Donnerstag, 20. November 2025

Great Women #438: Lina Morgenstern

Über die heutige großartige Frau habe ich einmal vor Jahren bei der Zitronenfalterin gelesen, als die ein entsprechendes Jugendbuch rezensiert hat. Seitdem steht sie schon auf meiner Liste: Lina Morgenstern. Es wurde also mal Zeit, mich näher mit ihr zu befassen.

Breslau um 1830

"Wir Juden haben wohl zur Genüge bewiesen, 
daß wir nicht nur genießen, sondern arbeiten, 
und zwar nicht nur, um Kapital zusammenzuscharren, 
sondern ohne Unterschied der Religion 
das Gute zu fördern, unseren Mitbürgern beizustehen 
und barmherzige Liebe zu üben... 
Wir fühlen uns als gleichberechtigte Staatsbürger, 
da wir alle Pflichten gegen Thron und Vaterland 
gewissenhaft erfüllen."

Lina Morgenstern wird als Lina Bauer am 25. November 1830 in Breslau geboren, eine jüdische Bürgertochter: "Ihr Vater, Albert Bauer, war ein sehr geachteter Bürger und wohlhabender Kaufmann und Fabrikant; ihre Mutter Fanni, geb. Adler aus Krakau, war eine ideale und scharf denkende Frau", heißt es dazu in "Das geistige Berlin", eine "Encyklopädie" von 1897 von Richard Wrede. 

Das ist nur eine kurze, sachliche Beschreibung eines Sachverhalts, hinter dem sich auf den zweiten Blick schon etwas mehr Drama verbirgt: 

Der Vater, 1800 geboren, hat als junger Mann ein christliches Mädchen so geliebt, dass er zu ihrem Glauben übertreten wollte. Kurz vor ihrer geplanten Hochzeit starb diese. Zwecks Aufmunterung eingeladen auf ein gräfliches Anwesen in Oberschlesien, ergreift Albert Hals über Kopf die Flucht auf einem Pferd, nachdem er vom Antisemitismus des Gastgebers erfahren hatte, verunglückt auf dem Weg und wird bewusstlos aufgefunden. So macht er die Bekanntschaft des Senators Jakob Adler. Und als er bei diesem einen Dankesbesuch abstatten will, hört er im Hintergrund jemanden ein Mozart - Arie singen: Fanny, die achtzehnjährige Tochter des Hauses. Beide verlieben sich stante pede ineinander. Doch erst zwei Jahre später dürfen sie in der Synagoge von Krakau heiraten.

Ein Jahr später, 1826, wird dem Paar ein Sohn geboren, Wilhelm, 1828 die Tochter Cecilia und schließlich Lina. Es folgen noch drei weitere Töchter: 1832 Jenny, 1835 Anna und 1838 Clara. Lina wächst nach der Geburt der Geschwister in einer großen Wohnung in der Nähe der großen Synagoge der Stadt auf, wo die Eltern einen Salon in der französischen Tradition führen, aber auch ihr Möbel- und Antiquitätengeschäft. 

Mit sechs Jahren kommt Lina auf die "Wernersche Höhere Töchterschule", wo sie in den üblichen, für Mädchen obligaten "Künsten" unterrichtet wird. Interessanter findet sie Geschichte und Literatur, sie schreibt Gedichte und liest sehr gerne. Lina ist ausgesprochen bildungshungrig, schätzt die Wissenschaften und bringt sich ab ihrem 14. Lebensjahr selbst Sprachen bei. Ihren Geschwistern hilft sie bei den Schularbeiten, der Mutter beim Führen des Haushaltsbuches, dem Vater in der betrieblichen Buchhaltung. Eine gewisse Arbeitsdisziplin, so wird sie später konstatieren, erwirbt sie auf diese Weise. Dennoch ist, als die Höhere Töchterschule mit fünfzehn Jahren abgeschlossen ist, ein spannender Beruf, gar ein Studium indiskutabel. Der Vater findet sie richtig undankbar.

