Dass ich mich für Design & Architektur interessiere, belegen mein Porträts von Charlotte Perriand, Grete Lihotzky - Schütte, Ray Eames und Flora Ruchat - Roncati. Den Anstoß für meinen heutigen Post gab letztendlich Theresa Enzensbergers Roman "Blaupause", der mich dann zu Ulrike Müllers Studie über die Bauhaus-Frauen greifen ließ. Und meine Entscheidung fiel auf Lilly Reich, deren Todestag sich heute zum siebzigsten Mal jährt.
Lilly Reich kommt am 16. Juni 1885 in Berlin als zweite Tochter von Alwin Reich und Ottilie Dix zur Welt. Der Vater besitzt, nachdem er zuerst bei Siemens gearbeitet hat, eine kleine Elektrofabrik, so dass der Familie ein gut bürgerlicher Lebensstil möglich ist. Dazu gehört auch eine angemessene Ausbildung für die beiden Töchter, die ihre schulische Ausbildung mit dem Abitur abschließen.
Lilly wählt für sich - im Gegensatz zu Schwester Emmi, die später promovieren wird - eine eher praktische Ausbildung zur Kurbelstickerin bei Else Oppler - Legeband, einer Verfechterin der Reformkleidung und ehemalige Schülerin Henry van de Veldes.
Kurbelstickerei |
Durch eine Ausstellung der Wiener Werkstätte im Jahr 1904 in Berlin macht Lilly die Bekanntschaft mit einer schnörkelloseren Gestaltungsweise, die ihr wohl mehr zusagt, so dass sie 1908 nach Wien wechselt, um dort im Atelier von Josef Hoffmann, Mitbegründer der Wiener Werkstätte, zu arbeiten. Der wichtigste Impuls für Lilly aus jener Zeit ist, dass Kleidung & Wohnraumtextilien grundlegende Bestandteile des Lebens- & Wohnstils sind und gleichwertig sind, was die Ansprüche an die Gestaltung anbelangt.
Konsequenterweise gründet sie bei ihrer Rückkehr nach Berlin 1911 ein eigenes Atelier für Innenraumgestaltung, Dekorationskunst und Mode. Ihre ersten Aufträge sind Schaufenstergestaltungen. 1912 tritt sie dem Deutschen Werkbund bei, einer von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen auf Anregung von Hermann Muthesius, dem Politiker Friedrich Naumann und Henry van de Velde gegründete Gruppe mit dem Ziel, eine neue Warenästhetik für die kunstgewerbliche Industrieproduktion und darüber hinaus ( "Vom Sofakissen zum Städtebau" ) zu entwickeln.
Lilly Reich ( ca. 1914 ) Source |
Den 1. Weltkrieg übersteht Lilly Reich mit ihrem Atelier allerdings vorrangig, weil sie es in eine Schneiderei umwandelt. Mit dem Kriegsende nimmt sie ihre gestalterische Arbeit wieder auf. 1920 wird sie als erste Frau in den Vorstand des Deutschen Werkbundes berufen.
Aus jener Zeit sind Veröffentlichungen zur Mode der berühmt-berüchtigten Zwanziger Jahr erhalten, in denen sie sich durchaus kritisch äußert: "Die Mode hat keinen Stil, sie ist immer nur modisch." Sie profiliert sich so für die künstlerische Direktion der Ausstellung "Kunsthandwerk in der Mode" der Deutschen Modeindustrie. Ihr Ziel ist es, Kunsthandwerk und Massenproduktion auf einem qualitativ hochstehenden Niveau zusammen zu bringen. Als schlechte Beispiele dienen ihr gedruckte Batikstoffe oder solche, die sich den Anstrich geben, per Hand bemalt zu sein.
Angesichts der dramatischen Auftragslage in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg ist es auch wirtschaftlich opportun, mehrgleisig zu fahren und Kleidung und Stoffe zu entwerfen und über die Haute und Basse Couture zu schreiben. Daneben kümmert sich ihr Atelier weiterhin um Innenraumgestaltung & Dekorationskunst.
Ob es pure Überzeugung oder reine Verzweiflung ist, weshalb sich Lilly den "weiblichen" Bereichen des Design – Kleidermode, Schaufenster- und Textilgestaltung – verschreibt, ist unbekannt. Später wird sie jedenfalls einräumen: "My real heart … is in building." Aber Zeit ihres Lebens wird das Vorurteil unausrottbar bleiben: "Du denkst doch nicht etwa, dass eine Frau ein Haus bauen kann."
