Donnerstag, 16. Juni 2022

Great Women #303: Cathérine Dior

Als ich zufällig über die Frühjahrskollektion des Hauses Dior des letzten Jahres gelesen habe,  erfuhr ich, dass die die derzeitige Chefdesignerin Maria Grazia Chiuri diese der Schwester des legendären Modeschöpfers Christian Dior gewidmet und eine Tasche namens "Caro" ihr zu Ehren entwickelt hat. Richtig angebissen habe ich dann, als ich die Lebensgeschichte der Schwester las. Ich war fasziniert und sofort entschlossen, bei passender Gelegenheit in diesem Rahmen etwas über sie zu veröffentlichen. Es geht heute also um Cathérine Dior, deren Familiennamen einen gewissen Glanz verbreitet . 

"Caro" - Tasche


"Aime la vie" - "Liebe das Leben."

Ginette Marie Cathérine Dior kommt am 2. August 1917 im traumhaften Granville im Département Manche in der Normandie zur Welt. Sie ist ein "Nachkömmling", das letzte von fünf Kindern des 45jährigen Düngemittelfabrikanten Alexandre Louis Maurice Dior und der sieben Jahre jüngeren Marie Madeleine Juliette Martin. Sie hat vier Geschwister: Raymond (*1899), der schon kurz nach ihrer Geburt in den Krieg ziehen wird, Christian (*1905,) Jacqueline (*1908) und Bernard (*1910). Christian wird später als Couturier weltberühmt werden.

Von links nach rechts: Cathérine, Bernard, Jaqueline, Christian und Raymond (ca.1920)

Cathérine wächst mit ihren Geschwistern auf in der märchenhaften, rosafarbenen Villa "Les Rhumbs", die die Familie 1905 gekauft hat, umgeben von Obst- und Blumengärten auf einer Klippe gegenüber den Kanalinseln. Mit dem zwölf Jahre älteren Christian verbindet sie eine Art Seelenverwandschaft. Sie teilen die gleiche Leidenschaft für Blumen und Gärten, die sie von ihrer Mutter geerbt haben, aber auch für Musik und Kunst. Die Mutter hat ein großes, an die Villa angrenzendes Stück Land in einen Garten im südlichen Stil verwandelt, ein Labyrinth mit Ligusterhecken angelegt und Schirmkiefern gepflanzt, die ihre empfindlichen Pflanzungen vor dem Wind schützen sollen.

Vor Cathérines Geburt, ab 1910, hat die Familie auch ein Domizil in Paris in der Rue Richard Wagner bewohnt, das sie aber bei Ausbruch des Krieges zugunsten ihres Hauses in Granville wieder verlassen haben. "Les Rhumbs" wird von Madeleine und später auch ihrem Sohn Christian ausgestattet, ebenso wie der Garten. Madeleine gilt als Ästhetin und begabte Blumenarrangeurin. Ihr elegantes Auftreten erscheint manchen aber eher als exaltiert. Nach dem Krieg kehren die Diors nach Paris zurück in eine Wohnung nicht weit entfernt von der, die sie vor dem Krieg bewohnt haben.

Doch die Stützpfeiler des Wohlstandes der Familie bleiben auf Dauer nicht intakt und die goldene Kindheit Cathérines löst sich in Luft auf: 

Raymond, der sich 18jährig freiwillig für den Krieg gemeldet hat, kehrt als einziger Überlebender seines Gefechtszuges heim. Lange leidet er an der crise de tristesse sombre ( in Deutschland Gefechtsneurose geheißen ) und er gerät in eine immer größere Distanz zur Familie, auch wegen seiner Zuwendung zum Kommunismus bzw. subversiven Verschwörungstheorien.

Beim jüngsten Sohn, Bernard, treten 1927 Anzeichen einer psychischen Störung auf, als er durch die Prüfungen in der Schule fällt. Später wird ihm eine Schizophrenie attestiert, und er wird bis an sein Lebensende mit fünfzig im Hospice de Pontorson eingesperrt sein. 

Die Mutter Madeleine leidet sehr unter dieser Entwicklung. Im Frühjahr 1931 muss sie sich zu einer Operation in eine Pariser Klinik begeben, wo sie am 4. Mai mit 51 Jahren an einer Sepsis stirbt. Cathérine ist da dreizehn Jahre alt.

