkreisen. Das Buch wird ein Bestseller & gut rezensiert und ist keinesfalls der Ladenhüter, als das es der Verleger nach dem Krieg zu verkaufen sucht.

Die politische Lage in Österreich hat sich mittlerweile sehr bedrohlich entwickelt & ist höchst antisemitisch geprägt. Alice kommt zu dem Schluss, dass sie etwas ändern muss an ihrem Leben, bevor es zu spät ist. Sie gibt Wohnung und Kochschule in der Goldeggasse auf und reist im Februar 1937, nunmehr 51 Jahre alt, ab nach England. Der Sohn Karl quartiert sich derweil bei einem Freund ein.

Doch ein Neuanfang in London will ihr nicht recht gelingen, und schon einen Monat später kehrt Alice nach Wien zurück - ein echtes Debakel! Sie kann in der Schreyvogelgasse bei ihrer Freundin Paula Sieber, von Beruf Kinobetreiberin, unterkommen, die in ähnlichem Alter, ebenfalls alleinerziehend und von Männern desillusioniert ist. Da das aber keine Lösung auf Dauer ist, verdingt Alice sich als Diätköchin in einem Sanatorium eines jüdischen Arztes in Hietzing. Zwecks Nebenverdienst gibt sie wieder Kurse und unterhält einen Lieferservice.

Juden müssen nach dem "Anschluss" Straßen schrubben

Dann, im März 1938, der "Anschluss" Österreichs an das hitlersche Deutsche Reich! Sohn Otto, wieder in den Staaten, ahnt, was auf seine Mutter und seinen Bruder zukommen wird, welchen Hassorgien Juden ausgesetzt sein werden. Doch die Möglichkeiten, sie zu sich zu holen, sind nicht gerade aussichtsreich.

Alice verliert alsbald ihre Festanstellung, weil ihr Arbeitgeber flieht, Karl wird der Universität verwiesen, und sie  kommt wieder bei Paula Sieber unter. Sie versucht, ebenso wie ihr Bruder Felix & ihre Schwestern Sidonie & Helene, aus Österreich herauszukommen. Eine Jagd nach Stempeln beginnt... Otto kümmert sich von den Vereinigten Staaten aus um ein Affidavit, ebenso eine befreundete amerikanische Familie. 

Im Oktober 1938 gelingt Alice die Ausreise nach England, Sohn & Geschwister muss sie zurücklassen. Im Vermögensverzeichnis, das sie zwangsweise ausfüllen muss, gibt sie die Urheberrechte für ihr Buch nicht an, warum, bleibt unklar. 

Romane von jüdischen Autor*innen werden nun auch in Österreich verbannt. Doch bekannte Sachbücher, wie z.B. Kommentare zum Bürgerlichen Gesetzbuch ( heute noch aktuell! ) oder Knauers Gesundheitslexikon werden "arisiert", das heißt, die Sachbücher bekamen "arische" Autorennamen und werden so "geraubt". Auch Alices Kochbuch widerfährt das: 

"Nach dem Anschluss Österreichs sah ich mich genötigt, für das Kochbuch einen neuen Verfasser zu suchen, da Alice Urbach Jüdin war und das Kochbuch sonst nicht mehr hätte vertrieben werden können", wird der Verleger Hermann Jungck 1974 lapidar feststellen.

Die wichtigste Streichung betrifft Alices Vorwort. Sonst ist das neue Kochbuch eines gewissen Rudolf Rösch, "langjähriger Küchenmeister und Mitarbeiter des Reichsnährstandes", zu 60 Prozent ein Plagiat. Rezepte wie das der "Jaffa-Torte" oder "Rothschild-Omlette" fehlen - zu jüdisch klingend! Röschs Name findet sich übrigens in keinem der zeitgenössischen Wiener Adressbücher und Zeitungsartikeln. Der Verlag, in München angesiedelt, veröffentlicht insgesamt sieben Ausgaben unter dem selbigen Titel & unter diesem Autorennamen bis in die 1960er Jahre hinein.

Kehren wir zurück nach Wien: Dort will Karl Urbach am Tag nach der Reichspogromnacht ein für seine Einwanderung notwendiges Papier bei der jüdischen Auswanderungsbehörde abholen und wird, wie viele andere jüdische Männer, von der Gestapo aufgegriffen, in Viehtransporter verladen und über wechselnde Stationen ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Dort wird der junge Mann brutal gefoltert, aber 1939 auch wieder freigelassen – warum, bleibt unklar, wahrscheinlich hat der Bruder Otto Geld beschaffen können. Nach dieser Inhaftierung verlässt Karl Österreich sofort und gelangt 1939 über Holland in die USA zu Otto. 

Alices Halbschwestern Sidonie und Karoline werden 1941 deportiert und in Treblinka ermordet werden, ihre jüngere Schwester Helene, die Juristin, die als zweite Frau in Österreich in Jura promoviert hat, im Ghetto Lodz. Bruder Felix, dem es zunächst ähnlich wie seinem Neffen Karl ergeht, kann mit seiner Familie noch rechtzeitig in die USA emigrieren. Auch weitere Familienmitglieder werden das Glück nicht haben.

Grantham Castle
Alice findet unterdessen über die Anlaufstelle für jüdische Emigranten im Woburn House ( siehe auch dieser Post ) dank der Tatsache, dass die Arbeitserlaubnis für Dienstboten - domestic permits - relativ locker ist, da Personalmangel herrscht, auf einem Landsitz zwei Autostunden von London entfernt bei einer neureichen Erbin eines Kosmetikunternehmens eine Stelle als Köchin. 