Lilly verfügt auf jeden Fall über die seltene Gabe, künstlerische wie organisatorische Fähigkeiten sozusagen unter ihrem Hut zu vereinen, die es ihr erlauben, aktiv ein Atelier zu betreiben und gleichzeitig große Ausstellungen zu planen und auszustatten, was ja den Kontakt mit & die Koordination einer Vielzahl Beteiligter erfordert. Sie ist auch überwiegend verantwortlich für die Auswahl von 1600 Objekten deutschen Designs, die der Deutsche Werkbund zur Ausstellung im Newark Museum in New Jersey 1922 sendet.
1924 unternimmt sie zusammen mit dem Frankfurter Architekten Ferdinand Kramer, der an der Gestaltung des Neuen Frankfurt mitbeteiligt ist ( siehe auch dieser Post ), eine Studienreise durch neue Wohnsiedlungen in England und Holland. Danach wird sie Ausstellungsgestalterin der Werkbund-Kommission des Messeamtes in Frankfurt/Main, wohin sie übersiedelt und auch ein eigenes Modestudio einrichtet. Ihre erfolgreiche Schau "Von der Faser zum Gewebe" (1926) ist als eine Frühform des Corporate Design zu betrachten: Durch die Reduktion auf wenige Gestaltungselemente gelingt es ihr, Maschinen und Rohstoffe so zu inszenieren, dass der Herstellungsprozess zum Ausstellungserlebnis wird - ein internationales Vorbild für alle späteren Gestaltungen von Ausstellungen!
In ihrer Funktion beim Messeamt lernt die nunmehr 41jährige den fast gleichaltrigen Architekten Ludwig Mies van der Rohe ( "Weniger ist mehr" ) kennen. Dieser stellt sie in seinem Büro ein und überträgt ihr die organisatorische Arbeiten für die bis dahin ehrgeizigste Werkbund-Ausstellung "Die Wohnung" 1927 in Stuttgart/Weißenhof.
Lilly Reich entwirft aber auch einige Inneneinrichtungen für diese Ausstellung, wie - zusammen mit Mies van der Rohe - den "Wohnraum Spiegelglas" und die damals medial hoch gepriesene, reduzierte Appartementausstattung in seinem Wohnblock in der Weißenhofsiedlung sowie das nüchtern-sachliche Ausstellungsdesign von acht Ausstellungshallen.
Vor allem der Wohnraum, ursprünglich als Werbung für den Werkstoff Glas geplant, wird zur Sensation: Die minimalistische Anordnung der Interieurs, die Gliederung der Funktionszonen durch verschiedenfarbige Bodenbeläge und die Akzentuierung durch präzise aufeinander abgestimmte Materialien gelten bis heute als Maßstab für modernes Wohnen. Berühmt ist bis heute auch der sogenannte Weißenhofstuhl aus Stahlrohr mit Geflecht, der oft alleine dem Architekten zugeschrieben wird ( siehe auch dieser Post ).
Lilly erhält eine weitere Reihe von Aufträgen und geht dann nach Berlin zurück, wo sie mit Mies van der Rohe, mit dem sie inzwischen auch eine intensive persönliche Beziehung hat, eine Wohnung in Mitte in der Genthiner Straße 40 bezieht. Ihr eigenes Atelier gibt sie nicht auf.
Es entstehen weitere Möbel- und Innenraumentwürfe, die Lillys Ruf als Vorzeige-Innenarchitektin und -Möbeldesignerin festigen. So geht auf sie eine Stahlrohrmöbel-Serie zurück – vermutlich die erste einer Frau in jener Zeit - die von den Bamberger Metallwerkstätten hergestellt und verkauft wird. Ihre Entwürfe umfassen Bettgestelle, Stühle, Tische und Liegen, und sie kombiniert Holz und Stahlrohr zu großem Effekt, wie bei ihrem eleganten Gartentisch (LR500):
Daneben arbeitet Lilly gemeinsam mit Mies van der Rohe an mehreren Projekten für den Chef der Vereinigten Seidenwebereien (Verseidag) u. a. betuchte Krefelder. Die Innenausstattungen für die Häuser Lange und Esters (1927-30) sowie das Haus Tugendhat in Brünn (1930) stammen von ihr. Lilly ist maßgeblich für die Auswahl und das Arrangement der Farben, Stoffe, Polsterbezüge, Teppiche und Möbel verantwortlich und schafft eine nahezu magische Stimmung, die von den luxuriösen Materialien und dem erlesenen Zusammenspiel ihrer Formen und Farben ausgeht und die so charakteristisch für Lilly Reichs Innenraumentwürfe sind.
