Donnerstag, 20. Juli 2023

Great Women #344: Judy Chicago

Auf die Frau, die ich euch heute nahe bringen will, bin ich durch eines ihrer Werke aufmerksam geworden, mit dem sie die Geschichte der Frauen in der westlichen Zivilisation anhand einzelner bedeutender Frauen veranschaulicht hat. Auf einer dreieckigen Tafel hatte sie für jede dieser Frauen ein passendes Gedeck gestaltet. "The Dinner Party"war für mich ein Aha-Erlebnis in den späten 1980er Jahren, als das Werk endlich auch in Europa gezeigt wurde. Die Rede ist heute von Judy Chicago.
CC BY-SA 4.0


"I am trying to make art 
that relates to the deepest and most mythic concerns of human kind
 and I believe that, at this moment of history, 
feminism is humanism."

Judy Chicago erblickt am 20. Juli 1939 - heute vor 84 Jahren - als Judith Sylvia Cohen in Chicago/ Illinois das Licht der Welt. Sie wird in eine Familie mit jüdisch-russischen Wurzeln hineingeboren. Ihr Vater Arthur kann auf 23 Generationen von Rabbinern zurückblicken, an deren Beginn der litauische Gaon von Wilna gestanden hat und der der bedeutendste Führer des askenasischen Judentums der letzten Jahrhunderte gewesen ist. Arthur ist aus dieser Tradition ausgebrochen, arbeitet nachts auf einem Postamt, um seine Tochter tagsüber betreuen zu können, ist Mitglied der Kommunistischen Partei der USA und Gewerkschaftsaktivist. Judys Mutter May, eine ehemalige Tänzerin, ist als medizinische Sekretärin tätig.

Während der McCarthy- Ära wird gegen Arthur Cohen ermittelt, was seine beruflichen Möglichkeiten mehr als erschwert und bis zum kompletten Rausschmiss führt, was für die Familie äußerst belastend ist. 1945 ist Judy einmal in die Fänge eines FBI-Agenten geraten, der zu Hause auftaucht, als sie alleine mit ihrem jüngeren Bruder Ben ist. Er horcht sie aus zum Vater und seinen Freunden, bis die heimgekehrte Mutter das unterbinden kann. 1953 stirbt der Vater an einer Bauchfellentzündung. Fünf Tage später wird Judy 14 Jahre alt. Die Mutter spricht mit ihren Kindern nicht  über seinen Tod und erlaubt auch nicht, an der Beerdigung teilzunehmen.

Das Mädchen ist geprägt von des Vaters liberalen Vorstellungen gegenüber Frauen und seinem Einsatz für Arbeitnehmerrechte. Die Mutter wiederum, die sich für die Künste begeistert, fördert das für die Kunst begabte Mädchen. Beide Eltern unterstützen Judy in ihren selbst gewählten Interessen und bestätigen sie in ihrer Ansicht, dass Kunst die Welt verändern könne. Schon mit fünf Jahren äußert sich Judy dahingehend, dass sie "niemals etwas anderes tun wollte, als Kunst zu machen" und besucht Kurse am "Art Institute of Chicago". Ab ihrem achten Lebensjahr wird sie wöchentlich am schulfreien Samstag von Emmanuel Jacobson, einem bekannten Muralisten, unterrichtet, zehn Jahre insgesamt.

1957 beginnt sie das Studium der Kunst und Geisteswissenschaften, gefördert durch ein Stipendium, am College of Applied Arts der UCLA. Obwohl sie in ihrer Familie zu einer selbstbewussten Frau herangewachsen ist, versucht Judy wie die Jungen in ihrer Studiengruppe zu sein: Sie fängt an, Stiefel zu tragen, Zigarretten zu rauchen und deren Werke nachzuahmen. Sie geht also zunächst den Weg der Anpassung: "Ich kämpfte darum, alles in meiner Arbeit zu tarnen, was mich als Frau entlarven konnte.

