Donnerstag, 18. Juli 2024

Great Women #384: Dora Maar

Der berühmteste Maler des 20. Jahrhunderts hat ihr dereinst das Etikett 'die weinende Frau' angehängt. Es blieb lebenslang an ihr kleben. Dabei war sie eine starke und stolze Frau, für ihn eine echte Herausforderung, intellektuell und erotisch, so dass er sie offensichtlich auf ein Häufchen Elend reduzieren musste. Die Rede ist von Dora Maar, meiner heutigen Protagonistin.

"Average artists copy their peers, 
but the true great artistic gesture lies 
in the shamelessness of stealing 
and getting away with it."  

Dora Maar wird am 22. November 1907 als Henriette Théodora Markovitch geboren, ob in Paris oder Tours oder gar Lokve in Kroatien - da findet frau erstaunlicherweise widersprüchliche Angaben!

Tatsache ist, dass ihre Mutter Louise-Julie Voisin Französin ist, ob 1877 in der Region Touraine oder in der Charente geboren, ist ebenso unklar. Ihr Vater Josip Marković ( Joseph Markovitch ) hat hingegen nachweislich drei Jahre früher in der kroatischen Stadt Sisak das Licht der Welt erblickt. 

Nach seinem Schulabschluss ist dieser nach Zagreb gegangen, um eine Ausbildung als Bautechniker zu absolvieren. 1896 ist er dann weiter nach Paris gezogen, wo er die "École des Beaux Arts" besucht. Trotz großer finanzieller Schwierigkeiten gelingt es ihm, sein Studium im Jahr 1900 abzuschließen. Parallel dazu hat er den Bau des bosnisch-herzegowinischen Pavillons auf der berühmten Pariser Weltausstellung betreut. 

Von 1901 bis 1905 ist er als selbstständiger Bauunternehmer auf der Strecke Paris-Zagreb tätig. 1903 heiratet er in Trsat, zur istrischen Küstenstadt Rijeka gehörig, Louise-Julie Voisin, Hutmacherin und Eignerin eines Modegeschäftes.

Schon 1905 geht Joseph Markovitch nach Nord- und Südamerika, um sich im Jahr darauf im argentinischen Buenos Aires niederzulassen. Dort ist er u.a. am Bau der österreichisch-ungarischen Botschaft in Argentinien beteiligt. 1910 ist er in den Bau eines touristisch-architektonischen Komplexes mit einer großen Stierkampfarena in Colonia del Sacramento in Uruguay involviert. Joseph Markovitch erarbeitet sich nach und nach einen gewissen Wohlstand. 1910 ist auch das Jahr, in dem er seine einzige Tochter aus Frankreich nach Argentinien holt.

Wie und was das Mädchen in den nächsten Jahren erfährt & erlebt, ist nahezu unbekannt. Es ist wohl so, dass die wohlsituieret & gebildete Familie das Mädchen mehrere Sprachen lernen lässt. Auch kommt sie so schon früh mit den diversen Kulturen in Berührung. Angeblich hat sie im Alter von 12 Jahren auf den Seereisen zwischen Lateinamerika und dem alten Kontinent mit dem Fotografieren begonnen.

Eine glückliche Kindheit scheint die der kleinen Dora, wie sie genannt wird, nicht gewesen zu sein. Auch die Ehe der Eltern verläuft nicht gerade harmonisch. Der Vater ist autoritär, eitel & cholerisch gewesen ( und später faschistoid & hitlerfreundlich. Im 2. Weltkrieg wird er sich aber nach Südamerika zurückziehen. ). Die Kommunikation mit der frömmlerischen Mutter wiederum wird für Dora bis in deren Alter konfliktreich sein. Sich selbst erlebt das Mädchen wie durch eine Glasscheibe von den anderen isoliert und es fühlt sich nicht wahrgenommen. Inzwischen nimmt man sogar an, dass Dora im Laufe der Zeit eine Borderline - Persönlichkeitsstörung entwickelt hat.

1926
© CNAC/MNAM/RMN-Grand Palais/Art Resource, NY

Ursprünglich will sie bei ihrer Rückkehr nach Paris mit 19 Jahren auf die "Académie des Beaux-Arts", was Frauen aber nicht gewährt wird. Sie weicht aus auf die progres­siven Kunst­schu­len für Male­rei und ange­wandte Kunst, der "École nationale supérieure des arts décoratifs", der "École de photographie" und der "Académie Julian". Malerei studiert sie später auch bei André Lhote, der sich damals dem Kubismus zugewandt hat.