Zusammen gestalten sie auch das "Café Samt & Seide" der Berliner Ausstellung "Die Mode der Dame" (1927). Sie entwickeln den Messestand als freie Fläche, die ausschließlich durch Stoffbahnen räumlich gegliedert wird. Von unterschiedlicher Höhe hängen Seiden- und Samtstoffe wie Vorhänge an geraden und geschwungenen Stahlrohren und bilden unterschiedliche Zonen. Möbliert ist das Café mit Stahlrohrmöbeln der Beiden.
Der Erfolg von Stuttgart hat Lilly Reich zu ihrer bedeutendsten Aufgabe verholfen: Sie übernimmt die künstlerische Leitung der deutschen Präsentation auf der Weltausstellung von Barcelona 1929, darunter auch die für 25 Einzelausstellungen. Mies van der Rohe entwirft für diese Präsentation seinen bis heute berühmten Pavillon.
In diesem Pavillon wird eines der meist kopierten Sitzmöbel der Welt, der schönste (und wohl auch teuerste) Stuhl des 20. Jahrhunderts, der Barcelona-Sessel, präsentiert. Kunstkritiker feiern den Entwurf als "revolutionär".
1977 wird diese alleinige Zuschreibung zum einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts durch eine Ausstellung in New York in Frage gestellt. Bei der Vorbereitung einer Möbelschau im "Museum of Modern Art" ist dem Kurator des Mies-van-der-Rohe-Archivs, Ludwig Glaeser, aufgefallen, dass die Entwürfe zu allen berühmten Mies-Möbeln ausschließlich aus jener Zeit stammen, die der Baumeister und die Designerin Lilly Reich miteinander gearbeitet haben. Fakt ist, dass die beiden, obwohl sie getrennte Designstudios betreiben, ihre künstlerischen Ideen in Bezug auf Möbel, Ausstellungen und Innenarchitektur ständig austauschen.
Auch an der Deutschen Bau-Ausstellung 1931 in Berlin ist Lilly wieder beteiligt und richtet zwei Wohnungen im Boardinghaus ein, entwirft ein Erdgeschosshaus und gestaltet die Materialienschau.
Lilly Reichs Entwurf eines Kochschrankes ist von so schöner Einfachheit, die zeitlos ist, und wird später in die Produktion gehen.
Ungefähr zur gleichen Zeit richtet sie in Berlin, wieder in Kooperation mit Mies van der Rohe, eine Wohnung für eine Tochter des Krefelder Seidenfabrikanten in einem Wohnblock am Ufer des Teltowkanals ein. Die Bedeutung eines solchen Projekts liegt in den Möbelentwürfen, die für sie geschaffen werden. Sie bilden einen repräsentativen Querschnitt durch das möbelkünstlerische Werk der Beiden.
Im Januar 1932 beruft Ludwig Mies van der Rohe als dritter Bauhaus-Direktor Lilly Reich zur Leiterin der Bau-/Ausbauabteilung und der Weberei am Bauhaus Dessau und später am Bauhaus Berlin. Obwohl sie eine international renommierte Designerin ist, erntet sie zu Beginn ihrer Tätigkeit am Bauhaus nur Kritik, wird als Protegée ihres Lebenspartners betrachtet bzw. als Assistentin abqualifiziert.
Sie ist ja auch "kein scheues Reh" ( Ulrike Müller ), sondern anspruchsvoll, durchsetzungsfähig, ja, bisweilen aufdringlich, aber immer klar artikuliert. Das passt nicht so recht zu dem damals in der Weberei gepflegten Arbeitsstil. Doch es gibt noch ein paar Kooperationen, bevor die Nazis zu Beginn des Sommersemesters 1933 das Bauhaus schließen, und Lilly arbeitslos wird.
Sie entscheidet sich allerdings, in Nazi-Deutschland zu bleiben, statt wie viele der männlichen Kollegen des Bauhauses zu fliehen. Sie sympathisiert mit der Idee eines "neuen Bauhauses unter NS-Vorzeichen". Ihre weitere berufliche Karriere wird allerdings immer mehr eingeschränkt. 1934 kann sie noch an der Gestaltung der Ausstellung "Deutsches Volk − Deutsche Arbeit" in Berlin mitwirken. Sie entwirft auch noch mit Mies van der Rohe ein Hofhaus für den Sohn der Krefelder Familie Lange in Berlin, welches aber wegen einer Neuauslegung des Gestaltungsgesetzes durch die Nazis nicht mehr realisiert werden kann.