Ihre Erfahrung wie die so vieler Künstlerinnen jener Tage: Frauen werden weder in den männlich dominierten Künstlergruppen noch in der Kunstszene ernst genommen, nach männlichen Kriterien beurteilt und ausgestellt. Auch in der Kunstgeschichte, wie sie zu jener Zeit gelehrt wird, kommen die Frauen kaum vor. 

Im Juni 1959 lernt sie den vier Jahre älteren Gerald "Jerry" Gerowitz kennen, ein rebellischer Freigeist, verlässt die UCLA, um bei ihm einzuziehen, weil sie dort zum ersten Mal ein eigenes Atelier haben kann, und trampt dann mit ihm nach New York. Das Paar lebt eine Zeit lang in Greenwich Village, bevor es 1961 heiratet und nach Los Angeles zurückkehrt, damit Judy ihr Studium abschließen kann. 1962 legt sie den Bachelor of Fine Arts ab und wird Mitglied der Phi Beta Kappa Society, einer studentischen Vereinigung in den USA, die als Auszeichnung für Studierende aufgrund ihrer exzellenten Leistungen im Grundstudium betrachtet wird. Die stürmische Beziehung zu Jerry Gerowitz endet, als der 1963 bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Die knapp 24jährige gerät in eine  Identitätskrise. 

Dennoch schafft sie 1964, ihren Master of Fine Arts an der UCLA zu erwerben. Wie schon beim Tod ihres Vaters erlebt sie das künstlerische Schaffen als großen Trost. Im Graduiertenstudium malt sie eine Serie, in der die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane leicht zu erkennen sind. Diese frühen Werke nennt sie "Bigamy" und sie sind eine Reaktion auf den Tod ihres Mannes. Ihre überwiegend männlichen Lehrer sind entsetzt. Judy hat dafür den Umgang mit einer Spritzpistole gelernt und malt damit gestochen scharfe, grafische Symbole auf Motorhauben von Autos, die Sex, Fruchtbarkeit und Geburt suggerieren. Noch hat die Verwendung von Sexualorganen in ihrer Arbeit für Judy aber nichts mit dem Thema Geschlechtsidentität oder Feminismus zu tun.

1966
Sie fertigt schließlich minimalistische Skulpturen an, in der Hoffnung, in der männerdominierten Kunstwelt Akzeptanz zu finden. 1966 erhält sie ihre erste Solo-Ausstellung in der Rolf Nelson Galerie, wo sie sich auf geometrische Formen und Farben beschränkt. Ihr Beitrag als Newcomerin in der Kunst besteht darin, dass sie Regenbogenfarben in die düstere Arena der minimalistischen Kunst einbringt.

1965 ist auch wieder ein Mann in ihr Leben getreten, der minimalistische Bildhauer Lloyd Hamrol ( von dem sie sich 1979 wieder scheiden lassen wird ).

Judy muss sich allmählich eingestehen, dass sie in ihrer Kunst nicht länger so tun kann, "als hätte es in meinem Leben keinen Sinn, eine Frau zu sein". Sie beginnt sich zu radikalisieren durch die ständige Erfahrung, nicht ernst genommen zu werden. So kehrt ihr ein finanziell potenter Besucher in ihrem Atelier postwendend den Rücken zu, als es ihr Ehemann Lloyd betritt, und unterhält sich nur noch mit ihm, ohne Judys Skulptur noch eines Blickes zu würdigen.

"Why Have There Been No Great Women Artists?", fragt sich damals auch die amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin provokant in einem Essay, das heute als Auftakt zur feministischen Kunstbetrachtung gilt. Auf einer Reise durch europäische Museen entdeckt Judy, dass es schon vor Jahrhunderten einzelne Frauen in der Kunst gegeben hat, die sich trotz aller Einschränkungen durchsetzen konnten.