Nur wenige Monate später verliert Maurice Dior sein Vermögen, nachdem er sein ganzes Kapital bei spekulativen Immobiliengeschäften eingesetzt hat. Auch Christian hat mit der Insolvenz seiner Galerie der Avantgarde zu kämpfen, die er im Gefolge des Bankrotts seines Vaters erleidet.

Der minderjährigen Cathérine bleibt keine andere Wahl, als ihren Vater bei seinem Abstieg zu begleiten. Die Villa in Granville fällt an die Gemeinde und der Garten wird 1938 ein öffentlicher Park werden. Maurice zieht 1932 mit der Tochter und deren treuer Gouvernante Marthe Lefebvre auf ein bescheidenes Anwesen - "Les Naÿssès" - in Callian, Département Var, in der Provence, ganz ohne Strom und mit spärlichen sanitären Errungenschaften. Selbst dem Charme der Provence seinerzeit erlegen, auch in einem Haus mit ähnlichem Standard, aber mit dem herrlichsten Grundstück und Landschaft drumherum, kann ich mir dennoch vorstellen, dass das für eine Heranwachsende zu abgeschieden ist, so isoliert vom gesellschaftlichen Leben, und dass sie sich unwohl fühlt. Hätte ich in diesem Alter auch. Aber alles hat seine Zeit.

Bruder Christian nimmt die etwas unglückliche Schwester unter seine Fittiche und holt sie 1936 zu sich ins Hôtel de Bourgogne in der Nähe der Place du Palais Bourbon. Der hat inzwischen nach einem mittellosen & unsteten Leben und von einer Tuberkulose genesen Kontakte zur Modewelt knüpfen können und als freier Modegestalter zu arbeiten begonnen. Cathérine verschafft er einen Job in einem Geschäft, wo sie Hüte & Handschuhe verkauft. Sie scheint ihre Selbständigkeit und das selbst verdiente Geld zu schätzen - aus dieser Zeit stammt das Foto rechts. Es ist eine spektakuläre Epoche für Bruder wie Schwester, die ein Bohème - Leben mit vielen Kontakten und lebhaften Partys führen. 

Doch alles löst sich in Schall & Rauch auf, als am 3. September 1939 Deutschland Frankreich den Krieg erklärt:

Christian wird zum Militärdienst einberufen, und Cathérine bleibt, nachdem sie ihren Job wie viele in der Modebranche verloren hat, nur übrig, zum Vater in die Provence zurückzukehren. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie dort zunächst mit dem Verkauf von Gemüse, das sie in ihrem Garten anbauen. Als die Versorgungslage immer angespannter wird, decken sie damit nur noch ihren Eigenbedarf. Christian, der in der Zwischenzeit zu ihnen gestoßen ist, geht allerdings bald wieder zurück nach Paris, um Arbeit als Zeichner zu suchen. Und Cathérine? Die begegnet in einem Geschäft in Cannes dem Mann, der ihr ganzes Leben verändern wird:

Christian Dior bei der
Arbeit in "Les Naÿssès"
(1940)

Eigentlich will sie im November 1941 nur ein batteriebetriebenes Radio kaufen, damit sie das Kriegsgeschehen sowie verbotene Übertragungen der Reden des Führers der Freien Franzosen, Charles de Gaulle, auf BBC verfolgen kann. Das Geschäft leitet Hervé Papillault de Charbonneries, ein zum damaligen Zeitpunkt 36jähriger verheirateter Familienvater von drei Kindern und ein aktives Mitglied des jungen französischen Widerstands. 

Die Begegnung scheint ein echter cou de foudre gewesen zu sein. Die Dinge entwickeln sich rasch, und am Ende des Jahres teilt Cathérine ihre Zeit auf zwischen Callian und Cannes, wo sie sich eine Wohnung mietet.