Besonders religiös ist Lina nicht: "Lina zog dem Leiden und Beten das Tun und Wirken vor", schreibt Gerhard J. Rekel in seinem Buch. Sie flüchtet sich, da keine beruflichen Aussichten, ins Schreiben von Kindergeschichten und in die Literatur. Als sie an einem einseitigen Gesichtsschmerz erkrankt, fährt die Mutter mit ihr nach Karlsbad. Alles wird auf einmal besser, als die Mutter der Sechzehnjährigen den Besuch einer Tanzschule erlaubt. Lina wird die Bedeutung des Tanzens ihr Leben lang hervorheben. 

Dort, in der Tanzschule, trifft Lina auf den 19jährigen Theodor Morgenstern, ein polnischer Jude aus dem Städtchen Sieradz, der am Krakauer Aufstand beteiligt gewesen und ins Exil geflohen ist. Lina ist der begeisterte, revolutionär gestimmte, aber auch stutzerhafte junge Mann gleich interessant. Lina will verändern, im Kleinen wie im Großen. Das weiß sie schon damals und äußert es auch. Beide lieben sie unangepasste Menschen und unternehmerische Ideen, das haben sie gemeinsam, wenn auch im Wesen genaue Gegensätze.

Und bald lieben sie auch einander. Der Vater hält gar nichts davon, obwohl er doch selbst der Liebe gefolgt ist. Wie es in bürgerlichen Kreisen, seien sie noch so liberal, Usus ist, will er die Existenz seiner Tochter materiell absichern.

Als sich im Rahmen der Aufstände von 1848 auch in Breslau im September Arbeiter & Arbeiterinnen, Bauern, Bürger auf dem Exerzierplatz vor ihrem Elternhaus versammeln, dürfen Lina und ihre Schwester nur am Fenster zugucken, als es dort zu einem Gemetzel kommt. "Gerade wir Juden", meint der Vater, "sollten uns zurückhalten.

Dann versucht sie es eben im Kleinen, die Welt zu verbessern! Ihren 18. Geburtstag, begangen mit einem Fest mit erlauchten Gästen, nutzt Lina, um einen "Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder" ins Leben zu rufen. Jeder der anwesenden Geburtstagsgäste soll monatlich einen Pfennig für Schulmaterial und Kleidung für arme Arbeiterkinder spenden. Der Verein hat zum Ziel, die Kinder mit allem zu versorgen, was sie brauchen, um im Wettbewerb der Heranwachsenden zu bestehen, mit Büchern also, Schreibmaterial, aber auch mit Kleidung. Die Hilfe wird jüdischen, protestantischen, katholischen Kindern gewährt werden ( und ist bis in die 1930er Jahre existend! ).

Lina empfindet Theodor als klugen, liebevollen Partner, der mit ihr eine Verbindung freier & gleicher Wesen aufbauen will. Den Vater überzeugt er nicht, und der versucht weiterhin, seine Tochter von "dem Polen" abzubringen. Aber Lina trifft Theodor jeden Monat zwei Mal in Krakau, über sieben Jahre lang. Letztendlich müssen die Eltern Bauer vor so viel Beharrlichkeit kapitulieren. Eine große jüdische Hochzeit gibt es allerdings nicht, und erst Tage später nach dem 7. Februar 1854, dem Tag der Eheschließung, lässt der Vater eine "Verbindungs-Anzeige" in der "Breslauer Zeitung" schalten. 

Gemeinsam lassen sie das alles nun hinter sich und machen sich auf nach Berlin. 23 und 26 Jahre alt sind sie und hoffen dort bessere Chancen zu haben. Vor allem werden sie dort eine unkonventionelle, emanzipierte Ehe führen, und Theodor zunächst mit einem Modehaus, das er später um Heimdekoration erweitert, reüssieren.

( etwa 1860 )
1855 wird ihr erstes gemeinsames Kind geboren, Tochter Clara, 1857 der Sohn Michael Alexander, 1859 Olga. Dank einer großzügigen Mitgift können sie sich zunächst Hauspersonal leisten. Mit Kindern kann das Mädchen, das sie einstellen, allerdings nicht umgehen. Lina beginnt sich entsprechend über Pädagogik zu informieren, lernbereit, wie sie nun mal ist.