Während ihrer Studien lernt sie Jacqueline Lamba kennen, mit der sie bald eng befreundet sein und die sie später mit den Surrealisten im "Café de la Place Blanche" bekannt machen wird. ( Jacqueline wird dort André Breton kennenlernen, den sie schließlich heiraten wird. )

Dora hat das Glück, in Paris auf großartige Fotografen zu treffen, die sie in die Welt dieses Metiers einführen werden: Einmal Henry Cartier-Bresson, der sie überzeugt, ihren Namen in einen kürzeren und klangvolleren zu ändern. Ein anderer ist Brassaï, ein gebürtiger Ungar, der sie ebenfalls unter seine Fittiche nimmt. Auch Emmanuel Sougez, der Sprecher der Bewegung der Neuen Fotografie, wird Doras Mentor. Bei Man Ray ( siehe auch dieser bzw. dieser Post ) wird sie mit vielen fotografischen Ressourcen und Tricks bekannt. Nahtlos wechselt sie jetzt von der Malerei zur Fotografie.

Von links nach rechts:
Brassaï, Henri Cartier-Bresson, Georges Bataille 
Die Dora jener Zeit wird beschrieben als vital und unersättlich neugierig, keine Grenzen kennend, dazu attraktiv, exzentrisch und ambitioniert. Für die Malerin Marianne Clouzot ist sie schlicht die "Synthese der chicen Frau" ihrer Zeit.

Mit ihrer Rollei in der Hand macht sie nun alle Arten von Fotos, von sinnlichen Aktfotos bis hin zu Porträts oder Kollaborationen in Mode- und Werbemagazinen ( Bildbeispiel hier ). 

"Les années vous guettent" ("Das Alter lauert Ihnen auf") heißt zum Beispiel ein Projekt für eine Kosmetikwerbung: Dora legt über das makellose Gesicht der Nusch Éluard ein Spinnennetz mitsamt Spinne.

Nachdem sie als Assistentin von Man Ray gearbeitet hat, eröffnet sie zunächst zusammen mit Bühnen- und Filmausstatter Pierre Kéfer, den sie 1931 bei einem gemeinsamen Projekt rund um den Mont-Saint-Michel kennengelernt hat, ein Fotostudio ( die Dunkelkammer teilen sie sich mit Brassaï, der nachts fotografiert ). Mit finanzieller Unterstützung ihres Vaters kann sie dann ein eigenes Studio in der Rue d’Astorg 29 im 8. Arrondissement installieren. Schon Doras Werbefotos dieser Jahre sind experimentierfreudig und lassen ihre kommende Entwicklung erahnen. 

In jenen Tagen expandiert die illustrierte Presse schnell. Dadurch entsteht ein wachsender Markt für experimentelle Fotos. Dora kann diese Möglichkeit für sich nutzen und erweist sich als sehr erfolgreich in der kommerziellen Verwertung ihrer Arbeiten in wichtigen Publikationen, die ausschließlich in den Händen von Männern liegen.

Bevor sie den Dichter Georges Bataille kennenlernt, mit dem sie 1933/34 eine Liebesbeziehung eingeht, hat sie 1932 eine Affäre mit dem Filmemacher Louis Chavance und verkehrt in der linksaktivistischen "Groupe Octobre", einer Agitprop- Theatergruppe, die sich nach deren Abkehr vom Surrealismus um Jacques Prévert und Max Morise gebildet hat. 

Bataille macht sie dann mit dem weiteren politischen Umfeld jener Zeit und anderen Gruppen von Intellektuellen bekannt, so mit seinem ständigen Widersacher André Breton. Auf diese Weise kommt Dora noch näher mit den Surrealisten in Berührung und schließt sich zudem der "Contre-attaque"-Bewegung an, die Bataille & Breton als intellektuelle Initiative begründet haben. Im zunehmend angespannten politischen Klima Europas unterzeichnet Dora zahlreiche linke Manifeste – eine radikale Geste für eine Frau zu dieser Zeit!

Barcelona - Serie
(1934)

Entsprechend wechselt Dora ihre Fotomotive nun weg von den Reichen und Berühmten, von Mode und Luxus hin zu Bildern von Elend und Armut, die damals in Paris herrschen. Der Unterschied zwischen ihren Fotografien und denen von Brassaï und anderen besteht darin, dass für Dora nicht der objektive oder dokumentarische Aspekt im Mittelpunkt steht, sondern eine Suche nach Symbolik und Ungewöhnlichem, wie sie später in den Fotografen von Diane Arbus ( siehe auch dieser Post ) üblich werden. 