"Ich habe ein paar kleinere Arbeitsplätze gehabt, aber jetzt gibt es noch nichts", schreibt Lilly 1935 an einen Kollegen. "Es ist keine schöne Situation, aber wir sind so hilflos, es zu ändern." In den folgenden Jahren schlägt sie sich mit kleinen Aufträgen durch wie der Gestaltung eines Kinderzimmers für die Villa Wolf in Guben oder einer Inneneinrichtung für Dr. Schäppi in Berlin.
1937 bekommt sie mit Mies van der Rohe noch den Auftrag zur Gestaltung der Reichsausstellung der Deutschen Textil- und Bekleidungswirtschaft in Berlin, die anschließend auch im deutschen Pavillon der Pariser Weltausstellung 1937 gezeigt wird. Dann geht Mies van der Rohe nach Chicago...
Nach seiner Emigration besucht Lilly Reich Mies van der Rohe 1939 in Chicago und ist dort beteiligt am Design des "Illinois Institute of Technology" (IIT). Zeugen aus jenen Tagen in den Staaten erinnern sich, dass sie gerne geblieben wäre, doch ihr Partner fragt sie nie, er schließt sie aus seinem jetzigen Leben aus ( ob für immer - das ist eher unwahrscheinlich, schreibt er ihr doch noch 22 Briefe innerhalb eines Jahres ). Lilly leidet unter seinem Verhalten und kehrt, angeblich wegen eines Urheberrechtsstreits, dessen Regelung sie für sie Beide über die Bühne bringen will, zurück nach Deutschland. "(e)s ist mir doch irgendwie allmählich meine ganze Existenz genommen, sowohl die sachliche als auch die persönliche", äußert sie sich dazu.
In Deutschland wird sie, nachdem die Nazis den Zweiten Weltkrieg entfesselt haben, zwangsverpflichtet, in der Organisation Todt zu arbeiten, deren Aufgabe es ist, strategische Militärgebäude zu bauen. Später kommt sie im Büro des Architekten & Ex - Bauhäuslers Ernst Neufert, seit 1943 Reichsbeauftragter für Baunormung, ab 1944 Mitarbeiter in Speers Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte, unter. Ob sie aus materieller oder ideeller Not oder aus Überzeugung mit den Nazis kooperiert, ist nicht zu sagen. Bisher ist kein Dokument aufgetaucht, das das Verhältnis der Designerin zum NS-Regime eindeutig belegt.
In weiser Voraussicht hat Lilly Reich während des des Krieges, 3000 Entwurfszeichnungen ihres Gefährten und 900 ihrer eigenen einem Freund übergeben, der sie im Haus seiner Eltern im Osten Deutschlands versteckt. Instinktiv richtig, denn die in Berlin gelagerten Dokumente werden ein Raub der Flammen. ( 1969 gelingt es dann Mies van der Rohe, ihren gemeinsamen Nachlass aus der DDR zu bekommen und dem Museum of Modern Art in New York zu vermachen. )
1943 geht Reichs eigenes Atelier also während eines Bombenangriffs in Flammen auf. Nach dem Ende des Krieges bedeutet das, dass sie ein neues schaffen muss. Sie übernimmt außerdem 1945/1946 eine Dozentur an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin in Raumgestaltung und Gebäudelehre. Diese Tätigkeit muss sie 1947, inzwischen schwer an Krebs erkrankt, aufgeben.
Am 14. Dezember 1947 stirbt Lilly Reich, 62jährig, in Berlin, kurz nachdem sie einen Neustart des Werkbundes erwirkt hat.
Lange, lange - dem Zeitgeist der Nachkriegsjahrzehnte mit einem Verständnis "Wenn es eine gute und klare Idee ist - dann kann sie nur von einem Mann kommen", so Mies van der Rohe selbst, geschuldet - bleibt Lilly Reich nichts als eine Schattenfigur, die nur in den Marginalien, Parenthesen & Fußnoten zum Leben & der Arbeit des Genies Mies van der Rohe existiert.
Viele Monographien nach dem Krieg erwähnen sie zwar anerkennend im Zusammenhang mit der Stuttgarter Werkbund - Ausstellung, für die er sie gut trainiert habe. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass sie schon als junge Frau ab 1911 Ausstellungen gestaltet und alle Werkbundausstellungen bis 1926 verantwortet hat.