Das menschliche Klima auf Grantham Castle lässt zu wünschen übrig, denn die exzentrische Hausherrin lässt Alice spüren, dass ihre Lebensläufe in total entgegengesetzte Richtungen verlaufen sind: Bei Alice von der höheren Tochter zur Dienstbotin, bei Violet van der Elst von der Waschfrau zur Millionärin. Die entlässt dann im Januar 1939 die fähige Konditorin, konterkariert die mit ihrem Können ihre Versuche abzunehmen.

Alice findet bald was Neues bei der Schwägerin des britischen Außenministers Anthony Eden, wird dann aber von einer Londoner Arztfamilie abgeworben. 

Jüdische Mädchen aus Polen kommen
1939 im Hafen von London an
1940 dann etwas ganz anderes: Ganz im Sinne der jüdischen Gemeinde in England möchte Alice Urbach ihre Möglichkeiten & ihr Können darauf verwenden, denen zu helfen, die noch unglücklicher im Exil sind als sie selbst. Als vom Woburn House eine Anfrage kommt, ob sie Heimleiterin für ein von einem jüdischen Juwelier aus Newcastle privat gegründetes Kinderheim in der Nähe der Stadt werden könnte, übernimmt sie die Aufgabe, obwohl sie dafür wenig qualifiziert ist. Dort sollen "unbegleitete Jugendliche", in ihrem Fall lauter Mädchen, betreut werden, die von ihren Eltern vor den Nazis in Sicherheit gebracht worden sind ( Großbritannien lässt, anders als die Staaten, Kinder ohne Visum ins Land ).

Es ist schon eine verrückte Idee, denn Alice bringt nichts mit außer ihren Kochkünsten! Immerhin kann sie durchsetzen, dass ihre Freundin Paula Sieber, die nach dem Novemberpogrom ebenfalls aus Wien geflüchtet ist, als zweite Betreuerin eingestellt wird. Niemand ahnt, dass die beiden patenten Frauen sieben Jahre lang diese Aufgabe ausfüllen müssen. Zunächst geht man unter den Organisatoren nämlich davon aus, dass die Eltern der Kinder bald nachkommen würden.

Herausgefordert werden die beiden Frauen, sehen sie sich doch lauter verängstigten und unglücklichen Mädchen gegenüber; die jüngeren weinen Tag & Nacht, die größeren sprechen kaum ein Wort, stehen unter Schock. Trotz Kriegsausbruches organisieren Alice & Paula alsbald eine Geburtstagsparty für eine frisch angekommene Zehnjährige, mit allem Drum & Dran. 

Die Panik, dass die Nazis auch an der englischen Küste anlanden könnten, ist kaum im Zaun zu halten. Sie halten die Mädchen dennoch an, die englische Schule zu besuchen, gute Manieren wie die Engländer einzuhalten und nicht zu verwahrlosen, was Kleidung & Äußeres anbelangt. Sie achten auf die Gesundheit der Mädchen, bemühen sich um Hygiene ( man denke nur an die üblichen Läuseplagen! ) und sorgen für ein besonders gutes Frühstück als Grundlage für den Tag. Alice ist inspiriert von den Erfahrungen Anna Freuds ( siehe auch dieser Post ), die in Wien Schülerin in ihrer Kochschule gewesen ist und nun im Exil Kinder im Londoner East End um sich sammelt & betreut.

Mit Paula Sieber (rechts)
(1940er Jahre)
Da Newcastle als Industriestadt Ziel der deutschen Luftwaffe wird, zieht das Heim in eine weniger gefährdete Region im Lake District, an den Windermere See. Mit jedem Kriegsjahr wird den Kindern klar, dass sie ihre Eltern nicht mehr wiedersehen werden. Das bringt weitere psychische Probleme mit sich, auf die die beiden Nicht-Fach-Frauen erstaunlich einfühlsam & angemessen reagieren. Von manchen Situationen sind sie allerdings auch überfordert.

1944 geschieht etwas Unerwartetes: Ein Mann mit amerikanischer Uniform taucht am Kinderheim auf: Otto, den Alice seit neun Jahren nicht mehr gesehen hat! Alice nimmt diesen Auftritt als Zeichen, dass der Krieg gegen Nazideutschland vor einer Wende steht. Otto als Pilot ist Teil der eine halbe Million umfassenden Armee, die einen Angriff an der Küste der Normandie plant.

Mit dem Kriegsende kommt nicht nur Freude auf: Alice & Paula wird klar, dass sie kein Kinderheim, sondern ein Waisenhaus geleitet haben. Nach und nach erreichen sie Nachrichten über den Verbleib der Eltern & Verwandten ihrer Schützlinge. Manche Mädchen können zu entfernten Verwandten, andere wollen bleiben und ihren "Elternersatz" behalten. Das Heim wird auch nicht sofort abgewickelt, sondern Durchgangsstation für Kinder aus anderen Unterkünften. Doch Alice will, anders als ihre Freundin, jetzt schnell zu ihren Lieben in den Vereinigten Staaten.

Am 16. Oktober 1946 besteigt sie das Schiff in Southampton. Sie ist jetzt sechzig Jahre alt. Erschöpft kommt sie in New York an, mühsam lächelnd und kleidungsmäßig total abgerissen. Das fällt ihrer Schwägerin, die sie in Empfang nimmt, sofort auf, wird doch von je in der textilaffinen Familie Mayer besonders auf gute Kleidung geachtet. Alice zieht es dann weiter nach Chicago, wo ihr Sohn Karl studiert und ihr einen Job als Diätberaterin in einem großen Hotel verschafft. Doch Alice fühlt sich in den USA dankbar & gleichzeitig unglücklich.