1934 reist Dora Maar alleine nach Spanien, insbesondere nach Barcelona, und nimmt dort eine Fotoserie auf, mit der sie das tägliche Leben eines Landes während der europäischen Wirtschaftskrise und am Vorabend eines Bürgerkrieges festgehalten hat. Sozialreportagen gehören also immer zu ihrem Werk - Kanon. Auch in London fotografiert sie auf einer weiteren Solo-Reise zahlreiche Stadtansichten & einfache Menschen.

Selbst wenn sie nie im engsten Sinn zum Zirkel um André Breton gehört hat, wird sie von Surrealisten wie Paul Éluard oder Man Ray als "entzückende Angebetete" freundschaftlich verehrt. Mit gerade mal Mitte  Zwanzig ist Dora eine der wenigen Fotografinnen, die André Breton und seine notorisch sexistischen Anhänger für würdig erachten, in ihre Ausstellungen aufgenommen zu werden. Sie wird 1936 mit ihrem monströs-unheimlichen Meisterwerk "Portrait d'Ubu", dem Foto eines ( wahrscheinlich ) Gürteltierembryos, an der "International Surrealist Exhibition" in den New Burlington Galleries in London und weiteren Expositionen teilnehmen.

Das Schwarzweißfoto, benannt nach einem ursurrealistischen Theaterstück von Alfred Jarry aus dem Jahr 1896, zeigt ein Wesen von geradezu melancholischem Aussehen. Dora wird nie verraten, was das krallenbewehrte, schuppige Wesen wirklich ist oder wo sie es gefunden hat. 
Ubu ist "ein schauriges Wesen unbestimmter Herkunft und melancholischer Erscheinung … [eine Idee] so etwas wie l’informe, das Konzept, das Maars Liebhaber Georges Bataille prägte, um die Bewunderung seiner Surrealistenkollegen für alles Larvenhafte und Groteske im Werden zu beschreiben", so ihre Biografin Mary Ann Caws. 

Das Bild markiert den Höhepunkt in Doras fotografischem Schaffen und macht sie berühmt.

1935
Die meisten ihrer fotografischen Arbeiten haben eines gemeinsam: Die unheimliche Atmosphäre wie in dem erwähnten Foto. 

Ihre Kontakte mit den Surrealisten befeuern Dora geradezu, immer fantastischere Bilder zu schaffen. Dazu verhilft ihr das Stilmittel der Fotomontage, um kontrastierende Bilder zusammenzubringen und das Unterbewusste abzubilden. Mysteriöses, mit einem Gefühl der Zweideutigkeit, sogar Bedrohung, entsteht auf diese Weise. Louis Aragon, Bretons Gegenspieler bei den Surrealisten ( siehe auch dieser Post ) hat von seinen Mitstreitern gefordert: "Für jeden Menschen gibt es ein Bild zu finden, das das ganze Universum verstören wird." So funktionieren Doras Szenen, verwirren den Betrachter und stehen im Gegensatz zur Idee des Fotos als faktischer Aufzeichnung der Realität. Dora erschafft völlig neue Welten. 

Die gelungensten Beispiele für Doras Kunst sind die Fotomontagen von 1935 und 1936. In ihren Mont-Saint-Michel-Bildern gibt es bereits viele Gewölbe und Bögen. Nun nimmt sie die Klostergalerien der Orangerie in Versailles, stellt sie auf den Kopf, so dass sie wie Abwasserkanäle aussehen, und bevölkert sie mit kryptischen Wesen, die an geheimnisvollen Ritualen oder Dramen beteiligt waren. 

Ein eindrückliches Beispiel dafür ist "Le Simulateur". Ein Junge aus einem ihrer Straßenfotos liegt in einem obszönen Winkel nach hinten gebeugt.  Seine Augen sind retuschiert, so dass sie in seinem Kopf nach hinten auf uns zu rollen, wie bei einem dieser hysterischen Prügelknaben, die im 19. Jahrhundert fotografiert worden sind. 

In "29 Rue d'Astorg" - ein Werk, das die Fotografin in mehreren Versionen angefertigt hat - sowohl in schwarz-weiß wie handkoloriert – sitzt eine anthropomorphe Figur mit einem verkleinerten Vogelkopf unter Bögen, die in der Dunkelkammer subtil verzerrt worden sind. Einige ihrer Kompositionen grenzen an Erotik, wie die Fotomontage, die Finger zeigt, die aus einer Muschel kriechen und sinnlich im Sand grabbeln ( "Ohne Titel", 1933-1934 ). 