Hervé ist Mitglied bei der von Großbritannien gesponserten französisch-polnischen Widerstandsgruppe der Résistance, bekannt als "Famille" , später "F2" genannt, wie übrigens seine Mutter und seine Frau Lucie - eine der größten Widerstandsgruppen in Europa. Es gelingt ihm bald, Cathérine zu überzeugen, sich ihnen anzuschließen. Der kommt ihre Jugend und Schönheit zugute, um Informationen über den Feind zu sammeln. Die deutschen Soldaten lassen unbedacht ein hübsches Mädchen auf ihrem Fahrrad durch die Landschaft radeln, ohne auf die Idee zu kommen, dass sie ihre Truppenbewegungen genauestens registriert & hinter ihrem Rücken fotografiert. Sie zeichnet Karten mit den Details der deutschen Infrastruktur, zu Kriegsschiffen und zu Landminen, und schickt ihre Berichte an britische F2-Agenten.

Hervé de Charbonneries

Bis zum Sommer 1944 gelingt es den Deutschen die Résistance-Gruppen zu unterwandern und viele Widerstandskämpfer festzunehmen. Cathérine - Deckname: Caro - wechselt deshalb nach Paris, wo sie ihre Widerstandstätigkeit wieder aufnimmt. Sie wohnt in der Rue Royale bei ihrem Bruder, der nach der Demobilisierung seiner Militäreinheit schon längst wieder für Lucien Lelong arbeitet.  Christian unterstützt stillschweigend die Tätigkeit seiner Schwester und ihrer Mitkämpfer, ist aber wohl über das ganze Ausmaß ihrer Tätigkeit nicht im Bilde. Sie ist nämlich dabei, Informationen für die geplante Invasion der Alliierten in Frankreich, später bekannt als D-Day, bereitzustellen...

Doch damit ist es am 6. Juli vorbei, als sich Cathérine am Place du Trocadéro mit Madeleine Marchand trifft, einer Doppelagentin. Dort warten schon Leute der französische Kollaborationseinheit des Friedrich Berger auf sie und bringen sie mit verbundenen Augen in ihr Hauptquartier in der Rue de la Pompe 180, wo französische Polizisten, die mit den Nazis zusammenarbeiten,  sie erwarten.

Hinter dieser typischen Haussmann-Fassade werden die Häftlinge entsetzlichen Folterungen unterworfen, darunter Waterboarding, Brechen der Knochen und das Entfernen von Fingernägeln mit heißen Eisen.  Erstaunlicherweise bleibt Cathérine nach drei vollen Wochen in der "Küche" genannten Foltereinrichtung standhaft. Widerstandsarchive werden später ihren Mut als "vorbildlich" bezeichnen, da sie "besonders abscheulichen" Formen der Folter ausgesetzt gewesen ist. "Ich habe sie angelogen, so viel ich konnte", wird sie später den Ermittlern für Kriegsverbrechen erzählen. Sie gibt keinen einzigen Namen preis – nicht ihren bekannten Bruder, nicht ihren gesuchten Geliebten ( der unterdessen ständig die Wohnung wechselt ), nicht eines der Mitglieder ihres Widerstandsnetzwerks, einschließlich derer, die sie in Christians Wohnung zurückgelassen hat. Der realisiert wohl schnell, was passiert ist.

Am 15. August 1944 wird Cathérine mit 1.654 Männern und 543 Frauen von Romainville aus in den letzten Zug gesetzt, der Frankreich in Richtung der deutschen Konzentrationslager verlässt. Am Tag zuvor sind die Alliierten in der Normandie gelandet, unweit des Stammsitzes der Familie Dior. Die Deutschen in Paris sind in Aufruhr und beginnen zu fliehen. Man kann sagen, Cathérine hat sogar noch Glück im Unglück, dass die Rue de la Pompe mit Gefangenen überfüllt und sie in ein konventionelleres Gefängnis überführt worden ist, denn in der Rue de la Pompe exekutiert die Gestapo kurz vor dem Eintreffen der Alliierten alle ihre Gefangenen.

Der Zug kommt nur langsam voran in Richtung deutsche Grenze. Er muss anhalten für deutsche Truppenzüge, er muss anhalten für deutsche Beutezüge, er muss anhalten, um alliierten Luftangriffen zu entgehen und ausweichen, weil Résistance-Mitglieder versuchen, die Gleise zu sabotieren. Als der Zug in zwei Tagen nur 100 Kilometer schafft, beginnen in den von der Augustsonne überhitzten Waggons die Gefangenen zu sterben.