Mit Sohn Otto
(1949)
1949 reist sie nach Wien, auch um ihren Sohn Otto und seine junge Frau Wera Friedberg, eine Schauspielerin, zu sehen, aber vor allem auch um das alte Wien wiederzufinden. Dazu streift sie durch die ihr bekannten Straßen & Grätzel. Dabei stößt sie in einer Wiener Buchhandlung auf die Rösch-Ausgabe und weiß sofort, dass es ihr Werk ist. Für sie steht diese Entdeckung stellvertretend für all das Unrecht und die Erniedrigungen der letzten Jahre.

Sie sucht den Verleger in der Schweiz auf, um ihn zur Rede zu stellen, ohne Erfolg, geht der doch ganz schnell auf Konfrontationskurs und bestreitet, dass Alice noch Rechte auf ihr Buch hat. Wenn sie Geld für einen Anwalt gehabt hätte - Nerven hat sie für eine solche Auseinandersetzung nicht.

In den 1950er Jahren zieht sie nach New York. Sie hofft auf eine Veröffentlichung ihres Buches ins Amerikanische, muss sie aber begraben, weil neben einem anderen, bereits erschienenen Buch über die Wiener Küche kein Interesse an einem weiteren Exemplar besteht. Alice versucht nun durch Verdrängung Abstand von der Geschichte der jüdischen Österreicher zu gewinnen. Eine Methode ist auch, sich mit vielen Menschen zu umgeben. Sie feiert rauschende Partys in ihrer Wohnung, die sie sich eigentlich nicht leisten kann. Die inzwischen Siebzigjährige wendet sich an den Österreichischen Hilfsfond, um Unterstützung zu erhalten.

1969 folgt sie Karl, inzwischen verheiratet und Leiter eines Krankenhauses, nach San Francisco, wo sie in einem Altersheim lebt. Mit ihren 83 Jahren wird sogar in San Francisco in einer Kochschule angestellt. Mit 95 Jahren kocht sie in amerikanischen Fernsehsendungen und spricht in Interviews immer wieder von ihrem Buch, das man ihr gestohlen habe. Noch 1980 unternimmt sie einen neuen Anlauf von den USA aus, um an ihre Urheberechte zu kommen. Der Verlag schweigt weiterhin bzw. antwortet nicht auf die 18 Briefe, die sie an den Verleger Hermann Jungck richtet. Schließlich teilt der Verlag mit, es gebe keine Unterlagen aus der Zeit mehr.

1978

Am 26. Juli 1983 stirbt Alice Urbach mit 97 Jahren in Mill Valley, Kalifornien, USA. Im Totenschein steht als Todesursache: Artheosklerose & Depressionen. Ihren Körper hat sie vorher schon der medizinischen Fakultät vermacht.

Ihre Enkelin, die Historikerin Karina Urbach, veröffentlicht 2020 "Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten". Nur wenige Tage nach seinem Erscheinen lässt sich der Reinhardt-Verlag doch noch zu einer Stellungnahme gegenüber dem "Spiegel" herab und bezeichnet das "damalige Verhalten des Verlages heute als moralisch nicht vertretbar". Erst jetzt erhalten ihre Enkelinnen für "So kocht man in Wien von Alice Urbach" die Rechte zurück, die im Gegenzug auf jedwede Entschädigung verzichten. Zudem druckt der Verlag das Koch- und Haushaltsbuch in einer limitierten, nicht verkäuflichen Auflage von hundert Exemplaren nach.

2021 macht eine Doku & Reportage von Andrea Oster für Arte und das ZDF noch einmal auf den Skandal rund um das Kochbuch der Alice Urbach aufmerksam. So habe ich auch von ihr erfahren, und es ist ein "gefundenes Fressen" für eine, die als Kind mit dieser Küche aufgewachsen ist. "Viennese Dumplings" (Semmelknödel) gehören bis heute zu meinen Lieblingsspeisen...

                                                                                

Ab jetzt gibt es unter jedem Frauenpost am Donnerstag eine Rubrik, in der an die Frauen erinnert wird, die in der betreffenden Woche - bzw. diesmal zwei Wochen - geboren bzw. gestorben sind und über die ich schon geschrieben habe. Heute sind das...



Donnerstag, 8. April 2021

Great Women #255: Berta Zuckerkandl

Wer wie ich Wien liebt und sich immer wieder mit den Damen & Herren der K.u.K.-Zeit und den Jahren danach beschäftigt, der stößt immer wieder auf ihren Namen: Berta Zuckerkandl. Ihren Geburtstag in fünf Tagen habe ich dann zum Anlass genommen, mich endlich einmal näher mit ihr zu beschäftigen...
"Auf meinem Diwan wird Österreich lebendig" 

Berta Zuckerkandl erblickt, wie gesagt, in Wien das Licht der Welt, und zwar am 13. April 1864 in der damaligen Jägerzeile 99 im vor allem von Juden bewohnten II. Gemeindebezirk. Da heißt sie noch Bertha Szeps, denn ihr Vater ist der liberale Zeitungsverleger Moriz Szeps, ihre Mutter Amalie Schlesinger, seit drei Jahren miteinander verheiratet und schon Eltern einer Tochter, Sophia. Zwei Söhne und eine weitere Tochter werden in den nächsten Jahren bis 1869 noch folgen.

Moriz Szeps (1880)
Bertas Vater Moriz, am 4. November 1834 in Busk in Ostgalizien als Sohn eines praktischen Arztes geboren, entstammt einer angesehenen jüdischen Familie von Rabbinern, Gelehrten und Ärzten. Nach dem Besuch des Gymnasium folgt ein Jahr lang das Studium der Naturwissenschaften in Lemberg, bevor er 1854, einige Jahre nach der Aufhebung der Ansiedlungsbeschränkung von Jüdinnen und Juden, nach Wien geht, um an der dortigen Universität Medizin zu studieren. Die Wiener Universität prägt offensichtlich die liberale Grundeinstellung des jungen Mannes, denn dort sind viele Befürworter und Kämpfer der Märzrevolution  in der Studentenschaft anzutreffen. Als Student schreibt Moriz Szeps naturwissenschaftliche Aufsätze für verschiedene Zeitschriften und wendet sich durch die Bekanntschaft mit dem Chefredakteur eines Blattes ab 1855 immer mehr dem Journalismus zu. 