1970 will sie ihren Spitznamen "Judy Chicago" legalisieren. Mit Entsetzen muss sie feststellen, dass sie dazu die Unterschrift ihres Ehemannes braucht. Als es ihr schließlich gelingt, feiert sie das mit entsprechenden Aktionen: So posiert sie als Boxerin in einem Boxring, gekleidet in ein Sweatshirt mit ihrem neuen Nachnamen. Für Einzelausstellung 1970 an der California State University in Fullerton entwirft sie eine Einladung mit dem Text: "Judy Gerowitz präsentiert sich ohne alle Namen, die ihr durch männliche soziale Dominanz auferlegt wurden und wählt ihren eigenen Namen, Judy Chicago." 

1970 ist auch das Jahr, in dem Judy hauptberuflich am "Fresno State College" in der Stadt Fresno am Fuße der Sierra Nevada zu unterrichten beginnt, nun beseelt von der Hoffnung, Frauen die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie benötigen, um die weibliche Perspektive in ihrer Arbeit zum Ausdruck zu bringen. Sie plant eine Klasse, die nur aus Frauen besteht und außerhalb des Campus unterrichtet werden soll, um sich "der Präsenz und damit den Erwartungen der Männer zu entziehen." Im Frühjahr startet sie ihr "Feminist Art Program" mit fünfzehn Frauen, die in einem eigens angemieteten renovierungsbedürftigen Haus in Fresno - jede Teilnehmerin zahlt monatlich 25$ - gemeinsam an ihrer Kunst arbeiten, Lesezirkel veranstalten und Diskussionsrunden über ihre Lebenserfahrungen organisieren. 

Katalog,
gestaltet von Sheila de Bretteville
Mit Miriam Schapiro zieht sie dann weiter mit diesem Programm zum privaten "California Institute of the Arts" in Santa Clarita in Kalifornien. Die Studierenden dort entwickeln in einer Workshop-Atmosphäre ihre eigenen Arbeiten, über die sie die Kontrolle und das Urheberrecht behalten. "Womanhouse" heißt  das erste gemeinsame feministische Projekt in einem 17-räumigen verlassenen Haus, das verschiedene Installationen, Parodien und Verfremdungselemente bezüglich der Hausarbeit von Frauen zum Thema hat. Judy's Beitrag ist der "Menstruation Bathroom". 

Das "Womanhouse" zieht während seiner monatelangen Öffnungszeit zehntausende von Besuchern an und erlangt eine gewaltige Publizität in den Medien, denn plötzlich wird das Private hier öffentlich zur Schau gestellt. 

"Menstruation Bathroom"

1973 zieht Judy dann schon wieder weiter, während Miriam Shapiro bleiben will. Mit der Kunsthistorikerin Arlene Raven und der Grafikerin Sheila de Bretteville zusammen eröffnet Judy das kulturelle Zentrum "Feminist Studio Workshop and Woman’s Building" in Los Angeles.

Ein Jahr später fängt sie mit Arbeit an dem Werk an, mit dem ihr Name heute geradezu synonym ist: "The Dinner Party". Zunehmend verärgert über das Ausblenden der Frauen in der Menschheitsgeschichte, recherchiert sie und fördert schließlich eine Vielzahl wirkmächtiger Frauen ans Licht, die die Historiker einfach unter den Tisch haben fallen lassen. Judy beschließt, eine Reihe dieser Frauen in einem monumentalen, dreidimensionalen Werk zu ehren.

1975 ermutigt sie die Schriftstellerin Anaïs Nin, über ihre Erfahrungen als Künstlerin zu schreiben. Das  Ergebnis ist "Through the Flower: My Struggle As a Woman Artist". Es sei schmerzhaft, es heute noch einmal zu lesen, wird Judy im Alter dazu sagen: "Es gibt sehr anschauliche Beschreibungen des Unterschieds zwischen dem, wie ich mich in meinem Studio als ermächtigter Mensch fühlte, und dem, wie ich mich fühlte, wenn ich mein Studio verließ und mich vollständig durch die Linse "Geschlecht" betrachtete."

CC BY-NC 2.0
Unterdessen recherchieren, nähen, malen und montieren hunderte freiwillige Unterstützer für "The Dinner Party", um Frauen wie z. B. die jüdische Bibel-Heldin Judith, die ägyptische Hatschepsut, die Barockkünstlerin Artemisia Gentileschi oder die Amerikanerin Georgia O’Keeffe ( siehe dieser Post ) wieder in die kulturelle Erinnerung zurückzuholen. 