Als ihr Ehemann in finanzielle Schwierigkeiten gerät, weil er für Freunde gebürgt hat und die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, verliert er sein Modehaus, sattelt um auf Lebensmittelhandel und wird Vorstand eines Baubedarf- und Braunkohlewerkes in Schwedt an der Oder. Diese Schritte stürzen ihn allerdings noch tiefer ins Desaster. Die Lösung: Lina trägt zum Familieneinkommen bei, indem sie Kinderbücher schreibt: Das "Bienenkäthchen" erscheint 1859, "Die Storchenstraße" 1861, die Märchensammlung "In der Dämmerung" 1869. Theodor kümmert sich jetzt um Haushalt & Kinder, von manchen Zeitgenossen durchaus als "Schwächling" abgestempelt.

In jener Phase hat Lina die Pädagogik Friedrich Fröbels kennen und schätzen gelernt. Dass Kindergärten in Preußen als staatsgefährdend gelten und seit 1851 verboten sind, kümmert die junge Mutter kaum. Der Grund des Verbotes: "Destruktive Tendenzen auf dem Gebiet der Religion und Politik." Die Regierung unterstellt den Fröbelschen Erziehungsmethoden eine sozialistische Gesinnung. Über mehrere Jahre hinweg sprechen Lina, der Pädagoge Wilhelm Adolf Lette und andere Befürworter Fröbels im Ministerium vor, um das Verbot auszuhebeln.

Von 1860 bis 1866 fungiert die junge Mutter als Vorsitzende eines Frauenvereins zur Förderung der Fröbelschen Kindergärten und verfasst ein erstes Lehrbuch für Kindergärtnerinnen: "Das Paradies der Kindheit". Es wird 1861 publiziert und ein Bestseller. Im gleichen Jahr bringt Lina eine weitere Tochter, Martha, zur Welt, 1865 folgt noch ein letztes Kind, Alfred Albert.

Berliner Volksküche
Lina handelt in der ersten Hälfte ihres Lebens nach dem Motto: "In der Not muss sofort etwas getan werden, für politische Visionen bleibt immer noch Zeit." Und so kommt es am 9. Juni 1866 - ein Krieg gegen Österreich steht unmittelbar bevor – als die Lage in Berlin angespannt und die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, zur Gründung der ersten Suppenküche der Stadt. Ihr zur Seite steht ihre Freundin Maria Gubitz, "deren liebste Kampfmethode die Umarmung" ist ( Rekel ).

Dabei verschenkt Lina das Essen nicht, sondern bietet es zum Selbstkostenpreis an. Ein weiteres ihrer Motti ist nämlich: "Hilfe zur Selbsthilfe". Sie will Menschen ertüchtigen, die nicht viel haben und ihnen ihre Würde lassen. Am 4. Juli 1866 wird die erste Küche in einem Keller in der Charlottenstraße 87 eröffnet. Die Küchenausrüstung hat der Unternehmer Werner Siemens großzügig gespendet, der renommierte Arzt Prof. Rolf Virchow ist mit von der Partie. Hundert Besucher sind täglich avisiert, gereicht wird ein Eintopf aus Brühreis, Karotten, Erbsen und Sellerie.

Die Politische Polizei beobachtet mit Argusaugen, was da passiert. Seit der Revolution von 1848 sind die Regierenden hellhörig, das Attentat im Mai 1866 auf Otto von Bismarck hat zu einem Ausbau der Überwachungsmaßnahmen geführt. Für Bismarck sind Andersdenkende nichts anderes als Feinde. Man fürchtet weitere Ausschreitungen, ist es doch erst wenige Tage vor der Eröffnung der Suppenküche zu Arbeiteraufständen vor dem Roten Rathaus gekommen.