Mit 24 Jahren, ab 1858, wird er Chefredakteur bei der "Morgen-Post", dem ersten Volksblatt Wiens, welches vor allem vom Kleinbürgertum gelesen wird, und gibt sein Medizinstudium auf. Amalie Schlesinger, die seine Ehefrau werden wird, ist die Schwester des Feuilletonisten der "Morgen - Post". Unter Moriz Szeps erlebt die Zeitung ihre Blütezeit. Er versteht es, die Zensur zu umgehen, und das Blatt trägt zur Verbreitung von liberalen und freiheitlichen Gedanken in seiner Leserschaft bei. Es gilt zu diesem Zeitpunkt auch als verlässlichste und bestinformierteste Zeitung Wiens. 

Drei Jahre nach Bertas Geburt nützt ihr Vater die Chance zur Selbständigkeit und erwirbt ein eigenes Blatt, das "Wiener Journal" (zuvor "Wiener Tagblatt" ) und führt es unter dem Namen "Neues Wiener Tagblatt" weiter. Szeps ist damit zwar nur einer von vielen Zeitungsgründern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien, doch einer, der binnen kurzer Zeit mit seinem Blatt reich, prominent und einflussreich wird. 

Die fünf Kinder des Ehepaares Szeps erhalten eine umfassende Ausbildung. Für Mädchen des jüdischen Großbürgertums gibt es damals keine geeignete Bildungseinrichtung, denn die katholische Schule Sacré Coeur am Rennweg kommt für den liberalen Vater überhaupt nicht in Frage. So werden Berta und ihre ältere Schwester Sophie von Privatlehrern in Naturwissenschaften, Sprachen und Kunst unterrichtet. Zu ihren Lehrern gehört u.a. Albert Ilg, der Leiter des Kunsthistorischen Museums in Wien, der den Grundstock legen wird für Bertas lebenslanges kulturelles Engagement & ihre Aufgeschlossenheit gegenüber allem Schöngeistigen, besonders aber allem Zeitgenössisch-Modernen. Beeindruckend scheint damals die rasche Auffassungsgabe der jungen Berta zu sein.

Im Wien jener Tage haben Journalisten und ihre Familien freien Zugang zu allen kulturellen Veranstaltungen, was bedeutet, dass Berta und ihre Geschwister früh regen Anteil am Wiener Theaterleben nehmen.

1878 - da ist sie vierzehn - bezieht die Familie ein Stadtpalais in der Liechtensteinstraße 51, welches Moriz Szeps am Alsergrund hat bauen lassen, unmittelbar gegenüber des Palais Liechtensteins gelegen und am Fuße eines kleinen Abhangs, der später von der berühmten Strudlhofstiege überwunden werden wird.

Palais Szeps,
heute Residenz des schwedischen Botschafters in Wien
Source
(CC BY-SA 4.0)

"Das Haus ist schön", schreibt Berta in ihrem Tagebuch. "Parterre und erster Stock sind umgeben von einem Garten, der bergauf geht. Im Parterre sind die Schlafzimmer von Papa und Mama und auch meine Brüder haben extra Schlafzimmer. Dann ist noch eins für Sophie und mich da und sogar eines für Ella [...]. Im ersten Stock sind die Empfangsräume. Eine wunderbare Treppe aus Marmor führt hinauf. Vater hat mir versprochen, daß ich beim ersten Empfang im neuen Haus mitmachen darf." ( Quelle hier )

Dort am Alsergrund wächst also das wohl behütete, sehr schlanke, braunhaarige & -äugige Mädchen zur jungen Frau heran und erfährt seine gesellschaftliche Prägung.

Doch aus dem ersten Empfang im Palais wird erst einmal nichts: Der Vater entscheidet, persönlich zum Berliner Kongress zur Lösung der Balkankrise zu reisen, um angemessen berichten zu können. Die Gemahlin reist ihm mit den Kindern kurzerhand in einem eigenen Salonwagen nach. Für Berta ist der Aufenthalt in Berlin ein im Gedächtnis unauslöschliches Ereignis, denn sie wird dort dem britischem Premierminister Benjamin Disraeli vorgestellt, sieht Otto von Bismarck und andere politische Prominenz - eine -ihre - Einführung in die Weltpolitik quasi. Vor allem beeinflusst sie der Vater mit seinen Kontakten nach Frankreich, besonders zu den dortigen Republikanern wie Leon Gambetta und etwas später Georges Clemenceau. Als Sechzehnjährige verbringt sie mit der Familie dann auch einen ersten Urlaub bei Paris, wo sie sich sozusagen einen neuen Prominenten angelt, Jacques Offenbach, der damals schon sehr krank ist und sie und ihre Schwester auffordert, in Wien seine Grüße an Johann Strauß auszurichten. 

1881 tritt ein anderer Prominenter in das Leben der Familie Szeps: Kronprinz Rudolf von Österreich, der Sohn der berühmten Sisi, zwischen dem und dem liberalen Zeitungsherausgeber sich eine Freundschaft entwickelt. Immer wieder wird sich Bertas Vater mit dem Thronfolger in den Privatgemächern von dessen Frau zu Gesprächen treffen. Und Berta wird von ihrem Vater dabei ins Vertrauen gezogen: Sie empfängt den Vertrauten des Prinzen immer dann, wenn er mit neuen Botschaften im Palais Szeps vorspricht. 