Der Surrealismus habe Dora Maar von der Tyrannei des fotografischen Scheins befreit, meint Amparo Serrano de Haro, eine spanische Kunsthistorikerin, und der Fotokünstlerin ermöglicht, ihren wilden Geist zum Ausdruck zu bringen, der sich über alles lustig macht, einschließlich – und vielleicht vor allem – über ihre eigenen Ängste.

Mit dieser Sichtweise auf Doras Wesen ist auch die Episode nachvollziehbar, die Françoise Gilot über das erste Treffen Pablo Picassos mit der damals 29 Jahre alten Dora im Café "Les Deux Magots" erzählen wird. In ihren späteren Erinnerungen heißt es über ihre Vorgängerin an Picassos Seite:

"Sie trug schwarze Handschuhe mit kleinen aufgenähten rosa Blumen. Sie zog die Handschuhe aus und nahm ein langes, spitzes Messer, das sie in den Tisch zwischen ihre ausgestreckten Finger rammte, um zu sehen, wie nahe sie jedem Finger kommen könnte, ohne sich wirklich zu schneiden. Von Zeit zu Zeit verfehlte sie ihn um den Bruchteil von wenigen Zentimetern und bevor sie das Spiel mit dem Messer beendet hatte, war ihre Hand mit Blut bedeckt." Picasso bittet Dora, ihm die Handschuhe zu schenken, die er in einer Vitrine verwahren wird.

Obwohl Picasso, 55 Jahre alt, damals noch mit Olga Chochlowa verheiratet und mit Marie-Thérèse Walter, mit der er eine Tochter hat, liiert, verliebt sich in die attraktive junge Frau mit dem langen dunklen Haar, den grünen Augen und dem masochistischen Auftreten. Es entwickelt sich eine leidenschaftliche wie abgründige Beziehung. Ein Bild von Picasso aus dem Jahr 1936 mit dem Titel "Dora und der Minotaurus" spiegelt den Geist der Beziehung wider, die der Maler mit der  jungen Frau führt. Das brutale Biest auf dem Bild bezwingt seine vor ihm liegende Beute, die ganze Gewalt des Monsters scheint die nackte junge Frau zu zerbrechen. In dieser klassischen Allegorie spiegelt sich die ganze Wildheit der Verbindung des Paares wider.

Nach eigenen Aussagen hat Picasso zu diesem Zeitpunkt die "schlimmste Zeit meines Lebens" hinter sich. 

Dora wird bald Teil seines seltsamem Kreises, seines Zirkus mit interessanten, aber durchaus anpassungswilligen Frauen. Ihre eigene künstlerische Karriere gerät auf einen gefährlichen Weg:

"... war sie ein Opfer von Picassos psychischem Missbrauch, der ihr ursprüngliches Selbstvertrauen untergrub? War sie so kompromittiert, dass sie nur noch dem Mann gefallen wollte, den sie liebte? Laut dem Kunsthistoriker John Richardson opferte Dora Maar ihre Gaben auf dem Altar ihres Kunstgottes, ihres Idols Picasso. Basierend auf den frühen surrealistischen Fotografien, [...] , kann man nur wünschen, dass sie sich nicht mit Picasso eingelassen hätte, denn es scheint, dass sie ohne ihn in ihrem Leben viel mehr erreicht hätte." Das fragt sich zum Beispiel Beth Gersh-Nesic, eine weitere Kunsthistorikerin.

In Mougins
(1937)
Doras Abwendung von der Fotografie stellt durchaus vor ein Rätsel. Ist es die "düstere Aura", die Picasso der schönen Geliebten zuschreibt, die damit zu tun hat? 

Gemeinsam schaffen sie ja noch eine Reihe von Porträts, die experimentelle fotografische und druckgrafische Techniken anwenden, z.B. das "Doppelporträt mit Hut" von 1936, das durchaus kubistisch gelesen, aber auch als Spiegelbild ihrer damaligen Gefühlslage gedeutet werden kann, als Dora hin- und hergerissen ist zwischen ihrer Karriere plus Unabhängigkeit und den Ansprüchen der starken Persönlichkeit Picassos. 