Am Ende bringt die "Dinner Party" symbolisch neununddreißig gerne übersehene Frauen an eine dreieckige Abendmahltafel, für jede ein personalisiertes Gedeck, zu denen bestickte Läufer und Keramikteller im Schmetterlingsdesign oder Vulvaform gehören. Jedes Gedeck soll so den kulturellen Beitrag seiner Protagonistin veranschaulichen. Jede der drei Tafelseiten wiederum ist einer bestimmten historischen Zeit zugeordnet, beginnend bei den Urgöttinnen & der griechisch-römischen Kultur über die Christianisierung bis zur Reformation und abschließend dem 17. Jahrhundert bis zur Moderne. In Anerkennung der Tatsache, dass viele Frauen nicht berücksichtigt werden können, es aber nach Judys Ansicht verdient hätten, finden sich 999 weitere Namen in den Fußboden eingraviert. ( Eine Liste der 39 Frauen ist bei Wikipedia zu finden. )

CC BY-NC 2.0
Die erste Ausstellung in San Francisco, am 14. März 1979 eröffnet, löst in manchen Besucher*innen einen Schock aus:
 
Die aus unterschiedlichen Materialien gefertigten Tischsets wie die individuellen Teller erinnern an Blumen, Schmetterlinge und spielen mit poetischen Abbildungen der Vulva. 

Auch Museen stören sich daran, und Hilton Kramer, damals Chef-Kunstkritiker der New York Times, nennt das Werk "Kitsch" und "sehr schlechte Kunst ... verstrickt in den Frömmigkeiten einer politischen Sache." Eine Gegenreaktion bleibt also nicht aus.

"... es ist ein unverschämt erotisches Werk: labial, tropfend, fleischlich", wird hingegen die britische Kunstkritikerin Hettie Judah, Jahrzehnte später urteilen.

Auf jeden Fall strömen Hunderttausende in den Staaten in die Ausstellung. Anschließend tourt das Werk durch Europa und zieht noch einmal eine Million Betrachter an – quasi das erste feministische Kunstwerk. 

Der Widerspruch zwischen Bewunderung durch die Betrachter und der kritischen Ablehnung durch das Fachpublikum ist heute kaum vorstellbar. Es ist ein Werk von starker Symbolik und detailliertem Wissen, von kunstvoller Keramik und Handarbeit, das auch an das traditionelle Schaffen von Amateur*innen auf diesem Gebiet erinnert, ein Gemeinschaftsprojekt, das die Verwirklichung der kompromisslos großen Vision einer Frau darstellt und sowohl zu Ehrfurcht, aber auch Identifikation einlädt. Auf jeden Fall sorgt es für Aufsehen. Aber das ist nur der Anfang von Judys turbulentem Leben.

CC BY-NC 2.0
Judy Chicago gehört nach "The Dinner Party" unbestritten zu den Pionierinnen feministischer Kunst, für die Künstlertum nicht zu trennen ist vom biologischen Geschlecht. Für die Frauenbewegung wird das umstrittene Werk zum Symbol ( und für mich DIE Anregung, auch nach Frauen in der Geschichte zu forschen ). 

Judy selbst wird aber mit Drohungen und hasserfüllten Kommentaren überzogen und entwickelt sogar Suizidgedanken. Die Nicht-Anerkennung in der Kunstwelt schmerzt. Außerdem hat sie jetzt 30 000 Dollar Schulden. 