Linas Reaktion darauf: "Das Essen darf nur zu Hause verzehrt werden!" Deshalb müssen die Menschen die Speisen im Henkelmann abholen. Neben Handwerkern, kleinen Beamten, Soldaten, Commis, Dienstmänner, selbst einige Studenten, Frauen und Mädchen aus dem Arbeiterstande, aus Geschäften und Fabriken, Lehrerinnen, ganze Familien mit Kindern kommen, auch Kinder allein, deren Eltern in anderen Stadtteilen arbeiten. Linas Ziel, in großem Umfang die Fabrikarbeiter*innen zu erreichen, gelingt allerdings nicht. Die proletarische Bevölkerung Berlins bleibt misstrauisch gegenüber der Bürgerlichen, die zudem auch immer wieder öffentlichkeitswirksam von der Königin Augusta unterstützt  wird.

Gedenktafel Linienstr.47

Ein shitstorm folgt auch sogleich: Die Volksküche befördere die Faulheit der Frauen, die nun nicht mehr für ihre Familien zu Hause ein Mittagessen kochen. Und Antisemiten sind natürlich auch gleich auf dem Plan: "Weshalb ist es notwendig, dass gerade eine Jüdin das Geschäft der Volksküche betreiben muss; warum können es nicht Deutsche tun?", stänkert einer.

Wichtig ist Lina, neue Erkenntnisse der Ernährungslehre umzusetzen. Viele Gerichte bestehen aus Kartoffeln, weißen Bohnen, Linsen, Kohl, Graupen und Buchweizengrütze, als Süßspeisen Hefe­klößchen mit Pflaumenmus sowie Milchreis mit Zimt und Zucker. Kostenpunkt: zwischen 15 und 25 Pfennig. Weil auch Menschen kommen, die nicht einmal über die paar Pfennige verfügen, vergibt sie eine begrenzte Anzahl an Freikarten. 17 Volksküchen werden es schließlich sein, die täglich 10.000 Berliner*innen insgesamt mit warmem Essen versorgen, an manchen kommen täglich tausend Menschen. 

Ausgabe von 1926
Und typisch Lina: Es gibt natürlich auch ein Buch über die Organisation dieser Küchen sowie mehrere Kochbücher, darunter das erfolgreiche "Universal-Kochbuch für Gesunde und Kranke". Über 2700 Rezepte erfindet sie. Sie organisiert die Abläufe in den Küchen generalstabsmäßig, ernennt für jede eine Hauptverantwortliche, lässt Wochenrapporte verfassen und gründet ein Zentralbüro, von dem aus zwei bezahlte Buch- und Kassenführer die Finanzen überwachen. Sogar was mit Abfällen wie Kartoffelschalen und Gemüsereste geschehen soll, wird geregelt: Es wird als Tierfutter verkauft und abgenagte Knochen zur Seifenherstellung. 

Nach ihrem Küchenkonzept entstehen ähnliche Einrichtungen in zwanzig anderen Städten, die Idee entwickelt sich zu einer der erfolgreichsten Unternehmungen bürgerlicher Wohltätigkeit. Ihre Schwester Cecilia Adler gründet übrigens eine solche Volksküche in Wien, Tochter Clara bemüht sich darum, die Idee in Stockholm zu installieren.

Die mittlerweile Vierzigjährige jedoch auf die "Suppenlina" zu reduzieren, ist eine Frechheit! 1868 begründet sie den Kinderschutzverein, 1869 die Akademie zur wissenschaftlichen Fortbildung für junge Mädchen, 1869 ist sie Mitbegründerin des ersten Arbeiterinnenbildungsvereins und der ersten Krankenkasse und Initiatorin von Fortbildungskursen für Arbeiterinnen.