Klar ist: Die erfolgreiche Fotografin verschwindet ab 1936 allmählich, eine Malerin von Picasso-Porträts ( z. B. hier ), von Landschaften, Stillleben und geometrischen Kompositionen nimmt nun diesen Platz ein. 

Brigitte Benkemoun meint in ihrem Buch über Dora Maar wiederum, diese habe als Künstlerin gelten wollen. Zu dieser Zeit sei Fotografie aber nicht als Kunst angesehen worden. Sie habe sich also aus eigenem Antrieb für die Malerei und gegen die Fotografie entschieden. 

Fotografisch dokumentiert Dora allerdings noch die Entstehung des politischsten Werkes Picassos -  "Guernica" von 1937 - und gewährt damit Einblicke in seinen Arbeitsprozess. Manche Experten gehen sogar davon aus, dass Dora auf "Guernica" als Fackelträgerin in der Mitte des Gemäldes verewigt ist. Diese Zuweisung ist eher spekulativ: Die zentrale Frauenfigur ist nur in Umrissen angedeutet, sie hat kein erkennbares Gesicht. Belegt ist aber, dass Dora selbst mit Pinsel und Farbe Hand angelegt hat: Sie malt die Schraffuren auf dem Körper des sterbenden Pferdes.

Interessant ist, dass Dora ihren "Meister" in ganz praktischen Dingen unterstützt: So findet sie 1937 für ihn das berühmt-berüchtigte Atelier in der Rue des Grands-Augustin mitten in Saint-Germain-des Prés, dem aufkommenden Künstlerviertel: Ein unglaublich riesiger, leerstehender Raum über zwei Etagen im Hôtel de Savoie. Als Picasso während der deutschen Besatzung nicht mehr zum Schlafen in seine Wohnung gehen mag oder kann, organisiert sie einen Klempner, der ein Badezimmer & eine Zentralheizung für ihn einbaut.

Picasso schätzt ihre Fähigkeiten, ihre Intelligenz. Doch als Frau und Modell liebt er es, sie zu quälen. Er malt ihr schönes Gesicht kubistisch oder surrealistisch verzerrt und entstellt und verewigt sie - es sollen rund sechzig Bilder sein! - im Motiv der "Femme qui pleure", der "weinenden Frau". Ein eher unvorteilhaftes Bild weiblicher Verletzlichkeit! Picasso erklärt, darauf angesprochen, er habe lediglich die ihm aufgezwungene Vision wiedergegeben, da dies die "tiefe Realität von Dora Maar" gewesen sei. Die wird allerdings später James Lord sagen: "Alle Porträts von mir sind Lügen. Es sind Picassos. Keines ist Dora Maar."

Fotografiert von Brassaï in ihrem Atelier in der Rue de Savoie in Paris
(1943)
© Adagp, Paris 2019, © Estate Brassaï - RMN-Grand Palais

Während der turbulenten Beziehung zu Picasso implodiert Doras psychische Gesundheit. Ihre ohnehin vorhandenen Melancholie wird durch die Tragödien im spanischen Bürgerkrieg und die Schrecknisse des Zweiten Weltkrieges verstärkt. Vielleicht hinterlässt auch der Tod der Mutter 1942 seine Spuren, die stirbt, während sie noch mit Dora telefoniert ( und die erst am nächsten Tag darauf reagieren wird ). Und was die Konkurrenz zu Marie-Thérèse Walter betrifft, bekennt Picasso: "Ich hatte kein Interesse daran, eine Entscheidung zu treffen...  Ich sagte ihnen, sie sollten es unter sich ausmachen."

1943, nach knapp acht Jahren - Dora ist nun 36 Jahre alt - bricht das fragile Konstrukt ihrer Beziehung zusammen. Picasso verliebt sich in Françoise Gilot und überstrapaziert damit die Leidensfähigkeit seiner anderen Frauen. Dora wird einmal im verwirrtem Zustand in der Stadt aufgegriffen, ein anderes Mal nackt in ihrem Treppenhaus. Nach einem Anfall in einem Kino kommt sie kurzzeitig in eine private psychiatrische Klinik. Dort wird sie mit Elektroschocks behandelt.

Links Jacques Lacan, rechts Ménerbes

1944 nimmt sie durch die Vermittlung von Paul Éluard Jacques Lacan in Behandlung, der sie nach ihrem letzten Nervenzusammenbruch jahrelang analysieren wird. Ihr mentaler Gesundheitszustand verbessert sich tatsächlich. 