Sie sucht Zuflucht in einer Landgemeinde, und Freunde & Bekannte übernehmen für sie solche Aufgaben wie das Öffnen ihrer Post. Später wird sie sagen, dieses Werk habe ihre Karriere beinahe zerstört und sie habe alles verloren: ihr Atelier, ihre Ehe und ihre finanzielle Sicherheit.
"If I go forward now it's because of a network of support that's being built that will allow me to go forward. My destiny as an artist is totally tied up with my destiny as a member of the female sex. And as we as women move forward, I move forward. That's something that's very, very hard to accept because, it's like, I could not do it all the way either; but I've come a long way, I know I've come a long way. And that means that other women can come that far, and farther."
Andere Projekte folgen: Am "Birth Project" (1980-85) nehmen 150 Näherinnen aus den USA, Kanada und Neuseeland teil und unterstützen es mit ihrer Arbeit an hundert Tafeln durch Quilten, Makrameeknüpfereien, Sticken und andere Techniken. Aufgrund der Größe des Werkes wird es selten vollständig ausgestellt. Die meisten Teile befinden sich in der Sammlung des Albuquerque Museums.

Judy Chicago selbst will keine Kinder bekommen. Obwohl sie die Frauen schätzt, die diesen Weg gehen, hält sie ihn für sich selbst wie viele Künstlerinnen, über die ich an dieser Stelle schon berichtet habe, nicht für möglich: "Ich hätte auf keinen Fall auf dieser Welt Kinder bekommen und die Karriere machen können, die ich hatte", äußert sie sich im Alter.

Judy Chicago : The Creation
Wandteppich in modifizierter Aubusson-Technik, gewebt von Audrey Cowan
© National Museum of Women in the Arts 



Bilder der Geburt sind etwas äußerst Seltenes in der Kunst, Judy findet aber, dass "die gebärende Frau Teil des Beginns der Schöpfung" sei. Das ist ihre Motivation. 

Das Projekt "Power Play" überschneidet sich zeitlich mit dem "Birth Project": Nachdem Judy in Italien die Werke von Renaissance-Künstlern gesehen hat, die in ihrer Monumentalität, Männlichkeit & Nacktheit die westliche Kunsttradition repräsentieren wie sonst keine zweite, setzt sie sich ab 1982 mit dieser Tradition in großformatigen Ölgemälden auseinander. 
"Es schien, als ob alles – Liebe, Angst, Sehnsucht, Abscheu, Verlangen und Schrecken – von Künstlern und Künstlerinnen auf die Frau projiziert wurde, wenn auch mit oft unterschiedlichen Perspektiven. Ich fragte mich, welche Gefühle der männliche Körper zum Ausdruck bringen könnte. Außerdem wollte ich verstehen, warum Männer so gewalttätig handelten."
1986
© Donald Woodman/
Artists Rights Society (ARS), NY
Judy's neuer Partner Donald Woodman, ein Fotograf, posiert für das Stück "Woe/Man" ( Abbildung 14 ff ). Bei ihrer Darstellung männlicher Körper ersetzt sie den traditionellen männlichen Blick durch einen weiblichen. 

Mitte der 1980er Jahre verlagert sich Judys Interesse weg von den Fragen weiblicher Identität über die Erforschung männlicher Macht und Ohnmacht hin zum Holocaust, was sich in einem neuen Projekt niederschlägt: "From Darkness into Light" (1985–93) ist eine Zusammenarbeit mit Donald Woodman, den Judy am Silvesterabend 1985 heiratet. 

Obwohl ihre früheren Ehemänner ebenfalls jüdisch gewesen sind, beginnt sie erst, nachdem sie Woodman getroffen hat, ihr eigenes jüdisches Erbe einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Sie besucht zunächst den Dichter Harvey Mudd, der ein episches Gedicht über den Holocaust geschrieben hat, welches sie zunächst zu illustrieren gedenkt. Dann entscheidet sie sich, ein eigenes Werk zu schaffen und ihre eigene visuellen und literarischen Möglichkeiten einzusetzen. Zusammen mit ihrem Mann arbeitet sie acht Jahre daran, Jahre, die auch gekennzeichnet sind durch persönliche Verluste: Ihr Bruder Ben stirbt an ALS, ihre Mutter an Krebs. Judy lässt sich damals in New Mexico nieder.

