Und wieder ist eine "24er-Kachel" voll, haben weitere vierundzwanzig Porträts von spannenden Frauen ein neues Quadrat gefüllt, das achtzehnte übrigens. Mir hat es wieder viel Freude und viele neue Erkenntnisse gebracht, mich mit diesen Frauen zu beschäftigen. Vor allem auch eine Steigerung des Selbstbewusstseins durch die Bestätigung der Erkenntnis, dass unsere so hochgelobte Zivilisation auch durch Frauen weitergebracht worden ist. Aber wer über den Tellerrand schaut, hat mitbekommen, dass unsere urzeitlichen Vorfahren eh nicht nach dem Prinzip Männer = Jäger, Frauen = Sammlerinnen funktioniert hat, sondern die Jagd eine Gemeinschaftsaktion männlicher & weiblicher Individuen gewesen ist. Das ist einfach ein patriarchalisches Märchen oder Narrativ, wie man heute so dazu sagt. Doch darum geht es mir heute nicht, heute geht es um Musik, und ich will euch von der wundervollen Maria João Pires erzählen, die ich vor 13 Jahren in der Philharmonie bei einem Konzert selbst erlebt habe,
Maria João Alexandre Barbosa Pires kommt am 23. Juli 1944 in Pena, dem 1. Bairro der portugiesischen Hauptstadt Lissabon, zur Welt. Sie ist das vierte Kind von Alzira dos Santos Alexandre Barbosa, 34 Jahre alt, und des 46jährigen João Baptista Pires, der 22 Tage vor ihrer Geburt gestorben ist. Die Trauer wird die ersten Jahre ihrer Kindheit überschatten. Lebenslang werden ihre Erinnerungen an die Kindheit mit diesem Gefühl verknüpft bleiben.
Maria João hat bereits drei um einiges ältere Geschwister, die Schwestern Maria Regina und Maria Helena und den Bruder Hugo. Mit ihnen, der Mutter und dem Großvater, einem Buddhisten - "und das war damals sehr merkwürdig", so Maria João - wächst sie auf. Auch der Vater hat bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr in Japan & China die buddhistische Philosophie studiert und in China gearbeitet. Maria João wird ebenfalls eine starke Beziehung zu dieser Weltanschauung entwickeln und sich in der Mitte ihres Lebens besonders damit befassen.
"Aber ich sage nicht gerne, dass ich Buddhist bin. Wenn man sagt, wer man ist, setzt man sich schon gewisse Grenzen. Schon allein die Aussage, Amerikaner zu sein, schränkt einen ein, nicht wahr? Aber man ist ein Mensch. Vor allem bin ich ein Mensch."
An ihren Großvater erinnert sie sich gerne:
"Er war ein wunderbarer Mensch, der uns viele Wege durchs Leben aufgezeigt hat. Er hat uns Kindern ein großes Geschenk gemacht mit seiner guten Seele und seinem großen Herzen. Immer hatte er ein liebes Wort für uns übrig. Er hat uns das Menschsein vorgelebt."
Zu jener Zeit steht Portugal ( seit 1933 ) unter der konservativ-autoritären, nahezu faschistischen Diktatur des Mussolini-Verehrers António de Oliveira Salazar. Die Familie Pires steht dieser Herrschaft ablehnend gegenüber, und immer wieder landet jemand aus der Verwandtschaft im Gefängnis. Vor all den grausamen Erfahrungen wird Maria João abgeschottet, doch je älter sie wird, je mehr bekommt sie mit und stellt Fragen. Den Kindern bleibt allerdings untersagt, öffentlich über Politik zu sprechen. Und so entwickeln sie sich zu unsicheren Geschöpfen und fürchten sich, außer Haus etwas Falsches zu sagen:
"Dieses Gefühl der Angst und Unsicherheit konnte ich nie ablegen. Man weiß, dass man Dinge nicht sagen darf, andererseits weiß man nicht, welche Dinge das genau sind. Als Kind lernt man, dass man besser still bleibt."
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( ca. 1950 ) |
"Ich war nie ehrgeizig – meine Lehrer schon. Ich wollte ja eigentlich Medizin studieren und hatte in Lissabon schon damit angefangen."
"... was das Klavierspielen angeht, habe ich die technischen Dinge nie wirklich gelernt. Jeder Mensch hat seine eigenen Hände, Finger und Arme, seinen eigenen Körper. Das kann man nicht wirklich lernen, es ist sehr persönlich. Man muss seine eigenen Ideen entwickeln."
Tatsächlich ist sie anfangs nicht überzeugt davon, dass sie ein natürliches Talent für das Klavierspielen habe, denn sie findet ihre Hände zu klein, wodurch sich viele technische Probleme ergeben, für die sie aber ganz alleine ihre eigenen Lösungen findet. "Ich habe nie viel gelernt, weder jetzt noch früher, aber immer sehr konzentriert, höchstens eine Stunde am Tag." Übungen sind ihr ein Graus. "Wer alle Etüden von Czerny und seinen Kollegen spielt, vergiftet sich selbst!", meint sie.