Es dauert bis in die 1970er Jahre hinein, dank Einsicht in den papiernen Nachlass, aber auch der Frauenbewegung, bis immer deutlicher wird, dass dieser Genius nur dank seiner Partnerin seine famosen theoretischen Werke in gebaute Realität umsetzen konnte. Legendär ist, dass er ein Meister der Prokrastination war und sie ihn voranbrachte, indem sie ihm gegenüber saß, Kritik übte und Vorschläge machte, während er Dutzende von Skizzen anfertigte, um eine Idee oder einen Entwurf zu entwickeln. So berichtet es der Mitarbeiter Herbert Hirsche, von dem auch die Aussage stammt: "Mies machte nichts ohne vorher mit Lilly Reich zu sprechen." Anhand der Entwurfsskizzen ist bis heute nicht feststellbar, was von wem kommt. Beschränkt auf Innenausstattung, Stoffe und Farben - auf diesem Gebiet werden die Leistungen Lillys nicht bezweifelt. Auffallend ist, dass nach der gemeinsamen Arbeit in Stuttgart, seine natürliche Eleganz durch ihr architektonisches Vokabular eine echte Bereicherung erfahren hat. Die Sichtweise auf Lilly Reich als "the wine entwined around the figure of a great man" ist nicht aufrechtzuerhalten. Stattdessen handelt es sich bei dem Architekten-/Designgespann Reich/Mies van der Rohe um eine der kreativsten Kooperationen in der Architektur des vergangenen Jahrhunderts.
Aus jener Zeit sind Veröffentlichungen zur Mode der berühmt-berüchtigten Zwanziger Jahr erhalten, in denen sie sich durchaus kritisch äußert: "Die Mode hat keinen Stil, sie ist immer nur modisch." Sie profiliert sich so für die künstlerische Direktion der Ausstellung "Kunsthandwerk in der Mode" der Deutschen Modeindustrie. Ihr Ziel ist es, Kunsthandwerk und Massenproduktion auf einem qualitativ hochstehenden Niveau zusammen zu bringen. Als schlechte Beispiele dienen ihr gedruckte Batikstoffe oder solche, die sich den Anstrich geben, per Hand bemalt zu sein.
Angesichts der dramatischen Auftragslage in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg ist es auch wirtschaftlich opportun, mehrgleisig zu fahren und Kleidung und Stoffe zu entwerfen und über die Haute und Basse Couture zu schreiben. Daneben kümmert sich ihr Atelier weiterhin um Innenraumgestaltung & Dekorationskunst.
Ob es pure Überzeugung oder reine Verzweiflung ist, weshalb sich Lilly den "weiblichen" Bereichen des Design – Kleidermode, Schaufenster- und Textilgestaltung – verschreibt, ist unbekannt. Später wird sie jedenfalls einräumen: "My real heart … is in building." Aber Zeit ihres Lebens wird das Vorurteil unausrottbar bleiben: "Du denkst doch nicht etwa, dass eine Frau ein Haus bauen kann."
Wollkleid, Steppjacke und Hauskleid von Lilly Reich (1926) Source |
1924 unternimmt sie zusammen mit dem Frankfurter Architekten Ferdinand Kramer, der an der Gestaltung des Neuen Frankfurt mitbeteiligt ist ( siehe auch dieser Post ), eine Studienreise durch neue Wohnsiedlungen in England und Holland. Danach wird sie Ausstellungsgestalterin der Werkbund-Kommission des Messeamtes in Frankfurt/Main, wohin sie übersiedelt und auch ein eigenes Modestudio einrichtet. Ihre erfolgreiche Schau "Von der Faser zum Gewebe" (1926) ist als eine Frühform des Corporate Design zu betrachten: Durch die Reduktion auf wenige Gestaltungselemente gelingt es ihr, Maschinen und Rohstoffe so zu inszenieren, dass der Herstellungsprozess zum Ausstellungserlebnis wird - ein internationales Vorbild für alle späteren Gestaltungen von Ausstellungen!
Werbefoto für die Weißenhofsiedlung von Lilly Reich Source |
"Wohnraum Spiegelglas" Source |
Weißenhofstuhl mit Geflecht von Lilly Reich Source |
Es entstehen weitere Möbel- und Innenraumentwürfe, die Lillys Ruf als Vorzeige-Innenarchitektin und -Möbeldesignerin festigen. So geht auf sie eine Stahlrohrmöbel-Serie zurück – vermutlich die erste einer Frau in jener Zeit - die von den Bamberger Metallwerkstätten hergestellt und verkauft wird. Ihre Entwürfe umfassen Bettgestelle, Stühle, Tische und Liegen, und sie kombiniert Holz und Stahlrohr zu großem Effekt, wie bei ihrem eleganten Gartentisch (LR500):
Gartentisch LR 500 Source |
Zusammen gestalten sie auch das "Café Samt & Seide" der Berliner Ausstellung "Die Mode der Dame" (1927). Sie entwickeln den Messestand als freie Fläche, die ausschließlich durch Stoffbahnen räumlich gegliedert wird. Von unterschiedlicher Höhe hängen Seiden- und Samtstoffe wie Vorhänge an geraden und geschwungenen Stahlrohren und bilden unterschiedliche Zonen. Möbliert ist das Café mit Stahlrohrmöbeln der Beiden.