Logo des Holocaust- Projektes
© Judy Chicago
Der Holocaust dient ihr als Lupe, um die Viktimisierung, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und menschliche Grausamkeit genauer zu betrachten. Sie sieht sich den Dokumentarfilm "Shoah" von Claude Lanzmann ( siehe auch dieser Post ) an, der Interviews mit Holocaust-Überlebenden in Nazi-Konzentrationslagern und anderen Holocaust-Stätten enthält. Sie besucht Foto- und andere Archive. Mehrere Monate verbringt sie damit, Konzentrationslager zu besuchen, aber auch Israel, und bezieht schließlich auch andere Aspekte wie Umweltschutz, Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern und den Vietnamkrieg in ihre Untersuchungen mit ein, was nicht immer in der jüdischen community gutgeheißen wird. Außerdem gilt: Wenn Judy Chicago etwas an ihre Betrachter übermitteln will, dann kann das schon mal offensichtlich beleidigend sein...

Judy Chicago: The Fall

Zusammenarbeit ist ein wichtiger Aspekt bei allen Installationen Judy's. Auch das Holocaust-Projekt ist ein gemeinsamer Prozess zwischen der Künstlerin und hunderten freiwilliger Teilnehmer. Die Fähigkeiten der ehrenamtlichen Kunsthandwerker sind von unterschiedlicher Qualität und beziehen sich oft auf stereotype Frauenkünste, etwa die Textilkunst. Judy bemüht sich, diese Arbeiten anzuerkennen, eine Aufgabe, an der andere Künstler öfter gescheitert sind. 

Am Ende umfasst dieses Projekt bei der Erstausstellung 1993 in Chicago sechzehn großformatige Werke unterschiedlicher Medien wie Wandteppiche, Glasmalerei, Metallarbeiten, Holzarbeiten, Fotografie, Malerei und die Näharbeiten von Audrey Cowan, die über 30 Jahre mit Judy zusammenarbeitet. Die Ausstellung endet mit einem Werk, das ein jüdisches Paar am Sabbat zeigt. Aufbewahrt werden Teile des Projekts heute im Holocaust Center in Pittsburgh, Pennsylvania.

Auch in den nächsten sechs Jahren bleibt Judy dem Thema treu und schafft Werke, die sich mit dem Erleben von KZ-Opfern befassen.

Im Jahr 2001 - Judy ist jetzt 62 Jahre alt - geht sie ihr letztes Gruppenprojekt "Resolutions: A Stitch in Time" an, eine Reihe gemalter und handgestickter Bilder, die traditionelle Sprichwörter neu interpretieren. Ihr Anliegen dabei: "Bilder einer Welt zu präsentieren, die sich in eine globale Gemeinschaft fürsorglicher Menschen verwandelt hat". Tatsächlich entspricht das dem jüdischen Konzept von Tikkun Olam – der Heilung der Welt – was sie zu ihrer Kunst motiviert. Diese Philosophie steckt wohl auch dahinter, als sie 2002 nach China reist, um an einem fünfmonatigen internationalen Kunstprojekt teilzunehmen. Gemeinsam arbeitet sie und die anderen Teilnehmer*innen daran, sich vorzustellen, wie unser Planet aussehen könnte, "Wenn Frauen die Welt regieren würden."

2002 erwirbt die "Elizabeth A. Sackler Foundation for Feminist Arts" "The Dinner Party". Heute hat das Werk seinen festen Platz im Brooklyn Museum in New York. Dort können die Jüngeren dieses damals so ungewöhnliche, aber kraftvolle feministische Kunstwerk, Ausdruck der Frauenbewegung der 1970er Jahre, kennenlernen."I think it’s incredibly sad that, at this point in America, young women are going to have to fight the same goddamn fight we fought in the 1970s all over again", wird Judy in Betrachtung der heutigen Zeit konstatieren und sie bedauert, dass Frauen nichts mehr davon wissen, welche Kämpfe vor fünfzig Jahren ausgefochten worden sind.

Das Werk ist inzwischen gründlich in die Kunstgeschichte integriert, so dass seine Autorität wie eine Selbstverständlichkeit erscheint, aber Judy sieht sich immer wieder veranlasst, es in Schutz zu nehmen.