Lazarettwagen im Dt.-Frz. Krieg
Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 ist eine neue Herausforderung, der sich Lina, obwohl Pazifistin, stellt. Während im Kaiserreich mobil gemacht und in der Presse die Hoffnung ausgedrückt wird, bald von den Siegen der tapferen deutschen Armee berichten zu können, gibt es keinerlei Plan für die Versorgung der mit den Zügen durchs Land transportierten Soldaten: 
"Und denkt jemand daran, dass in Kürze Züge mit Verwundeten eintreffen können […]. Unsereiner fragt sich in aller Unbedarftheit, warum der Staat sich nicht um die Verpflegung der Männer kümmert, die für ihn ihr Leben riskieren sollen." ( Quelle hier ) 

Lina packt mal wieder an und stellt an zwei Berliner Bahnhöfen eine medizinische Versorgung und die Beköstigung der Truppen auf die Beine, alles ohne öffentlichen Auftrag, alles ohne Geld von irgendeiner Stelle. Wenn sie eine Notwendigkeit sieht, organisiert sie Helfer*innen und Material. 300.000 Soldaten kann sie letztendlich mit Essen versorgen, 6000 Verwundete retten, egal ob Freund oder Feind.

Das ist ihr Beitrag, um die schlimmsten Auswirkungen des Krieges abzumildern, obwohl sie ihn nicht gut heißt. 1893 wird sie  auch in den Vorstand der Deutschen Friedensgesellschaft gewählt. Bereits ab 1871 ( bis 1885 ) ist sie Vorstandsmitglied im Allgemeinen Deutschen Frauenverein, gegründet durch  Louise Otto-Peters ( siehe auch dieser Post )Helene Lange, die spätere Vorsitzende des ADF, spricht von Lina als "regsamer Gegenwartsmensch"

Der allseits Engagierten kann man mit Fug & Recht ein durchaus traditionelles Frauenbild unterstellen. Die Familie betrachtet sie als das eigentliches Feld der Frau, gerne ergänzt durch ein soziales Ehrenamt. Folgerichtig wird sie 1873 zur Gründerin des Berliner Hausfrauenvereins und bringt im Jahr darauf die "Deutsche Hausfrauen-Zeitung" heraus. Es soll ein Journal werden, das die Welt noch nicht gesehen hat, Auflage 3000 Stück, Jahresabonnement 6 Mark ( 80€ heute ). Ausschließlich von Frauen für Frauen! Dafür kratzt Lina ihre Buchtantiemen zusammen, unterstützt wieder von Maria Gubitz.

Das geschieht zwanzig Jahre nach dem gescheiterten Versuch von Louise Otto-Peters mit ihrer "Frauen-Zeitung". Lina geht mit wesentlich gemäßigterem Ton an den Start. Sie lässt sie als "Informationsblatt" mit dem Untertitel: "Organ des Berliner Hausfrauen-Vereins" firmieren. Dagegen können Bismarcks Aufsichts- und Zensurbehörden nichts einwenden. Die übrige Presse echauffiert sich schon: So schreibt der "Volksfreund", der Zentrumspartei nahestehend: "Eine der widerlichsten Erscheinungen ist das Streben nach Emanzipation der Frau... Frau Lina Morgenstern und Frau Maria Gubitz stünde der Kochlöffel viel besser an als der Redaktionsstift!" Auch antisemitische Töne werden angeschlagen und der Zeitung ein "ausgeprägter jüdischer Charakter" unterstellt, obwohl kaum über jüdische Aspekte geschrieben wird.

Lina und Louise Otto-Peters sind auf jeden Fall Gleichgesinnte, ihre Wege kreuzen sich immer wieder im Verlauf dessen, was man heute "die erste Frauenbewegung" nennt ( ohne Frauenzeitschriften wäre diese undenkbar gewesen ). Neben mehrfachen Aufrufen, das Wahlrecht für Frauen einzuführen, engagiert sie sich in allen Bereichen der Aufklärung. Lina gibt Hinweise, wie alltägliche Betrügereien zu erkennen sind, aber auch auf Verschleierungstaktiken - wir würden heute fakenews sagen - der Politiker. Ab 1882 erscheint die Zeitung mit ausgewählten Novellen in einer monatlichen Literaturbeilage, dem "Lesekränzchen". Für kulturell weniger interessierte Leserinnen lässt sie ein "Unterhaltungsblatt" beilegen, darin Anekdoten, Gedichte und eine Beilage für Kinder sowie Rätsel, deren Lösen sie allwöchentlich mit Büchern belohnt. Auch die treuen Jahresabonnent*innen bekommen ein Buch gratis.