In Paris setzt Bruder Christian alle Hebel in Bewegung, die ihm zur Verfügung stehen: Vom schwedischen Konsul Raoul Nordling erhält er die Zusicherung, dass die Deutschen bereit seien, Cathérine den Schweden auszuliefern, wenn sich ihr Zug am 17. August noch auf französischem Boden befände. Trotz der Verzögerungen ist es dafür zu spät: Wegen schlechter Telefonleitungen verpasst der Konsul die Abfahrt von Cathérines Zug vom letzten französischen Bahnhof nur um wenige Minuten.  Es gibt nichts mehr, was getan werden kann. Sie kommt schließlich im KZ Ravensbrück an, während Paris von der deutschen Besatzung befreit wird.

Im Laufe des nächsten Jahres wird sie als Zwangsarbeiterin mit lauter weiblichen französischen Résistance-Zugehörigen durch das deutsche Konzentrationslagernetz verschoben, unterernährt, überarbeitet, erkrankt an Tuberkulose, Typhus und Ruhr. In Torgau, Außenlager des KZ Buchenwald, muss sie ab 21. September in der Heeresmunitionsanstalt Blindgänger in einem Säurebad reinigen, ab 19. Oktober Zwangsarbeit für BMW in einem Flugmotorenwerk in Abteroda leisten oder ab 24. Februar 1945 Teile von Flugzeugtriebwerken für Junkers im Außenlager Markkleeberg-Gautzsch montieren. 

Am 13. April 1945 werden dort dann die Häftlinge ohne Nahrung und Wasser auf die Straße in Richtung Theresienstadt getrieben und bei Fluchtversuchen sofort vor Ort erschossen. Irgendwie gelingt es Cathérine wie etlichen Französinnen unbemerkt in einen Wald zu flüchten und - am Rande des Todes - in den zerbombten Trümmern von Dresden von Soldaten entdeckt zu werden. Die völlig abgemagerte 28jährige verbringt einen Monat in einem Krankenhaus.

Ihre Familie, darunter auch ihr 73jähriger Vater, und Freunde haben unterdessen kein Wort mehr von ihr gehört gehabt und sind der Überzeugung, dass sie tot sei, insbesondere nachdem Anfang 1945 Berichte über die Lager erschienen sind. Doch am 17. Mai 1945 erhält Christian Dior einen Anruf: Cathérine werde am nächsten Morgen in Paris auf dem Gare de l'Est ankommen. Wie sie die Stadt verlassen hat, kehrt sie heim: eingepfercht in einen überfüllten Zug. 

Sie sieht gespenstisch aus und ist nicht wiederzuerkennen. In Christians Wohnung in der Rue Royale  will dieser die Rückkehr feiern und bereitet ihr ihr Lieblingsgericht zu, ein Käsesoufflé. Es wird Monate dauern, bis sie wieder ein solches Essen vertragen kann.

Im Sommer kehrt sie in die Provence zurück, wo Hervé und der Vater Maurice sie erwarten. Marthe, ihre ehemalige Gouvernante, päppelt sie mit Hervés Unterstützung wieder auf. Schon im Juli schreibt sie in einem Brief, dass sie "von der Sonne und der Ruhe dieser wunderschönen Region profitiert", in der sie mit Hervé ihre Zeit mit Gartenarbeit und politischen Gesprächen verbringt. Die Beiden werden für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben, unverheiratet - ein Affront im katholischen Frankreich - und kinderlos: Die erlittenen Qualen haben sie unfruchtbar gemacht.

Mitgliedskarte der Assoziation der Ravensbrück-Deportierten
(1946)
 © Collection Christian Dior Parfums

Wie so viele weibliche Überlebende der Konzentrationslager erfährt Cathérine, dass man ihre Geschichte in der Gesellschaft eigentlich nicht hören will. Sie spricht nur vor Gericht in einem Prozess gegen vierzehn Folterer der Rue de la Pompe im November 1952, ansonsten schweigt sie sich meist aus über die Schrecken, die "on ne put pas nommer".