Der Journalist stimmt mit dem Kronprinzen überein, dass die Zukunft der österreichischen Monarchie nicht in der Anlehnung an das unter Bismarck reaktionäre Deutsche Reich liegt, sondern in der Zusammenarbeit mit dem liberalen, republikanischen, demokratischen Frankreich. Zentrum des politischen Credos im Hause Szeps ist der Liberalismus, dessen Niedergang den österreichischen Juden Kopfzerbrechen bereitet. Es sind die Liberalen gewesen, die den Juden im Lande volle Gleichberechtigung zugestanden und das Entstehen einer wohlhabenden jüdischen Bourgeoisie ermöglicht haben, aus der entscheidende Impulse für das Wiener Kulturleben der Jahrhundertwende hervorgegangen sind.

Links Kronprinz Rudolf, rechts Georges Clemenceau

Viele seiner Gedanken veröffentlicht der Kronprinz unter einem anderen Namen in Denkschriften, aber auch im "Neuen Wiener Tagblatt" des Moriz Szeps. Die Freundschaft mit diesem und anderen jüdischen Intellektuellen wird in einer Zeit der Vorherrschaft des Antisemitismus aber von vielen Menschen der Monarchie nicht gerne gesehen. Die Hofkamarilla schlägt schließlich zu,  als in Paris Leon Gambetta zu Tode kommt und das "Neue Wiener Tagblatt" die Trauer offen zur Schau trägt. Der Statthalter von Niederösterreich entzieht im Januar 1883 der Zeitung die Vertriebslizenz. "Dies war der erste Schritt vom Wege seines bis dahin vom Glück beschirmten Lebens", beurteilt das Berta später.

Doch noch ist das "Neue Wiener Tagblatt" nicht am Ende. Mit Bertas Unterstützung findet der Vater Buchläden, die bereit sind das Blatt zu verkaufen und damit fürs Erste zu retten. Als neuen französischen Ansprechpartner lädt sich der Vater nun Georges Clemenceau nach Wien ein. Der verbündet sich alsbald aber auch mit der 23 Jahre jüngeren Berta gegen ihre Mutter und deren strenge Auflagen. In Frankreich wird immer wieder mal vermutet, es habe sogar eine Liebesbeziehung zwischen den beiden gegeben. Fakt ist allerdings die bleibende enge Freundschaft zwischen Clemenceau und den Schwestern Berta und Sophie.

Emil Zuckerkandl
( ca.1880)
1883, bei einer der elterlichen Soireen, begegnet Berta dann auch dem Mann ihres Lebens: dem Arzt Emil Zuckerkandlfünfzehn Jahre älter, Anatom mit Lehrstuhl an der Grazer Universität, einer der jüngsten Professoren an einer österreichischen Universität, ein Mann, der Charakterstärke und einen unwiderstehlichen Charme ausstrahlt. Über den merkwürdigen Namen nacht sie sich lustig und fragt seinen Freund von der "Grazer Zeitung", warum er diesen Namen nicht abgelegt hat, wie es doch bei vielen assimilierten Juden der Fall ist. Emil Zuckerkandl hat aber mit neunzehn einen unbekannten Knochen entdeckt, der nun in der Wissenschaft seinen Namen trägt. Doch immer wieder hat er Zurücksetzungen zu ertragen, weil er als Jude "dem Taufbecken ausweicht", so die "Österreichische Wochenschrift".

Auch wenn er äußerlich erst einmal nicht viel her macht in seinem geliehenen Frack, bittet ihn Berta an den Tisch des Hausherrn. "Mein Leben lang habe ich mich nicht so gut unterhalten. Vater sieht mich nach der Soiree streng an. Aber er wird schon wieder gut werden."

Emil Zuckerkandl ist ab da regelmäßiger Gast, auch im Sommerhaus der Szeps unweit Klosterneuburg. Aber als Freier gilt er nicht, denn Berta hat noch zwei weitere Eisen im Feuer: den Schauspieler Alexander Girardi und den Dichter Carl Weiss.

Vilma Elisabeth von Parlaghy Brochfeld:
"Bertha Zuckerkandl"
(1886)
Im Sommer 1884 kann Berta einen neuen Prominenten in ihre Sammlung einreihen: Richard Wagner, der die ganze Familie nach Bayreuth zu einer Aufführung des "Parsival" einlädt. Beeindruckender findet sie dann aber Franz Liszt. Und gar nicht beeindrucken lässt sie sich vom Antisemitismus der beiden Tonkünstler. 

Das nächste Jahr wird weniger erfreulich: Die jüngste Schwester stirbt an einer Lungenentzündung, der Vater muss eine Strafe, verhängt im Rahmen eines Ehrenbeleidigungsprozesses, antreten, aber Berta darf ihn vorher als seine Sekretärin zu einem Geheimgespräch mit Clemenceau in Zürich begleiten und dort alles protokollieren. Und sie entscheidet sich förmlich für Emil Zuckerkandl und verlobt sich mit ihm. Bei der anschließenden Reise nach Paris steht dann allerdings die Schwester im Mittelpunkt, die einen heißen Flirt mit dem jüngeren Bruder Clemenceaus, Paul, beginnt, aus dem bald Ernst wird ( Ende des Jahres 1886 heiraten auch diese beiden ).

Aber erst einmal ist Berta an der Reihe: Am 15. April 1886 gibt sie im Wintergarten des Palais Szeps Emil Zuckerkandl ihr Jawort - "Gaffer" möchte sie nicht dabei haben - und geht mit ihm zunächst nach Graz, das "Pensionopolis der Donaumonarchie", welches sie eine "gegen den Geist gehässige Provinzstadt" nennt. Dort lebt sie recht zurückgezogen, auch fern der Querelen & Kabalen, denen ihr Vater und seine Zeitung weiterhin ausgesetzt sind.