Der Erfolg von Stuttgart hat Lilly Reich zu ihrer bedeutendsten Aufgabe verholfen: Sie übernimmt die künstlerische Leitung der deutschen Präsentation auf der Weltausstellung von Barcelona 1929, darunter auch die für 25 Einzelausstellungen. Mies van der Rohe entwirft für diese Präsentation seinen bis heute berühmten Pavillon.
In diesem Pavillon wird eines der meist kopierten Sitzmöbel der Welt, der schönste (und wohl auch teuerste) Stuhl des 20. Jahrhunderts, der Barcelona-Sessel, präsentiert. Kunstkritiker feiern den Entwurf als "revolutionär".
Lilly Reich mit einer Reportermeute in Barcelona Source |
"The truth of the story may remain forever hidden, obscured by wartime separations, and losses, discreet and ladylike silences, a love affair complicated by a business partnership, professional courtesie's and the overpowering Mies myth. But enough remains to make a story bound to have an effect on anyone who ever bought a $1,628 Mies chair or ever sat in one", schreibt Sarah Booth Conroy damals in der "Washington Post".
Wohnung im Boardinghaus (1931) Source |
Lilly Reichs Entwurf eines Kochschrankes ist von so schöner Einfachheit, die zeitlos ist, und wird später in die Produktion gehen.
Ungefähr zur gleichen Zeit richtet sie in Berlin, wieder in Kooperation mit Mies van der Rohe, eine Wohnung für eine Tochter des Krefelder Seidenfabrikanten in einem Wohnblock am Ufer des Teltowkanals ein. Die Bedeutung eines solchen Projekts liegt in den Möbelentwürfen, die für sie geschaffen werden. Sie bilden einen repräsentativen Querschnitt durch das möbelkünstlerische Werk der Beiden.
1933 Source |
Sie ist ja auch "kein scheues Reh" ( Ulrike Müller ), sondern anspruchsvoll, durchsetzungsfähig, ja, bisweilen aufdringlich, aber immer klar artikuliert. Das passt nicht so recht zu dem damals in der Weberei gepflegten Arbeitsstil. Doch es gibt noch ein paar Kooperationen, bevor die Nazis zu Beginn des Sommersemesters 1933 das Bauhaus schließen, und Lilly arbeitslos wird.
Sie entscheidet sich allerdings, in Nazi-Deutschland zu bleiben, statt wie viele der männlichen Kollegen des Bauhauses zu fliehen. Sie sympathisiert mit der Idee eines "neuen Bauhauses unter NS-Vorzeichen". Ihre weitere berufliche Karriere wird allerdings immer mehr eingeschränkt. 1934 kann sie noch an der Gestaltung der Ausstellung "Deutsches Volk − Deutsche Arbeit" in Berlin mitwirken. Sie entwirft auch noch mit Mies van der Rohe ein Hofhaus für den Sohn der Krefelder Familie Lange in Berlin, welches aber wegen einer Neuauslegung des Gestaltungsgesetzes durch die Nazis nicht mehr realisiert werden kann.
Wohnung Dr. Schäppi Source |
1937 bekommt sie mit Mies van der Rohe noch den Auftrag zur Gestaltung der Reichsausstellung der Deutschen Textil- und Bekleidungswirtschaft in Berlin, die anschließend auch im deutschen Pavillon der Pariser Weltausstellung 1937 gezeigt wird. Dann geht Mies van der Rohe nach Chicago...