Dreißig Jahre hält sich das Magazin - sieben davon mit einer Beilage "Für junge Mädchen nach vollendeter Schulzeit" und in den Jahren 1885 bis 1887 dem Kalender "Die Frauenbestrebungen unserer Zeit". 

Dem Hausfrauenverein wiederum angegliedert sind u.a. eine permanente Lebensmittelausstellung, ein Laboratorium zur Untersuchung von Lebensmitteln, eine Kochschule, eine Unterstützungskasse für Dienstmädchen sowie eine Verkaufsstelle auf konsumgenossenschaftlicher Grundlage. Was für ein Programm!

Aber das ist noch nicht alles: 1881 gründet Lina den Verein zur Rettung und Erziehung strafentlassener Mädchen, mit sozusagen 30 "Wohlfahrts-Startups" zur Unterstützung alleinerziehender Frauen, mit dem Gesetz in Konflikt geratene Mädchen, vermeintliche Prostituierte und andere Hilfesuchende.

1884, als der Hausfrauen-Verein in Turbulenzen gerät, reißt er ums Haar auch die Zeitung mit. Quasi über Nacht verliert die 2000 Abonnent*innen. Mit dem ihr üblichen Elan sucht Lina nach Lösungen: Schließlich gelingt es ihr, von der Druckerei einen Kredit zu erhalten. In ihrer Heimatstadt Breslau vermitteln beherzte Leserinnen neue Abonnements. Nun kümmert sich auch Theodor Morgenstern um Vertrieb und Inseraten­teil. 1885 vermeldet Lina stolz 70 000 Abonnent*innen. Bis 1904 fungiert sie als Chefredakteurin und Herausgeberin.

1888 macht sich Lina, dem Kreis angehörig um eine der ersten deutschen Ärztinnnen - nach Dorothea Erxleben, siehe auch dieser Post - Franziska Tiburtius, für ein Medizinstudium für Frauen stark. An die Adresse konservativer Professoren richtet sie den Aufruf: "... wir Frauen verlangen nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit. Wo Ungerechtigkeit gegen die eine Hälfte des Geschlechtes herrscht, giebt es überhaupt keine Gerechtigkeit." Erst zwanzig Jahre später wird das möglich werden.

ca. 1907
Dass der inzwischen Jahre alten Lina Schubladendenken fremd ist, belegt ihr Versuch im März 1894,  gemeinsam mit Minna Cauer, Lily von Gizycki, der späteren Lily Braun, und Jeannette Schwerin bei der Gründung des Bundes Deutscher Frauenvereine die proletarischen Frauenvereine mit einzubeziehen, was scheitert. Ein Grund für das Scheitern ist darin zu sehen, dass Frauen in Preußen bis 1908 jegliche explizit politische Betätigung verboten ist. Mit einer Aufnahme der sozialistischer Frauenvereine hätte man eine Auflösung des Verbands riskiert, so die verbreiteten Ängste. 

Der Verein wird mit zeitweilig einer Million Mitglieder bis zu seiner Auflösung nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 existieren.

Zwei Jahre später initiiert Linaden Internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen  in Berlin, der auf großer Bühne die Vielfalt und den Aufbruch von Frauen aus dem Althergebrachten zeigen will. 1700 Frauen nehmen an diesem Kongress teil. Zu den bekanntesten Teilnehmerinnen gehören Alice Salomon ( siehe dieser Post ), Anita Augspurg ( siehe dieser Post ), Clara Zetkin und die italienische Reformpädagogin Maria Montessori. Ziel des Treffens ist die "Orientierung über die Ziele und den Stand der Frauenbewegung in den zivilisierten Ländern und Austausch der Ansichten über einzelne wichtige Punkte derselben".  Aus vielen Ländern reisen Referentinnen an, viele deutsche und ausländische Tageszeitungen und Zeitschriften berichteten über ihn.