Doch schon zwei Jahre später erhält ihr Mann einen Ruf an die Universität Wien. Das Paar übersiedelt wieder und kauft eine Villa in der Nusswaldgasse, einer stillen Vorstadtgasse in Döbling. Das Interieur der Villa wird hochmodern, denn die Inneneinrichtung trägt die klaren Linien des Architekten Josef Hoffmann. Der Maler Carl Moll, Mitbegründer der Wiener Sezession, hält auf seinem Gemälde diese Innenansicht fest und stellt Berta Zuckerkandl in einem sogenannten Reformkleid, das die Figur weniger einengt als die übliche Mode der Zeit, hinein ( vergleiche dazu diesen Post ).

Carl Moll "Weißes Interieur"
(1905) 

Das alles wird aber erst einmal überschattet von dem Selbstmord des Kronprinzen Ende Januar 1889. Anders als ihr Vater, für den das ein psychologischer Schlag ist, von dem er sich nicht erholen wird, reagiert Berta darauf mit der Abwendung von der Politik hin zur Kultur und der sozialen Sphäre, ja, sie hofft gar als Reaktion auf das Ereignis auf eine geistige Wiedergeburt im Lande.

Sie installiert in ihrem neuen Domizil schließlich einen Salon, der sich im Nu zum Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde Wiens ( "Jung-Wien" ) entwickelt. Die bemerkenswert liebenswürdige junge Frau wird so die Wiener Gesellschaft während der letzten Jahrzehnte der Monarchie maßgeblich prägen. Ihre Maxime: "Hier war kein Raum für Snobismus und Arroganz." Darüberhinaus gilt Bertas soziales Engagement den Persönlichkeitsrechten der Frauen.

Das gastliche Haus frequentieren im Laufe der Zeit zahlreiche Schriftsteller wie etwa Hermann Bahr und der junge Arthur Schnitzler, Peter Altenberg und später Hugo von HofmannsthalBahr, der "Prophet der Moderne", den sie gegenüber den über Jahrzehnte andauernden ätzenden Angriffen Karl Kraus' verteidigt, schätzt sie als den "österreichischen Menschen schlechthin". Liest man in ihren Erinnerungen über den Salon, klingt es wie Namedropping  zur Zeit des Fin de Siècle bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges.  

Zwischendurch, 1895, bringt Berta aber auch ihren einzigen Sohn Fritz zur Welt, zu dem sie zeitlebens eine besonders enge Beziehung haben wird.

Doch nicht nur die Dichtkunst spielt im Salon der Berta Zuckerkandl eine Rolle: Musiker wie Gustav Mahler ( der Anfang November 1901 dort seine spätere Frau Alma kennenlernen wird, worüber sie selbst in einem ihrer "Briefe nach Paris" an die Schwester schreibt ), Arnold Schönberg oder Alban Berg stellen ihre neuesten Kompositionen vor. Neben dem berühmt-berüchtigten Gustav Klimt sind der bereits erwähnte Carl Moll, Koloman Moser und Otto Wagner regelmäßige Besucher. 1897 entsteht in Bertas Salon die Idee zur Künstlervereinigung der Secession, deren Motto "Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit" Bertas Lebensthema wird und sie veranlasst, sich erstmals publizistisch zu betätigen. Auch bei der Gründung der Wiener Werkstätten im Jahr 1903 spielt Berta eine Rolle. Sie unterstützt Koloman Moser und die Idee des "Gesamtkunstwerks" in zahlreichen Artikeln.

Zu den Gästen ihres Salons zählen aber auch Kritiker, berühmte Ärzte und Wissenschaftler. Berta Zuckerkandl ist aus dem Wiener Kulturleben bald nicht mehr wegzudenken. Sie wird geschätzt & verehrt. Karl Kraus freilich überschüttet sie immer wieder mit Häme, bezeichnet sie als "Kulturschwätzerin" und meint, dass in Wien nichts geht, ohne dass "Tante Klara" mitmischt.

Gustav Klimt "Fakultätsbild Medizin"
(1900/07 )
Als Redakteurin der "Wiener Allgemeinen Zeitung" und Mitarbeiterin des "Neuen Wiener Journals" tritt Berta um die Jahrhundertwende vehement für die neue Kunst der Wiener Moderne ein, gemeinsam mit ihrem Ehemann dann auch für Gustav Klimt, dessen Fakultätsbilder - 1903 sind alle vier dann erstmals gemeinsam zu sehen - für den Festsaal der Wiener Universität in reaktionären Kreisen einen Sturm der Entrüstung entfachen zu einem der größten Kunstskandale des 20. Jahrhunderts. 