Für die Sitzungen zahlt Picasso. Er erwirbt für sie auch als Abschiedsgabe ein Haus in Ménerbes, einem im Vaucluse gelegenen, damals recht heruntergekommenen Dorfes an der Nordseite des Luberon- Gebirges.

Nach dem Zweiten Weltkrieg teilt Dora ihre Zeit zwischen Paris und Südfrankreich auf. Während dieser Phase erkundet sie noch verschiedene Themen und Stile, bevor sie sich auf gestische, abstrakte Gemälde der Landschaft rund um ihr Zuhause konzentriert. Obwohl diese Werke bis in die 1950er Jahre in London und Paris mit großem Erfolg ausgestellt werden, zieht sie sich aus Künstlerkreisen weitgehend zurück. Einzig mit dem Maler Nicolas de Staël, der Anfang der 1950er Jahre ebenfalls in Ménerbes lebt, pflegt sie Kontakt. Nach und nach verwandelt sich ihre ohnehin launische, extravagante Persönlichkeit in ein misanthropisches, schwieriges Wesen.

Mit Jacqueline (links) & Huguette Lamba (rechts) in Ménerbes
(1947)

Wichtiger wird ihr der katholische Geistliche Jean de Monléon, ein Benediktinermönch in Sainte-Marie in Paris, den sie 1952 durch die Duchesse de Luyens kennenlernt, die wie sie in Argentinien, ( allerdings eher als Aschenputtel ) aufgewachsen ist und mit der Dora die gleiche religiöse Inbrunst teilt.

Unter Monléons Einfluss wendet sie sich dem Katholizismus in seiner streng traditionalistischen Form zu. Ja, sie entwickelt im Laufe der Jahre eine geradezu fanatische Bigotterie  und zeigt immer offener antisemitische und homophobe Anschauungen. 

Die Religion mag ihr wohl geholfen haben, sich zu fangen ( und später keinen Suizid zu begehen wie nach seinem Tod die zwei anderen Geliebten des Malers, Marie-Thérèse Walter & Jacqueline Roque ). Dora soll einmal gesagt haben: "Nach Picasso nur Gott." Ihre fast mystischen Erfahrungen finden auch in ihre Malerei Eingang.

Entsprechend ist die zweite Hälfte ihres Lebens von Geheimnissen und Spekulationen umhüllt. "Ich möchte eine Aura des Geheimnisvollen um meine Arbeit schaffen. Die Leute müssen sich danach sehnen, sie zu sehen." Und: "Als Geliebte Picassos bin ich noch immer zu berühmt, um als Malerin akzeptiert zu werden." Das sagt sie selbst ihrem Freund James Lord, dem homosexuellen Amerikaner, den sie aus der Zeit mit Picasso kennt, und der es in seinen Memoiren "Picasso und Dora" notiert. Irving Penns Fotoporträt von ihr von 1948 zeigt eine solche Frau. 

In ihrem Haus in Ménerbes isoliert sie sich immer mehr, bewegt sich nur in der herrlichen Landschaft um sie herum mit ihrem Moped.

1958 entscheidet sie sich, von den allermeisten ihrer Freunde aus den Pariser wie provençalischen Kreisen loszusagen und selbst nicht mehr mit ihnen zu telefonieren, auch von James Lord und den anderen homosexuellen Männern, mit denen sie bislang gute Beziehungen gepflegt hat. Gegenüber Marcel Fleiss wird sie später schlecht über sie reden. Eine Ausnahme macht sie bei Heinz Berggruen und bei dem zwanzig Jahre jüngeren Lyriker André du Bouchet. Der wird sie auch nach dem Tod Picassos 1973 aufsuchen. Mit ihm führt sie lange Gespräche über das Leben, Gott und die Malerei, und er wird ihr die schönsten Briefe schreiben, die in ihrem Nachlass zu finden sein werden.

Rue de Savoie
In den 1950er-Jahren soll Dora viele ihrer Arbeiten zerstört haben, stellt aber 1957 mit Unterstützung des legendären Sammlers & Kunsthändlers Heinz Berggruen in Paris ihre Landschaftsbilder aus. Weitere Ausstellungen folgen, die letzte zu ihren Lebzeiten 1990, geplant vom jungen Galeristen Marcel Fleiss. 

Zur Vernissage kommt Dora nicht, will sie ein Aufeinandertreffen mit einstigen Weggenossen vermeiden.  Sie sieht sich die Ausstellung später ganz alleine an. Fleiss kauft Dora auch etwa 200 Fotografien ab, die dieser später dem Centre Pompidou vermachen wird. Gelingen tut ihm das nur, weil er verleugnet, dass er Jude ist. Dora hätte sich sonst verweigert.