2020
2011 kehrt Judy zur Eröffnung der "Concurrents"-Ausstellung im Getty Museum nach Los Angeles zurück und führt auf dem Fußballplatz des Pomona Colleges, einem Ort, an dem sie schon in den 1960er Jahren aufgetreten ist, eine auf Feuerwerk basierende Installation auf.

2020 stellt Maria Grazia Chiuri, Kreativdirektorin von Dior ( siehe auch dieser Post ), in Paris ihre Haute-Couture-Kollektion für den Herbst/Winter 2020 vor, zu der sie sich von Judy Chicago hat inspirieren lassen. 

Eine Modeschau mit dem Titel "Female Divine" findet im Garten des Musée Rodin in einer 1977 von Judy konzipierten 70 Meter langen, aufblasbaren anthropomorphen Installation mit feminin anmutenden Kurven statt. Im Inneren des Raumes kündigt ein glänzendes, 17 x 12 Fuß großes, besticktes Banner das Thema "Was wäre, wenn Frauen die Welt regieren würden?" an. Auf beiden Seiten des Laufstegs stellen zwanzig 10 x 6 Fuß große Banner (zehn auf Englisch, zehn auf Französisch) Fragen wie: "Wäre Gott weiblich?", "Würden alte Frauen wertgeschätzt werden?", "Wäre Elternsein gleichberechtigt?", "Würde es Gewalt geben?".

Die 80-jährige Kunst-Ikone ist wohl von der Kunst-Mode-Begegnung überzeugt, reist sie doch persönlich nach Paris, um bei der Modenschau in der ersten Reihe zu sitzen. Ob Feminismus und die Modewelt zusammenpassen, wird seit Jahrzehnten diskutiert. "Brauchen progressive Ideen den Mainstream, um sich nachhaltig zu verbreiten, oder schluckt die kapitalistisch motivierte Branche jegliche Radikalität?", fragt sich auch die Monopol - Redakteur*in an dieser Stelle. Judy's Fragen sind natürlich nachdenkenswert & berechtigt. Aber ob der showroom dafür der richtige Platz ist, scheint auch mir fraglich.

In der Pandemie-Quarantäne reagiert sie auf das Gefühl der Gefangenschaft mit einer Serie von Drucken mit dem Titel "Confined", die in ihrem Kunstraum "Through the Flower" in Belen, New Mexico, ausgestellt werden. Um diese "Garden Smoke"-Bilder zu machen, stellt sie in ihrem Garten farbige Rauchskulpturen auf, die von Woodman fotografiert und gedruckt werden. ( Die Arbeiten sind teilweise hier zu betrachten. )

Mit Pyrotechnik beschäftigt Judy sich schon seit den 1960er Jahren, und bei ihrer Retrospektive im Jahr darauf im de Young Museum in San Francisco zeigt sie in Kooperation mit ihrem langjährigen Partner von Pyro Spectaculars, Chris Souza, entsprechende Arbeiten.

Die vielseitige Künstlerin pflegt auch pädagogische Ambitionen. Deshalb zum Schluss  noch ein kleiner Exkurs dazu:

Schon 1978 hat sie "Through the Flower", eine gemeinnützige feministische Kunstorganisation gegründet, deren Aufgabe ist, über die Bedeutung von Kunst aufzuklären und darüber, welche Leistungen weibliche Künstler vollbringen. Inzwischen gibt es auch einen Online - Auftritt dieser NGO.

Verärgert über die Schwerpunkte während ihres herkömmlichen Kunststudiums, in dem nur Wert auf die Vermittlung von Technik, visuellen Formen und Farben gelegt worden ist, hat sich ihr pädagogischer Anspruch entwickelt, nämlich Inhalte und soziale Bedeutung der Kunst, insbesondere im Feminismus, in den Mittelpunkt zu stellen. Sie schätzt also Kunst, die auf Forschung, sozialen oder politischen Ansichten und/oder Erfahrungen beruht, höher ein. Wichtig ist dabei für sie auch, dass ihre Schüler*innen erfahren, was Weiblichkeit bedeutetet. Logischerweise spielen "frauenzentrierte Inhalte" wie Menstruation und Geburt eine wichtige Rolle, die sie als Lehrerin als "persönlich-politische" Inhalte im kreativen Tun fördert. In ihren Augen ist "männliche Kunst keine umfassende Wahrnehmung der Realität". 