Auch für Oskar Kokoschka und Egon Schiele ergreift sie Partei, als der neue Thronfolger Franz Ferdinand 1910 deren Ausstellung schließen lassen will. In ihren Erinnerungen schreibt sie darüber:

"Ich stand mit einigen jungen Künstlern im großen Mittelraum, als eine wellenartige Bewegung alle Offiziellen ergriff. Man sah plötzlich keine Gesichter mehr, sondern nur tiefgebeugte Rücken. Durch die Allee dieser Rücken schritt düster, aufgeblasen und gallig Franz Ferdinand, der Thronfolger. Wo immer er eintrat, verbreitete er Missmut, beinahe Schrecken. Dann stand er in der Mitte des Saales, rief eiskalt und doch wutentbrannt‚ Schweinerei!"
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts muss Berta dann schwere familiäre Schicksalsschläge hinnehmen: 1902 stirbt der Vater, 1910 ihr geliebter Ehemann, 1912 ihre Mutter. Und dann, zwei Jahre später, erfolgt der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nun veröffentlicht Berta Zuckerkandl vermehrt pazifistische Texte: 

"Mich ergriff der allgemeine patriotische Taumel nicht. Ich bäumte mich sofort gegen den Hassrausch auf, der selbst die zartesten Gemüter erschütterte. Es blieb mir unverständlich, wieso, warum man Menschen einer anderen Nation, die man tags zuvor noch geliebt oder geschätzt hat, plötzlich verachten oder hassen sollte, nur weil es Kaisern, Königen und Präsidenten der Republik gefiel, Europa in Blut zu tauchen." ( Quelle hier )

Nach dem Tod des alten Kaisers Franz Joseph 1916 stellt sie sich für die Vermittlung eines Separatfriedens zwischen Frankreich und der Donaumonarchie zur Verfügung. Für die Behandlung einer Augenkrankheit erhält sie die Erlaubnis, in die Schweiz einzureisen, ihr (offizieller) Auftrag: Kulturpropaganda für Österreich. Inoffiziell soll sie an einem Separatfrieden für Österreich & Ungarn mit Frankreich mitwirken. Die Sache wird nach Berlin durchgestochen und letztendlich torpediert. Für Berta resultiert daraus eine anhaltende Freundschaft mit Annette Kolb ( siehe auch dieser Post ). Kurz vor Kriegsende erreicht sie immerhin, dass Frankreich seinen Widerstand  gegen die Installierung einer interalliierten Lebensmittelkommission in Triest aufgibt, so dass die Lebensmittelversorgung für Österreich sichergestellt ist.

1916 ist sie schon von Döbling in die Wiener Innenstadt zurückgekehrt und führt ihren Salon jetzt weiter im Palais Lieben-Auspitz  ( siehe auch dieser Post ), Eingang Oppolzergasse, ganz in der Nähe des Burgtheaters, wo sie nun eine Vier-Zimmer-Wohnung bewohnt. Bis zu ihrer Emigration 1938 wird sie ihre Salongäste im Bibliothekszimmer empfangen, dessen Mittelpunkt ein überdimensionaler Diwan bildet, auf dem bis zu zehn Personen Platz finden, einem schwarz-grünen, mit einem Blumenmotiv im Jugendstil geschmückten Prachtstück der Wiener Werkstätte.

Zu den alten Freunden kommen neue hinzu, an Sonntagnachmittagen treffen sich bei Tee oder Kaffee und belegten Brötchen Dichter, Schauspieler und Politiker zu einem "Jour fixe". Egon Friedell ist darunter, Theodor Csokor und die beiden politischen Widersacher Ignaz Seipel und Julius Tandler. Weltanschauliche Gegensätze werden im Salon der liebenswürdigen Gastgeberin nicht ausgetragen.

"Wie soll ich die reizvoll bewegliche Atmosphäre des Salons von Berta Zuckerkandl beschreiben, die in ganz anderer Art zu diesem bunten Bild von Wien gehört? Sie hatte nichts mit den verträumten, etwas zerstaubten Palais zu tun, die auf die Gasse ernst herniederschaun. Sie war ganz Farbe und Grazie, neu, das Neue stark empfindend. Eine Freundin von Klimt und Mahler, eine Vorkämpferin der Wiener Werkstätten. Wie eine exotische Blume wirkte sie in ihrem feinfarbigen Palais von Hoffmann. Ihr rotes Haar glühte über buntgestickten Stoffen und Batiks, und ihre dunkelbraunen Augen funkelten von innerem Feuer", beschreibt Helene von Nostiz in ihrem Tagebuch ihren Besuch bei Berta in der Zwischenkriegsära.

Bertas persönliches Leben hat sich zu diesem Zeitpunkt grundlegend geändert, denn sie muss Geld verdienen und von daher sich journalistisch oder als Übersetzerin von Theaterstücken betätigen. Anfangs beschränkt sich Berta Zuckerkandl noch auf die kulturelle Themen und ist publizistisch daran beteiligt, die Salzburger Festspiele, einstens angedacht von ihrem Freund Bahr, jetzt umgesetzt von Max Reinhardt, 1920 zu propagieren ( in ihrem Salon findet übrigens auch die erste öffentliche Lesung von Hofmannsthals "Jedermann" statt ). 

Dann wechselt sie zu einer Zeitung von mitteleuropäischem Format, dem "Neuen Wiener Journal", wo sie sich zur bedeutendsten außenpolitischen Kommentatorin Österreichs entwickelt, als Sonderkorrespondentin Reisen ins europäische Ausland unternimmt und 1924 eine umfangreiche Serie von Exklusivinterviews mit westeuropäischen Spitzenpolitikern herausbringt - für sie ein großer Erfolg! Vertrauend in ihre Fähigkeiten setzen sie Politiker weiterhin als "Botschafterin" für österreichische Anliegen ein. Tatsächlich erringt sie einmal einen Teilerfolg im Bemühen Österreichs um die Abschaffung der Völkerbundaufsicht über die Finanzen des Landes.

Politik ist – im Gegensatz zum allgemeinen Brauch in Wiener Salons – in dem der Zuckerkandl stets präsent. Je nach politischer Weltlage beredet man Ereignisse in den Nachbarländern, die österreichisch-französischen Beziehungen, den angestrebten Separatfrieden oder die Anschlussdebatten an Deutschland. Der aufkommende Faschismus in Italien und der Nationalsozialismus in Deutschland werden besprochen, weshalb deutschnationale Kreise sie als "Kulturbolschewistin" diffamieren. 