In den 1980er Jahren ist die Künstlerin tatsächlich zur Fotografie zurückgekehrt. Allerdings ist sie nicht mehr daran interessiert, das Leben auf der Straße zu fotografieren. Stattdessen schafft sie in ihrer Dunkelkammer Hunderte von Fotogrammen, die erst nach ihrem Tod entdeckt werden.

Nach einem Sturz 1994 mit anschließendem Krankenhausaufenthalt kommt sie bettlägerig in ihre Pariser Wohnung zurück. Sie sucht nur noch nach Gott, dessen verkündetem Wort sie im Radio lauscht, weil sie zu schwach geworden ist, täglich die Messe zu gehen. Die Telefongespräche, die sie führt, genügen Dora irgendwann als Kontakt zur Außenwelt.  

Picassos ehemalige Geliebte wird zu einem Fall für das Sozialamt. Dort hat niemand die leiseste Ahnung, von welchen Schätzen sie in ihrer arg vernachlässigten Wohnung umgeben ist. ( Marcel Fleiss wird diese zum damaligen Zeitpunkt als "die Höhle eines Landstreichers" beschreiben. )

Im Frühjahr 1997 bietet sie Heinz Berggruen einen kleinen Picasso aus ihrem Besitz an. Sie braucht dringend Geld, um offene Rechnungen begleichen zu können. Die Summe, die der Sammler ihr bietet, hätte gereicht, nicht nur die aktuellen zu begleichen, sondern darüberhinaus sämtliche Rechnungen der nächsten Jahrzehnte. 

Aber am 16. Juli 1997, wenige Wochen nach Berggruens Besuch, stirbt Dora Maar mit 89 Jahren in ihrer Wohnung in der Rue de Savoie 6 auf der Rive gauche. Die letzte Ruhe findet sie unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit. Nur Marcel Fleiss, Werner Spies, der damalige Direktor des Centre Pompidou, und fünf weitere Personen  wohnen der Beisetzung auf dem Friedhof Bois-Tardieu in Clamart in der Île-de-France, bei, wo sich das Grab ihrer Eltern & Großeltern befindet. 

Ein Nachruf in  "Le Monde" erscheint erst zehn Tage später. 

Die "New York Times" sieht in ihrem Nekrolog in Dora Maar allein "eine Muse Picassos" und das "wichtigste Modell für viele seiner sogenannten Porträts weinender Frauen in den späten 30ern und frühen 40ern". "The Independent" räumt zwar ein, dass Dora eine eigenständige Künstlerin gewesen sei, meint dennoch, dass sie "als die ergreifendste von Pablo Picassos Geliebten in Erinnerung bleiben" werde.

Doras Nachlass – Arbeiten von Picasso sowie Fotos und Gemälde aus ihrem eigenen Atelier – soll bei einer Versteigerung 1998 im Hôtel Drouot in Paris rund 213 Millionen Mark eingebracht haben. Aufgeteilt wird die Summe zwischen dem französischen Staat, Experten, Auktionaren, Erbenermittlern und zwei entfernten weiblichen Verwandten in Frankreich & Kroatien, die Dora nie kennengelernt haben. 

Später noch entdeckt man ein Konvolut von Fotografien/Kontaktabzügen mit dazugehörigen Negativen aus ungenannter Quelle. Es sind ausgerechnet Aufnahmen aus der Zeit, in der sie angeblich ihre Rolleiflex und die Dunkelkammer aus ihrem Leben verbannt hat - auch diese Legende muss also überdacht werden. Sie hat allerdings wohl nie eine Veröffentlichung derselben geplant.

2019 widmet ihr das Centre Pompidou, welches ja einen Großteil ihrer fotografischen Produktion besitzt, eine große Retrospektive und enthüllt der breiten Öffentlichkeit Doras vielfältige Talente. Anschließend wandert die 300 Objekte umfassende Ausstellung mit Fotografien, Fotomontagen, Werbemodellen, Selbstporträts, Aquarellen, Landschaften und Stillleben in Öl an die Tate Modern in London und danach zum J. Paul Getty Museum in Los Angeles. Im Februar 2020 zeigt die Frankfurter Schirn in der großen Über­blicks­aus­stel­lung "Fantas­ti­sche Frauen" auch Werke von Dora Maar. 