Lilly Reich links & Mies van der Rohe rechts (1933) Source |
Mies van der Rohes Haltung zu den neuen Machthabern ist in der Folgezeit oft als opportunistisch kritisiert worden. Dieser Vorwurf ist nachweislich zutreffend (Eintritt in die Reichskulturkammer 1934, Unterzeichnung des Aufrufs der Kulturschaffenden zur Unterstützung für Adolf Hitler im Völkischen Beobachter 18. August 1934, Eintritt in die NS-Wohlfahrt 1934, Teilnahme an der Ausstellung Deutsches Volk-Deutsche Arbeit 1934, Entwurf für den deutschen Beitrag zur Weltausstellung in Brüssel, 1934).[4] Die Nationalsozialisten selbst waren sich allerdings nach einiger Zeit, auch aus taktisch motivierter Zurückhaltung (u. a. wegen der Olympischen Spiele 1936 in Berlin), sicher, dass seine Arbeit nicht ihren Vorstellungen entsprach, grenzten ihn zunehmend aus und drängten ihn 1937, die Preußische Akademie der Künste zu verlassen, die ihn erst sechs Jahre vorher zu ihrem Mitglied gewählt hatte. Damit war klargestellt, dass er offiziell abgelehnt wurde. ( Wikipedia )
In Deutschland wird sie, nachdem die Nazis den Zweiten Weltkrieg entfesselt haben, zwangsverpflichtet, in der Organisation Todt zu arbeiten, deren Aufgabe es ist, strategische Militärgebäude zu bauen. Später kommt sie im Büro des Architekten & Ex - Bauhäuslers Ernst Neufert, seit 1943 Reichsbeauftragter für Baunormung, ab 1944 Mitarbeiter in Speers Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte, unter. Ob sie aus materieller oder ideeller Not oder aus Überzeugung mit den Nazis kooperiert, ist nicht zu sagen. Bisher ist kein Dokument aufgetaucht, das das Verhältnis der Designerin zum NS-Regime eindeutig belegt.
In weiser Voraussicht hat Lilly Reich während des des Krieges, 3000 Entwurfszeichnungen ihres Gefährten und 900 ihrer eigenen einem Freund übergeben, der sie im Haus seiner Eltern im Osten Deutschlands versteckt. Instinktiv richtig, denn die in Berlin gelagerten Dokumente werden ein Raub der Flammen. ( 1969 gelingt es dann Mies van der Rohe, ihren gemeinsamen Nachlass aus der DDR zu bekommen und dem Museum of Modern Art in New York zu vermachen. )
Preis- & Modellliste der Stahlmöbel für die Bamberger Metallwerkstätten Source |
1943 geht Reichs eigenes Atelier also während eines Bombenangriffs in Flammen auf. Nach dem Ende des Krieges bedeutet das, dass sie ein neues schaffen muss. Sie übernimmt außerdem 1945/1946 eine Dozentur an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin in Raumgestaltung und Gebäudelehre. Diese Tätigkeit muss sie 1947, inzwischen schwer an Krebs erkrankt, aufgeben.
Am 14. Dezember 1947 stirbt Lilly Reich, 62jährig, in Berlin, kurz nachdem sie einen Neustart des Werkbundes erwirkt hat.
Lange, lange - dem Zeitgeist der Nachkriegsjahrzehnte mit einem Verständnis "Wenn es eine gute und klare Idee ist - dann kann sie nur von einem Mann kommen", so Mies van der Rohe selbst, geschuldet - bleibt Lilly Reich nichts als eine Schattenfigur, die nur in den Marginalien, Parenthesen & Fußnoten zum Leben & der Arbeit des Genies Mies van der Rohe existiert.
Viele Monographien nach dem Krieg erwähnen sie zwar anerkennend im Zusammenhang mit der Stuttgarter Werkbund - Ausstellung, für die er sie gut trainiert habe. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass sie schon als junge Frau ab 1911 Ausstellungen gestaltet und alle Werkbundausstellungen bis 1926 verantwortet hat.
Es dauert bis in die 1970er Jahre hinein, dank Einsicht in den papiernen Nachlass, aber auch der Frauenbewegung, bis immer deutlicher wird, dass dieser Genius nur dank seiner Partnerin seine famosen theoretischen Werke in gebaute Realität umsetzen konnte. Legendär ist, dass er ein Meister der Prokrastination war und sie ihn voranbrachte, indem sie ihm gegenüber saß, Kritik übte und Vorschläge machte, während er Dutzende von Skizzen anfertigte, um eine Idee oder einen Entwurf zu entwickeln. So berichtet es der Mitarbeiter Herbert Hirsche, von dem auch die Aussage stammt: "Mies machte nichts ohne vorher mit Lilly Reich zu sprechen." Anhand der Entwurfsskizzen ist bis heute nicht feststellbar, was von wem kommt. Beschränkt auf Innenausstattung, Stoffe und Farben - auf diesem Gebiet werden die Leistungen Lillys nicht bezweifelt. Auffallend ist, dass nach der gemeinsamen Arbeit in Stuttgart, seine natürliche Eleganz durch ihr architektonisches Vokabular eine echte Bereicherung erfahren hat. Die Sichtweise auf Lilly Reich als "the wine entwined around the figure of a great man" ist nicht aufrechtzuerhalten. Stattdessen handelt es sich bei dem Architekten-/Designgespann Reich/Mies van der Rohe um eine der kreativsten Kooperationen in der Architektur des vergangenen Jahrhunderts.