Sie erhält das "Croix de Guerre" und das "Croix du Combatant Volontaire de la Résistance" , das polnische "Cross of Valor" die "King's Medal for Courage in the Cause of Freedom" Großbritanniens. Das goldene Armband des französisch-polnischen Widerstandsnetzwerks, in das die Daten ihrer Gefangennahme und Befreiung eingraviert sind, trägt sie jeden Tag.

Sie leidet unter Schlaflosigkeit, Alpträumen, Gedächtnisverlust, Angstzuständen, Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung - und dennoch lässt sie sich von alledem nicht in die Knie zwingen, nicht brechen. Im Herbst 1945 ziehen Cathérine & Hervé in das Appartement des Bruders in Paris, und sie erwirbt eine staatliche Lizenz als Mandataire en fleurs coupées, die zum Verkauf von Schnittblumen an Floristen berechtigt, die sie mit Hervé teilweise in der Provence anbaut, auch in "Les Naÿssès", welches sie nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1946 erbt. Bis in die 1950er Jahre steht sie ab 4.00 Uhr in der Früh  unter den riesigen Glaskuppeln von "Les Halles". 

1946, als Christian Dior sich darauf vorbereitet, sein eigenes Modelabel auf den Markt zu bringen, beginnt er auch mit der Entwicklung eines Parfums mit dem Duft von Jasmin und Rosen. Als er und seine Muse und Kollegin Mizza Bricard über den Namen diskutieren, betritt seine Schwester den Raum: "Das ist es: Miss Dior!", ruft Mizza aus. Für Dior ist das perfekt: Ein Parfüm, das nach Liebe duftet und der Person gewidmet ist, die er auf der ganzen Welt wohl am meisten geliebt hat. 

Von links nach rechts:
Hervé de Charbonneries, Cathérine & Christian Dior, Marthe Lefebvre vor "Les Naÿssès"
(1947)

Als Christian Dior am 12. Februar 1947 seine erste Couture-Kollektion in den Räumen der Avenue Montaigne 30 vorführt, sitzt seine Schwester im Publikum. Den Raum erfüllt ein betörender Rosenduft: "Miss Dior". Die Kollektion stellt einen Wendepunkt in der Modegeschichte des 20. Jahrhunderts dar und ist bis heute bekannt unter dem Begriff "New Look". Quasi über Nacht wird Christian berühmt.

In Callian 
© Collection Musée Christian Dior, Granville
Cathérine inspiriert ihren Bruder noch zu weiteren Kreationen, darunter das ikonische "Miss Dior"-Kleid, ein trägerloses Kleid mit mehr als tausend Seidenblumen bestickt. Cathérine ist aber alles andere als eine schicke Modepuppe. Die echte Miss Dior bevorzugt ein ruhiges Leben ohne Glamour abseits der Modewelt und eine ihrer Arbeit angemessene, unkomplizierte Kleidung. Aufmerksamkeit erregen will sie nicht. 

Als sich der Bruder 1951 ganz in der Nähe, in Montauroux bei Grasse, ein Schlößchen kaufen kann, das "Château de la Colle Noire", besucht sie ihn dort gerne, aber nur, wenn er allein ist und nicht von seinen vielen glamourösen Gästen umgeben. Sie freut sich wohl für ihn für seinen Reichtum und Ruhm, aber sie will nicht Teil dieser Seite seines Lebens sein. Einmal soll sie erzählt haben, dass sie in "La Colle Noire" nach einem Glas Wasser gesucht und sich völlig verlaufen habe. Das ist einfach nicht ihr Stil. Sie lebt ihr ganzes Leben nach ihren eigenen Regeln.

1957 stirbt Christian Dior im Alter von 52 Jahren an einem Herzinfarkt. Da fühlt sich Cathérine aber zur "moralischen Erbin" berufen und für die Bewahrung seines künstlerischen Erbes verantwortlich – eine Aufgabe, die sie nun mit großer Akribie angeht und den Inhalt seines Hauses bis hin zu seinem Spielkartenspiel bewahrt. 