"Die Triebfedern ihres Schaffens, ihre Liebe zu Österreich, ihre demokratische, fortschrittliche, frankophile, antipreussische Gesinnung, das Wissen um die sozialen Probleme, totales Engagement, Begeisterung, Sachkenntnis auf dem Gebiete der Kunst und Literatur, (...) wurzeln in der liberalen Erziehung ihres Vaters", wird Renate Redl hier zitiert.
1930er Jahre

Das Ende des Salons Zuckerkandl fällt nicht – wie in der Literatur oft berichtet - mit dem Ende der Eigenstaatlichkeit Österreichs zusammen, sondern erfolgt schleichend und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit schon  zu Beginn der 1930er Jahre, als Berta Zuckerkandl sich aufgrund zunehmender finanzieller Probleme die Rolle der Salonière nicht mehr leisten kann. Ursache dafür ist u. a. ab 1933 das Ausbleiben von Tantiemen aus Deutschland, da die von ihr übersetzten französischen Dramen dort nicht mehr gespielt werden. Dazu kommen die großen finanziellen Probleme ihres Sohnes Fritz durch das Sanatorium Purkersdorf, an dem er Anteile nach dem Tod seines Onkel Viktor übernommen hat. Schließlich entzieht dieser sich seinen privaten Verschuldungen durch einen Umzug nach Paris 1935. Die ständigen Versuche, von ihm Geld zu bekommen, führen 1937 zum Bruch mit ihrem Schwager Paul Clemenceau. Im Jahr darauf haben Bertas Schulden dann ein Ausmaß von existenzieller Bedrohung angenommen.

Viele der berühmten Gäste des Salons sind zu dieser Zeit  schon längst tot.  Auch wenn Geldsorgen und Existenznöte ihr Leben bestimmen, bleibt Berta politisch aktiv als Verfechterin einer österreichisch-französischen Annäherung, um der drohenden Gefahr aus Nazi-Deutschland entgegenzuwirken. Dies geschieht jetzt nur noch vereinzelt durch journalistische Arbeiten, sondern mehr durch Besuche in Frankreich & durch persönliche Kontakte mit österreichischen, französischen, aber auch englischen Beamten, Diplomaten und Politikern. Wichtiges Ziel ist ihr die Erhaltung der österreichischen Unabhängigkeit.

1938 bricht diese Welt dann doch zusammen, Berta wird von ihrem Judentum eingeholt und muss vor dem Rassenwahn der Nazis aus Wien flüchten. Mit Hilfe des französischen Schriftstellers Paul Géraldy und der Vermittlung eines französischen Visas durch ihren Schwager kann sie zusammen mit ihrem 16jährigen Enkel Emile Zuckerkandl, seiner Mutter Trude Stekel, die Tochter des Psychoanalytikers Wilhelm Stekel, nach Paris und dort nimmt sie Ende März ihren neuen Wohnsitz. Sie beginnt an ihren Erinnerungen zu schreiben und setzt ihre politische Tätigkeit fort. Geldsorgen drücken sie immer wieder: "... mit 74 Jahren in der Situation zu sein in der ich mich momentan befinde (…) dies ist hart", wendet sie sich beispielsweise an die American Guild um eine Unterstützung.

Mit ihrem Enkel Emile noch in Purkersdorf

Im Sommer 1940 verlässt sie Paris, um ihren Sohn in Bourges zu besuchen, der dort beim Militär stationiert ist, als sich die Ereignisse überschlagen, nachdem die deutsche Großoffensive an der Westfront begonnen hat. Per Bus, zu Fuß, ohne ihren Sohn macht sich die 76jährige auf den Weg gen Süden. In Moulins kommt sie nicht mehr weiter, zerreißt ihre Papiere, erhält schließlich aufgrund persönlicher Bekanntschaft mit Regierungsbeamten in Vichy, nunmehr Hauptstadt des unbesetzten Frankreichs, aber doch noch eine gültige Einreisebewilligung. Nach vier Wochen Odyssee kommt sie nach Montpellier, von wo sie zu ihrem Sohn - inzwischen in Algier - weiterreisen kann. Enkel und  Schwiegertochter schlagen sich unterdessen nach Bayonne durch und weiter auf einem Frachter nach Casablanca. Schließlich kommen sie alle wieder in Algier zusammen, wo sie mehr schlecht als recht leben und Berta ein Buch über Clemenceau zu Ende bringt, "Großes Österreich, große Österreicher" schreibt und auf Wunsch ihres Enkels einen Bericht über ihre Flucht ( beides wird erst 1979 bzw. 2013 publiziert ).

Berta arbeitet zuletzt noch für einen Radiosender, der sich an die deutschsprachigen Truppen in  Italien & Südfrankreich richtet und sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzt. 1945 erlebt sie noch die Niederlage des Nationalsozialismus, ist aber schon schwer krank und wird von argen Schmerzen geplagt. Im September des Jahres gelingt es ihr, für sich und ihren Sohn zwei Plätze in einer Militärmaschine nach Paris zu ergattern. Sie wird ins britische Militärspital, dann in eine Privatklinik im 9. Arrondissement gebracht, wo sie am 16. Oktober 1945 mit 81 Jahren stirbt. Begraben wird sie auf dem Friedhof Père Lachaise.

In Österreich gerät Berta Zuckerkandl bis in die 1980er Jahre weitgehend in Vergessenheit, bis Renate Redl an der Wiener Universität eine Dissertation verfasst und ihr literarisches Werk katalogisiert. Eine Gedenktafel am Palais Lieben-Auspitz erinnert heute an diese mutige Frau. 2009 wird im 9. Bezirk ein Fuß- und Radweg parallel zum Donaukanal und zur Spittelauer Lände nach ihr benannt.