Theodor Storm
Ein grünes Blatt
Ein Blatt aus sommerlichen Tagen,Ich nahm es so im Wandern mit,Auf daß es einst mir möge sagen,Wie laut die Nachtigall geschlagen,Wie grün der Wald, den ich durchschritt
(1850)
Den Titel „Ein grünes Blatt“ hat Theodor Storm (1817–1888) in unterschiedlichsten Kontexten verwendet: Einmal für eine Novelle von 1854 und dann für zwei Gedichte...
Das Blatt als Naturphänomen und gleichzeitig Erinnerungsträger - kein Wunder, dass es mich angesprochen hat, besteht mein derzeitiges Leben doch zu einem erheblichen Teil aus Erinnerung, dem "Eingedenken an einen glücklicheren Zustand", und das ( seltsamerweise? ) gerade im Frühsommer, schmerzlicher denn im vergangenen Winter. Vielleicht auch, weil ich weiß, dass auch dieses grüne Blatt seine Farbe verlieren und letztendlich zerbröseln wird. Trost und neuer Schmerz in einem sind mir diese Verse jenes Dichters des poetischen Realismus aus der "grauen Stadt am Meer".
Ich gehöre einer Generation an, die in ihrer Schulzeit nicht nur mit der Lyrik des Hans Theodor Woldsen Storm, geboren in Husum im damaligen Herzogtum Schleswig, Jurist im Hauptberuf, Bekanntschaft gemacht hat, sondern auch mit seinen Novellen. Gelesen haben wir damals in der Schule zuerst "Pole Poppenspäler" von 1874, dann das Kunstmärchen "Die Regentrude" (1864) und schließlich den "Schimmelreiter" (1888) , seine letzte und berühmteste Novelle.
Eine Verfilmung der "Regentrude" habe ich bei einem meiner letzten Münchner Besuche mit den Enkelinnen angeschaut und mich gewundert, welche Bezüge zu unseren heutigen Problemen bestehen, u.a. was den Umgang & die Haltung zur Natur betrifft, die ja so pervertiert ist, dass wir sehenden Auges in eine Klimakatastrophe gehen. Auch die Missachtung der Frauen, die Dominanz des Männlichen ist ja nun wirklich nicht überholt, wie aktuelle Manifestationen mal wieder beweisen. Schulkinder rezitieren immer noch gerne den "Knecht Ruprecht" auf weihnachtlichen Feiern. Und "Der kleine Häwelmann" hält sich auch zu Beginn dieses Jahrtausends unter den fünfzig besten Bilderbüchern.
Der "Pole Poppenspäler" kam nicht grundlos in der Nachkriegszeit besonders gut an und wurde dem literarischen Kanon in den Schulen zugeschlagen. "Nach dem Krieg suchte man in der deutschen Literatur nach Geschichten, die human und ungefährlich waren", äußert sich ein pensionierter Deutschlehrer in einem Beitrag des WDR. Die Botschaft der Novelle - "mit Liebe und Zuneigung wird Integration gelingen" - hat, wie ich feststellen muss, auch mich bis auf meine alten Tage geprägt. Aber meine Favoriten sind die Stormschen Gedichte, die oft eine ganze eigene Musikalität aufweisen.