Gegen Ende ihres Lebens wird Lina mit Ehrungen in Europa und Amerika überhäuft und gilt als eine der wichtigsten Sozialreformerinnen und als maßgebliche Begründerin der ersten Frauen- und Friedensbewegung. Anlässlich ihres 70. Geburtstags am 13. Dezember 1900 überschüttet die hebräische Zeitung "HaZefira" Lina mit Lob und spricht von der "berühmtesten Frau in Berlin". In der Hauptstadt wird sie tatsächlich von den Leser*innen des "Berliner Tagesblattes" zu den fünf bedeutendsten Persönlichkeiten gewählt.

Familiären Katastrophen mehren sich jetzt: 

1900 stirbt ihre Schwiegertochter, Tochter Olga zwei Jahre später mit 43 Jahren, Linas Schwester in Wien ebenfalls. 1909 verliert sie bereits ihr drittes Kind, Sohn Michael ( Martha ist schon 1887 gestorben ). 

Lina versucht eine "elegante Haltung" zu bewahren, ist aber erschöpft. "Der beste Segen meines Lebens" - so bezeichnet sie ihren Mann. In nahezu allen ihrer 32 Bücher - darunter drei Bände über Frauen im 19. Jahrhundert und ein zweiteiliges Werk über Frauenarbeit in Deutschland - dankt sie ihm für seine "selbstlose Mitarbeit". 1904 können sie Goldene Hochzeit feiern ( und aus diesem Anlass gibt es das einzige Foto des Paares ). 

CC BY-SA 3.0
Am Nikolaustag 1909 erkrankt Lina an einer Influenza und stirbt am16. Dezember im Alter von 79 Jahren in ihrer Wohnung in der Potsdamer Straße. In der Inschrift auf ihrem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee bezeichnen sie ihre Kinder als eine "große Menschenfreundin". Nur ein Dreivierteljahr später erliegt ihr Mann Theodor seiner schweren Erkrankung.

Von vielen ist Lina Morgenstern trotz - oder gerade wegen - ihres unermüdlichen Einsatzes belächelt worden. Und das Etikett "Suppenlina" ist nicht nur schmeichelnd oder gar anerkennend gemeint gewesen, hat sich aber bis heute, oft als allereinzige Erinnerung an eine wunderbare, tatkräftige Frau erhalten, der es um viel mehr gegangen ist und die viel mehr erreicht hat aufgrund ihrer Vision von einer Welt ohne Hunger, Gewalt und Krieg, in der Frauen denselben Platz haben wie Männer und all ihre Möglichkeiten entfalten können. Diesem Multitalent und ihrer Bedeutung als feministische Kämpferin wird die heutige Erinnerung in keiner Weise gerecht. 

Zahlreiche Konflikte, denen sie sich zupackend gestellt hat, spiegeln auch heute wieder - oder noch, da  bisher nicht gelöst  - aktuelle gesellschaftliche Spannungen: die weiterhin existierende Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, der Gegensatz zwischen Nationalisten und Kosmopoliten, die menschenverachtenden Auswirkungen des Antisemitismus, das Auseinanderdriften von Arm und Reich sowie der Kampf um das sogenannte "Gute". 

"Ihre Geschichte ist eine, die Mut macht", findet Gerhard J. Rekel, ein österreichischer Autor und Filmemacher, der ein Buch über sie geschrieben hat, nachdem er bei Berliner Spaziergängen an zahlreichen Häusern Denkmalschilder entdeckt hat. Mich hat es geradezu umgehauen, was diese Frau geleistet hat.

                                                                    


Und hier sind weitere, oft tatkräftige Frauen zu finden,
die in dieser Woche einen Gedenktag haben:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Kommentare ohne ein Blog- Konto bei Google oder Wordpress bitte nur mit Namensnennung!
Respekt ist (m)ein Mindeststandard. Anonyme und gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werden von mir nicht mehr veröffentlicht.

Mit dem Abschicken deines Kommentars akzeptierst du, dass dieser und die personenbezogenen Daten, die mit ihm verbunden sind (z.B. User- oder Klarname, verknüpftes Profil auf Google/ Wordpress) an Google-Server übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhältst du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.