"Ich war nie in der Lage, technische Übungen zu machen. Vielleicht, vielleicht hätte ich es tun sollen, aber ich hätte immer das Gefühl gehabt, meine Zeit zu verschwenden. Es gibt auch viele Dinge, die ich nicht spielen kann oder will. Ich nehme meine Arbeit ernst, aber mich selbst nicht zu ernst. Ich mache nur Dinge, die ich liebe, und zwinge mich nie zu Übungen, die ich verabscheue."
"Ich bekam sehr früh Kinder und musste mich um alles kümmern. Ich hatte nie viel Zeit für das Klavier. Ich war immer irgendwie ein Amateur. Ich habe Karriere gemacht … es war nicht absichtlich. Es war nicht gewollt und es war nicht sehr natürlich."
"... Karriere, viel Macht, den Wettbewerb mit anderen, den Anspruch, der Beste, der Erste zu sein, denken. All das sind große Hindernisse für die eigene Musik, für den Gedanken, der Musik zu dienen."
Danach tritt sie mit großen Orchestern in Europa, Amerika, Kanada, Israel und Japan auf und interpretiert Werke von Bach, Beethoven, Schumann, Schubert, Mozart, Brahms und Chopin, bis sie sich Ende der 1970er Jahre wieder zurückzieht. Es ist zum einen ihr Bedürfnis nach Bestandsaufnahme, ihre Abneigung gegen die Anforderungen des Lebens einer modernen Konzertpianistin, aber auch familiär bedingt: Sie ist eine neue Beziehung eingegangen ( zum Fado-Sänger João Ferreira-Rosa ) und hat wieder kleine Kinder, zwei weitere Töchter. Familie ist wichtiger als alles andere, so sagt sie. Und als sie 1982 wieder an die Öffentlichkeit geht, findet sie Unterstützung bei ihrer Mutter, zu der sie ein gutes Verhältnis hat, um den Familienalltag und die Konzertreisen unter einen Hut zu bekommen.
1983 wird ihr der Rang einer Dame des Militärordens von Sant'Iago da Espada zuerkannt. Im Jahr darauf wird sie ausgewählt, beim Mozart-Festival in Salzburg zu spielen, gilt sie doch weltweit als hervorragende Interpretin von Mozarts Kompositionen, denn dessen Kompositionen begleiten sie schon seit frühester Kindheit. Hier ist beispielhaft das Piano Concerto no. 21, K. 467 zu hören:
Ihre Debüts in London, 1986, und New York, 1989, werden von der Presse hoch gelobt. 1987 tritt sie im Rahmen der Eröffnungstournee des gesamteuropäischen Gustav Mahler Jugendorchesters unter der Leitung von Claudio Abbado in Hamburg, Paris und Amsterdam auf.
1989 wird sie mit dem Prémio Pessoa ausgezeichnet, und es entwickelt sich eine enge berufliche und private Beziehung zum französischen Geiger Augustin Dumay, mit dem sie bereits bei ihrem Londoner Debüt aufgetreten ist ( Wikipedia führt ihn als ihren Ehemann auf, was Maria João ausdrücklich dementiert ). Gemeinsam leben sie ein "paar Jahre" und konzertieren in Spanien, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz und vor allem in Frankreich. Mit ihm spielt sie auch 1991 für die Deutsche Grammophon, mit denen sie seit 1989 einen Vertrag hat, Mozarts Sonaten für Klavier und Violine, KV 301, 304, 378, 379, ein,
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Mit Augustin Dumay ( 1993 ) |
1992 und 1994 gibt sie mit Augustin Dumay und dem Orchestre National de Lyon Konzerte in Japan. Nach einer Solotournee durch Europa geht sie dann erneut mit ihm auf Konzertreise in Deutschland & Belgien und nimmt drei Violinsonaten & zwei Piano Trios ( mit Jian Wang ) von Brahms 1995 mit ihm auf.
1990 hat Maria João schon ihr Debüt mit den Wiener Philharmonikern, wieder mit Claudio Abbado, bei den Salzburger Festspielen gegeben. 1996 wird sie das wiederholen, aber diesmal mit dem Royal Concertgebouw Orchestra unter der Leitung von Riccardo Chailly.
"Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Maria, die als Künstlerin auf der Bühne steht, und der Maria, die für ihre Familie und ihre Freunde da ist. Man sieht mich häufig als klein, zierlich, zart und fragil an. Wenn ich mich selbst beschreiben müsste, würde ich bis auf die Größe alles im Gegenteil sagen! Ich bin stark, aggressiv, direkt, kriegerisch. Ich kann auch nett sein, aber nur, wenn man auch nett zu mir ist. Ich habe meinen eigenen Kopf, meine eigene Stimme und bin wenig beeinflussbar. Und wenn ich an etwas glaube, kämpfe ich dafür."
Diese private Maria João begibt sich mit fünfzig Jahren auf ein weiteres Abenteuer: Im Krankenhaus, in dem eine ihrer Töchter gerade einen Sohn geboren hat, liegt auf der Neonatologie neben diesem Enkelkind ein drei Tage alter Junge, zur Adoption freigegeben.