habe wieder was gelernt und entdeckt bei dir! die kurbelstickerei muss ich auch mal probieren... liebe grüsse
AntwortenLöschenGuten Morgen liebe Astrid,
AntwortenLöschenjaa Lilly Reich und die Weißenhofsiedlung, direkt vor der Tür und auch im Studium an der danebenliegenden Kunstakademie habe ich viel mitbekommen und auch schon sehr viel auf meinem Blog drüber geschrieben. War eine ganz besondere Zeit und wenn man bedenkt, dass das alles Hitler ein Dorn im Auge war und er das alles als "Arberdorf" bezeichnet hat.
Nach dem Krieg wollte man diese hässliche Siedlung abreißen, gottseidank ist das nicht geschehen, denn es ist etwas ganze Besonders was Stuttgart hier mal wieder hat.
Die Le Corbusier Wohnung im gleichen Haus ist sensationell.
Schon x-mal gesehen und immer und immer wieder interessant.
Ja, und Le Corbusier wußte um die Macht der Schwarz-Weiß-Fotografie. Das Bild mit dem Auto vor dem Haus wurde von seinem Fotografen gemacht, ich muß jetzt erst mal nachschauen, wer das war, irgendwo habe ich das festgehalten.
Dankeschön diesen tollen Bericht, da feue ich mich sehr darüber.
Mit lieben Grüßen Eva
Setzte mal bei "feue" ein "r" dazu.
Löschen:-))
LG Eva
Liebe Astrid,
AntwortenLöschenein sehr ausführliches Portait dieser vielseitig begabten Frau!
Danke - es war sehr interessant zu lesen, vieles wusste ich noch nicht.
Liebe Grüße,
veronika
Wieder eine Frau, deren Namen ich noch nie gehört habe. Ach, ich liebe deine Frauenserie!
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Andrea
War ich doch erst im Bauhaus in Dessau - in Weimar sowieso schon öfters - und das Wirken von Lilly Reich war mir dennoch nicht so klar. Ulrike Müllers Buch kenne ich gut, aber ich vergesse einfach immer wieder was... Und so war Deine Erinnerung an diese große Designerin sehr willkommen.
AntwortenLöschenWie schwierig es für diese Frauen doch immer war über Kriegs- und Notzeiten zu kommen und interessant, dass es dann das Nähen war, das sie in diesem Fall über Wasser hielt.
Und immer ein eigenes Atelier - nicht üblich zu diesen Zeiten.
Auf jeden Fall eine höchst interessante Frau.
Danke fürs Vorstellen sagt Sieglinde.
Danke fürs Vorstellen.
So einen Weißenhofstuhl hätte ich gerne !! Nach wie vor ist diese Art Mobilar < modern<. Genau wie das minimalistische wohnen. Ich mag es. Lilly Reich kannte ich bisher nicht- danke fürs Vorstellen :))
AntwortenLöschenGruß zu dir
heiDE
Ein Thema, dass in Diskussionen meine Freundin und mich sehr beschäftigt - die Männer - die Frauen des Bauhauses.Da gibt es noch etliches Aufzuholen und vom Sockel zu stürzen oder wenigsten dran zu sägen.Schön, dass du wieder den Finger in die Wunde gelegt hast. Bei den geretteten Entwürfen,die jetzt in den USA sind, denke ich sofort wie schade und dass sie wahrscheinlich für viele Devisen verscheuert worden sind, weil es niemand war, der sich nicht eineutig positioniert hatte,
AntwortenLöschenBewußt war mir gar nicht, dass "Weniger ist mehr!" ein vielzitierter Satz an meiner Hochschule von Rohe stammt.
Danke und viele Grüße
Karen
Wie damals wohl so oft.
AntwortenLöschenDie Frauen fanden sich in der Rolle
der Muse wieder. Dabei war es gute Zusammenarbeit.
Toller Artikel wieder!
Also bis hier bin ich mit Nachlesen, d. h. gelesen habe ich den Post hier noch nicht, ich komme aber wieder... Denn wenn ich noch einen Post für deine Dezemberreihe fertigbringen will, muss ich jetzt ran ;-). Lieben Gruß Ghislana
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