Links: Cathérine & Hervè in ihrem Blumengroßhandel;
rechts: der Blütenteppich in Paris am Étoile für ihren Bruder nach seinem Tod
© Collection Christian Dior Parfums

Anschließend gibt Cathérine den Schnittblumengroßhandel in Paris auf und zieht mit Hervé dauerhaft in die Provence, wo die beiden den Rest ihres Lebens mit dem Anbau von Centifolia-Rosen, Lavendel und Jasmin verbringen, die sie an die Parfümhäuser von Grasse und auf der ganzen Welt verkaufen. Die örtlichen Produzenten ätherischer Öle schätzen ihre Zuverlässig- & Vertrauenswürdigkeit, müssen sie doch nie die von ihr gelieferte Ware nochmals nachwiegen, sondern bezahlen ohne zu prüfen den von ihr geforderten Preis. Ihre Rosenernte ist wesentlicher Bestandteil von "Miss Dior" (wie es auch heute noch der Fall ist).

Hervé stirbt 1989 mit vierundachtzig, da ist sie 72 Jahre alt. Sie selbst gärtnert weiter bis ins hohe Alter hinein, besucht alljährlich die Gedenkfeiern der Veteranen in Montauroux und Konzerte in der Chapelle St. Barthélémy, dem Vermächtnis ihres Bruders für die Stadt. 1994 wird sie in die Légion d'Honneur aufgenommen. 

Veteranen - Gedenkfeier in Montauroux

1999 dann weiht sie das neu eröffnete Dior-Museum in Granville ein, dem sie ein Kleid ihrer Mutter spendet. Sie wird Ehrenpräsidentin dieser Einrichtung. 

Die Geschehnisse im "Haus Dior" verfolgt sie noch aus der Ferne, bis sie am Abend des 17. Juni 2008 in ihrem Haus in Callian stirbt. Zwei Monate zuvor ist sie noch bei den Zeremonien der Veteranen aufgetreten. 

Bestattet wird sie neben Hervé, ihrem Vater Maurice, ihrer Gouvernante Marthe Lefebvre und ihrem Bruder Christian oberhalb ihres Anwesens in Callian.

Ins Rampenlicht, das sie so bewusst gemieden hat, gerät Cathérine Dior erstmals 2011, als sich der CEO des Hauses Dior, Sidney Toledano, kurz vor der letzten Modenschau bemüßigt fühlt - was höchst ungewöhnlich in der Branche ist - auf dem Laufsteg eine Rede zu halten, in der er u.a.  auch von der geliebten Schwester des Couturiers spricht, die einstens nach Buchenwald deportiert worden sei, um die Werte seines Hauses zu verdeutlichen - nicht so ganz redlich, denn zur Familie Dior hat auch eine veritable militante Neo-Nazi-Frau gehört, die Tochter Raymonds, von der sich Cathérine 1963 öffentlich distanziert hat!

Die Umstände, die Toledano zu dieser Aktion veranlasst haben, sind ebenfalls ungewöhnlich: John Galliano, seit fünfzehn Jahren Kreativdirektor von Dior, ist Tage zuvor festgenommen worden, weil er angeblich zwei Fremde mit einer antisemitischen und rassistischen Hetze belästigt hat. 

Bis dahin hat das Leben der Schwester des legendären Modeschöpfers selten in Veröffentlichungen über den berühmten Bruder Erwähnung gefunden, und es hat ein Geschmäckle, dass sie gerade dann hervorgeholt wird, als das ramponierte Firmenimage eine kleine Aufpolierung braucht. Doch Cathérines wahre Geschichte ist so viel beeindruckender, als die - im übrigen fehlerhafte - Bemerkung Toledanos vermuten lässt, so dass man sich für sie zu interessieren beginnt.

Rosenfelder unterhalb von Callian
Im September 2019 widmet Maria Grazia Chiuri, seit 2016 Kreativdirektorin bei Christian Dior, die Prêt-à-Porter-Laufstegkollektion Frühjahr/Sommer 2020 Cathérine Dior, inspiriert von ihrer Leidenschaft für Blumen. Und im Oktober 2021 dann erscheint auch endlich eine Biografie von Justine Picardie: "Miss Dior: Le destin insoupçonné de Catherine Dior", auch in englischer & deutscher Übersetzung. Die zieht eine ganze Flut von Veröffentlichungen hinter sich her, aber auch eine Ausstellung zur bemerkenswerten jüngsten Dior-Schwester im 2013 vom Haus Dior erworbenen und zum Museum umgewidmeten  "Château de la Colle Noire". Zuvor ist eine neue Version des Parfums "Miss Dior" mit einer Werbekampagne mit Natalie Portman in der Hauptrolle lanciert worden. 