"Ich saß also jeden Tag bei meinem Enkel und bei diesem kleinen Jungen. Und schliesslich fragte ich meine vier Töchter, ob sie einverstanden wären, wenn ich ihn adoptieren würde. So war er nur drei Tage alleine gewesen."... "Und dann habe ich noch einen Jungen aufgenommen."
Sechs Kinder hat sie somit, die alle nichts mit Musik zu tun haben, dafür sind allerdings ein paar ihrer Enkelkinder Musiker geworden.
Ihren Ansatz wird sie 2012 mit zwei Projekten ergänzen: den "Partitura Choirs", einem Projekt in Brüssel zur Gründung und Entwicklung von Chören für Kinder aus sozial schwachen Familien, und die "Partitura Workshops" an der der Chapelle Royale Reine Elisabeth im belgischen Waterloo, wo sie als Professorin lehrt. Es überrascht kaum, dass sie häufig als "eine Pianistin ohne eine Spur von Narzissmus, eine der eloquentesten Meistermusikerinnen unserer Zeit" gesehen wird. Viel Aufhebens um sich hat Maria João Pires auch nie gemacht, da gibt es, pianistisch gesehen, andere, wahre Tastenlöwinnen...
Schon Jahre vorher, 2006, ereilt sie nämlich auf Konzerttournee in Spanien wieder eine große persönliche Herausforderung. Sie soll in Salamanca spielen. Als sie dort ankommt, geht es ihr nicht gut. Die Person, die sie vor Ort betreut, schickt sie zum Arzt, ein Herzinfarkt droht, sie muss sich einer schweren Herzoperation unterziehen. Wieder ein Wendepunkt in ihrem Leben, der sie in dem Entschluss bestärkt, sich intensiver mit Musik und Bildung zu beschäftigen. Dem Ärzteteam widmet sie anschließend eine Aufnahme.
Sie erwirbt ein Haus in Brasilien, in Lauro de Freitas in der Metropolregion Salvador im Bundesstaat Bahia und lebt ab 2008 dort, erwirbt sogar die brasilianische Staatsbürgerschaft. 2013, nach 35 Jahren, kündigt sie ihren Plattenvertrag bei der Deutschen Grammophon. Um ihre Person ginge es nicht, betont sie: "Ich habe mich zurückgezogen, weil ich mich mit dieser Politik nicht identifizieren kann. Die Künstler missbrauchen, was ihnen anvertraut ist. Wieso lässt man diese Respektlosigkeit zu?"
Als 2018 das Projekt in Belgais erneuert und als "Belgais Arts Centre" reaktiviert werden kann, kehrt sie nach Portugal zurück. Immer wieder hat sie ihre Karriere beenden wollen, so auch 2018, um es alsbald zu widerrufen, was verärgerte Reaktionen heraufbeschworen hat, denn plötzlich steht sie doch wieder auf der Bühne: 2019 dann als Ersatz für den gesundheitlich indisponierten Radu Lupu mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Daniel Barenboim ( siehe auch dieser Post ) - und das gleich mehrfach. "Oft waren meine Rückzugsgedanken eine Reaktion auf den Stress, den das Konzertleben mit sich bringt", begründet sie ihren Gesinnungswandel.
"Ich habe unterrichtet im einen Land, hatte ein Familienleben im anderen, gab Konzerte weltweit und hatte mein eigenes Kunstzentrum in Portugal. Kein Wunder, dass es mir zuviel wurde – man kann nicht 24 Stunden am Stück arbeiten! Man muss schlafen, essen, sich ausruhen, zu sich kommen. Ich musste mir die Frage stellen: Was kann ich aus meinem Leben streichen, damit ich mich wohler fühle?"
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Bei Konzerten im Frühjahr 2024 in Porto & Montreal |
Immerhin ist sie da schon 74 Jahre alt! Ab 2022 tritt sie wieder auf. Geplant sind in diesem Jahr nicht nur Konzerte in Portugal oder Europa ( siehe hier die Daten )...
"Das Wichtigste, was ich in meinem Leben gelernt habe, ist Toleranz, das Nicht-Einteilen in Schwarz und Weiß, Gut oder Schlecht. Das Verhalten anderer zu akzeptieren und nicht zu verurteilen. Auch, nicht egoistisch zu sein, ist eine Lebensaufgabe des Lernens. Für mich ist wichtig, in meinem Leben das zu vergessen, was nicht wichtig ist. Und weiterzubauen, weiterzuarbeiten. Der Mensch ist glücklicher, wenn er das so sehen kann. Ich tue, was ich kann, und lasse, was ich nicht kann."
Mit diesen Worten und diesem Video mit Debussys "Clair de Lune", gespielt von meiner Lieblingspianistin, die auch ein großes menschliches Vorbild für mich ist, möchte ich diesen Post abschließen.
Ein sehr schönes musikalisches Frauenportrai
AntwortenLöschenIch wollte Dir noch zu Deinem Blogjubiläum gratulieren
Danke, dass Du uns immer mit so viel Engagement neue wichtige Frauen zeigst. Uns neugierig und aufmerksam machst und uns über den Tellerrand blicken lässt. Nicht zu vergessen natürlich die Bäume und Blumen.
Mit ganz lieben Grüßen
Nina