"Es fühlt sich an, als würde ein Vorhang zurückgezogen", schreibt Andrew Dickson in "The Guardian". Während ihre Verbindung mit Picasso zweifelsohne sowohl ihrem Leben als auch ihrer Kunst einen Stempel aufgedrückt hat, erstrahlt Dora Maars eigenes kreatives Genie inzwischen heller und auch weit genug jenseits des Schattens des großen Meisters.





Wie schon letzten Donnerstag geschrieben, werde ich ab jetzt unter jedem Frauenpost am Donnerstag an die Frauen erinnern, die in der betreffenden Woche geboren bzw. gestorben sind und über die ich schon geschrieben habe. Heute sind das...



7 Kommentare:

  1. bin sehr in mir zerstritten was ich von dieser Künstlerin empfinde wenn ich ihrem Werdegang folge der mir so unruhig gelebt erscheint.
    Nicht unbedingt sympathisch - auch nicht außergewöhnlich schön/interessant im Typ lt. den Bildern ihrer äußeren Erscheinung ist mir ihr künstlerischer Erfolg, und womit sie überhaupt ihr Leben finanzierte nicht ganz klar geworden. Zweifelsohne ist ihre starke Verbindung zu Picasso ein Meilenstein im Leben gewesen und hat sie mitgeprägt..
    mit Sicherheit kein sehr einfacher Typ Frau, eher kapriziös und schwierig nachvollziehbar ihr Leben in der Zeit in der sie es erlebte..
    noch bin ich hin und her gerissen, ich denke ich werde die Biographie noch einmal nachlesen.
    Aber hochinteressant welch Frauentypen es doch gab und noch gibt...wenn man sie in der Öffentlichkeit erblickt und dann in ihr Privatleben schaut..

    hab Dank für deine tolle Recherche...
    herzlichst angel

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  2. Picassos Beziehungen zu Frauen, das ist ein toxisches Kapitel. Wie von allem Gift macht es die Dosis, ob es z.B. anregend, heilsam, zerstörend oder tödlich ist.
    Dora Maar brauchte und suchte es, aber die Wirkung war nachhaltend ungut verändernd. Das ist sehr schade, denn als Fotografin hätte sie einmalig sein können, so wurde sie nur eine kopierende Picasso-Geliebte, der dies das weitere Leben lang nachhing.
    Picasso hätte auch keine einmalige Fotografin neben sich ertragen. "Nach Picasso nur Gott"? Und neben Picasso???
    Wieder ist es der rigide Katholizismus, der helfen soll. Das finde ich schon spannend, denn so habe ich es bisher selten gesehen.
    Ein eindrückliches Portrait ist Dir heute wieder gelungen, liebe Astrid. Danke.
    Herzlichst,
    Sieglinde


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  3. Man muss sich in die Zeit zurück versetzen und ich denke , das war eine andere als heute.
    Die heutigen Frauen/ Mütter sind digital vernetzt und sind vielseitig beschäftigt.
    Meine Großeltern mussten auf dem Hof hart arbeiten um die Familie zu ernähren. Heute gehen wir In den Hofladen und kaufen dort ein.
    Ich fand deinen Bericht sehr interessant liebe Astrid.
    Ganz liebe Grüße zu dir
    Christine

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  4. Für mich erscheint die Begegnung mit Picasso wie eine tragische Wendung in einem spannenden, künstlerischen Leben.
    Gut, dass man heute ihr Werk mit anderen, offeneren Augen betrachten kann.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  5. Liebe Astrid,

    was für ein schwieriges Leben. Das liest sich schon fürchterlich, wie mag das eigene Erleben für sie gewesen sein?

    An Picassos Seite, sie hätte wohl eher jemanden gebraucht, der ihr Halt gibt und nicht noch weiter ihre Zerrissenheit verstärkt.

    Auch ihre Fotografien wirken auf mich mitunter erschreckend.
    Ein eindrucksvolles und für mich irgendwie gruseliges Porträt ist dir gelungen, liebe Astrid.

    Viele Grüße,
    Claudia

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  6. Wer neben P. Picasso bestehen wollte, erst Recht als Künstler*in, musste aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sein.
    Liebe Grüße
    Nina

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  7. ihre malereien kenne ich gar nicht, aber ihre fotos sind äußerst beeindruckend. die hand aus der muschel kommend ist einfach genial.
    liebe grüße von mano

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Es wäre schön, wenn ein Name am Ende des Kommentars stehen würde.

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