Ein bisschen degoutant finde ich schon, dass diese Kämpferin für Freiheit und gegen Autoritarismus, die sich nie ins Scheinwerferlicht, schon gar nicht im Modezirkus gedrängt hat, mit ihrer außergewöhnlichen Geschichte & Lebenseinstellung inzwischen für Marketingstrategien ausgeschlachtet wird. Aber auch nur so habe ich von ihr erfahren und kann sie nun hier im Blog vorstellen & würdigen. Und so ganz nebenher habe ich auch noch eine kleine voyage sentimental in eine Landschaft unternommen, die mir sehr viel bedeutet.


 








11 Kommentare:

  1. Oh man, was für eine Lebensgeschichte! Auf dem ersten Foto sah sie noch so lebenslustig aus. Ich glaube, nun muss ich doch ein Buch über sie lesen! Auch wenn du schon eine Menge über sie erzählt hast.
    Danke
    Andrea

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  2. Guten Morgen Astrid, ich bin sehr berührt von der Geschichte. Ich habe wohl sehr oft den Atem angehalten beim Lesen und den Kaffee gar nicht angerührt, merke ich grade. Was für eine Frau. Was für ein Leben. Danke dass Du sie erzählt hast.
    Einen schönen Feiertag wünsche ich euch, liebe Grüße Tina

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  3. merci Astrid pour cette incroyable biographie qui nous mène à travers l'histoire en Europe au siècle dernier et également en mentionnant les lieux tu nous fait voyager et on se déplace avec Ginette, dite Catherine Dior dont l'existence fut un vrai combat pour survivre et exister, ce qui m'a beaucoup touchée ! en n'oubliant pas ces anonymes qui ont connus les atrocités de la guerre.
    lieber gruss
    mo

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  4. Was für eine Geschichte!
    Was für ein Leben!
    Als gelernte Schneiderin (Haute Couture) ist mir Christian Dior ein Begriff.
    Bei meinem Lehrmeister, nähte ich unzählige wunderschöne Corsagen alle Modelle natürlich vom Dior Stil inspiriert.
    Gerne gelesen.

    Merci beaucoup
    Christa

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  5. Guten Morgen, liebe Astrid,

    welch eine bewegende Frauengeschichte! Danke dafür!
    (auch für Deine übrigend Lebensgeschichten).

    Viele Grüße Luitgard M.

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  6. Danke für diese berührende und sehr bewegende Biographie! Was für eine Frau!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  7. Was für ein Schicksal und Leben! Dass die Diors in der Provence ein Anwesen haben, wußte ich, aber keine weiteren Hintergründe. Ja, die sentimentalen Erinnerungen mischen sich mit dem, was du berichtest. Danke für den ausführlichen Bericht und alle Erinnerungen. Herzlich, Sunni

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  8. Jetzt bin ich aber platt, von dieser Lebensgeschichte mit Resistance, Festnahme, Folter und KZ Verschickung hatte ich keine Ahnung. Was eine Frau! Danke für dieses mich sehr überrascht habende Portrait. Nachtgrüße, Eva

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  9. Diese Biografiae ist schon sehr besonders, wie auch die gesamte Familie in ihrer Geschichte. Immer wieder überraschend wer so alles in der Restisance mitgearbeitet hat. Danke fürs Vorstellen!
    Viele Grüße, Karen

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  10. Liebe Astrid,
    eine sehr beeindruckende und bewegende Lebensgeschichte. Und die Links dazu finde ich super! Deine Freitagsblümchen sind übrigens ganz zauberhaft - so einfach, einfach schön!
    Liebe Grüße
    Ingrid

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  11. bei Dior denkt man wohl zu erst an Mode.. Parfüm.. Geld und Ruhm
    dass so eine Familiengeschichte dahinter steht hätte ich nicht gedacht
    was für eine starke Frau
    liebe Grüße
    Rosi

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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