2018 zählt das "Time Magazine" Judy Chicago zu den hundert einflussreichsten Menschen dieser Welt und schmückt seinen Titel mit ihr. 

Ich möchte euch an dieser Stelle nicht mit der Aufzählung der vielen Auszeichnungen langweilen, die sie bekommen hat - darunter die Aufnahme in die "National Women's Hall of Fame" in Seneca Falls, New York -, sondern abschließend ihr nur noch zu ihrem 84. Geburtstag gratulieren. Mögen der vielfach Talentierten ihre regenbogenbunten Ideen nicht ausgehen und sie sich selbst treu bleiben:
"I'm not career driven. Damien Hirst's dots sold, so he made thousands of dots. I would, like, never do that! It wouldn't even occur to me."





7 Kommentare:

  1. Vielen Dank, Astrid, für Deinen Post über diese beeindruckende und inspirierende Frau. Deine Great Women-Posts machen was mit mir, ich freue mich über jeden einzelnen. Liebe Grüße Laura

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  2. Ganz herzlichen Dank für diesen Post, er hat die Erinnerung an diese wunderbare Ausstellung, die ich damals in Frankfurt sah, wieder geweckt. Ich habe den Katalog hervorgekramt und mich nochmal in die beeindruckenden Bilder vertieft! Liebe Grüße Christine

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  3. Jetzt lese ich schon so lange deine wunderbaren Frauenportraits. Es wird Zeit, dass ich dafür ein herzliches Dankeschön dalasse. Beste Grüße, piri

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    1. Danke, liebe Laura, liebe Christine, liebe Piri, das tut guuuut!
      ❤️lich
      Astrid

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  4. von Helga:

    Liebe Astrid,

    weil es Dir so guuut tut, lassen wir Dir auch gleich ein Dankeschön zukommen, denn mit welcher Inbrunst Du wöchentlich diese Posts über den Teich schickst, ist wirklich aller Ehren wert. Wieder eine wirkliche Great Women, bin zwar auch 1939 geboren, aber weiter als zur Hausfrau und Mutter habe ich es leider nicht gebracht. Ein gutes Herz in der Brust zu haben hat zwar nix mit Talent zu tun, aber es gibt mir ein zufriedenes Gefühl. Helga und Kerstin lassen Dir liebe Grüße da

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  5. Wieder mal eine echt große Frau und Künstlerin und noch dazu eine, die Dich selbst so inspiriert hat zu dieser Great Women Reihe. Das ist besonders toll.
    Sie ist wirklich beeindruckend als Künstlerin, die Frauen Weltgeltung in der Kunst gegeben hat ohne den männlichen Blick. Die letztjährige Biennale in Venedig war - fast - eine Biennale der Frauen. Ohne ihre Vorarbeiten hätte dies wohl so nicht stattgefunden. Und auch dort waren Weltkünstlerinnen anwesend, die mit den Attributen des Alltags Kunst gemacht haben. Mit Gestricktem, Gehäkeltem, mit Textil und Naturmaterialien. Einfach mit dem, was sie in ihrer Umgebung vorfinden. Als Frauen.
    Judy Chicago war eine Türöffnerin und ich hoffe, dass diese Türen nicht wieder zugehen.
    Tolles Portrait, liebe Astrid!
    Herzlichst, Sieglinde

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  6. eine sehr interessante Frau und Künstlerin
    ich kann mir gut vorstellen dass sie dich inspiriert hat..
    sie hatte es zwar nicht ganz so schwer wie viele Frauen vor ihr
    aber trotzdem musste sie kämpfen
    liebe Grüße
    Rosi

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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