Donnerstag, 19. August 2021

Great Women #270: Elsa Morante

Wer Dacia Maraini sagt, der muss auch Elsa Morante sagen, meine ich. Beide waren mit demselben Mann liiert, beide haben die italienische Nachkriegsliteratur mitbestimmt und bereichert ( ich persönlich habe ihre Bücher auf jeden Fall den seinen vorgezogen ). Erstere habe ich schon hier porträtiert, die zweite kommt heute dran, denn sie hätte gestern ihren 109. Geburtstag gehabt.


"Ich bin der bittere Punkt der Schwingungen
zwischen Mond und Gezeiten."
  
 

Elsa mit ihren Brüdern
Elsa Morante wird am 18. August 1912, einem Sonntag, in der Via Anicia Nr. 7 in Rom geboren. Ihre Mutter ist Irma Poggibonsi, eine Jüdin aus Emilia bei Modena und Grundschullehrerin, und der Vater bzw. der Mann, der Elsa seinen Namen gibt, der Sizilianer Augusto Morante, Tutor in an der römischen Besserungsanstalt "Aristide Gabelli" an der Porta Portese. 

Elsa hat eine Kindheit, die selbst Fiktion hätte sein können, die Familiengeschichte der Morantes ist nämlich schon etwas außergewöhnlich: Der leibliche Vater von Elsa und ihren Brüdern Aldo (1914), Marcello (1916) und der Schwester Maria (1922) sowie von Mario, der schon im Säuglingsalter vor ihrer Geburt gestorben ist, ist Francesco Lo Monaco, ebenfalls Sizilianer, Postangestellter & Freund der Familie, der als gutaussehend, nett & oberflächlich beschrieben wird. Seine Rolle wird von Augusto Morante akzeptiert, möchte er doch Irma nicht verlieren. Er hat sie wohl gebeten, die Ehe nicht aufzulösen, und sie werden auch ihr restliches Leben zusammen bleiben, aber Irmas Verachtung für ihn wird auch immer größer werden. So lässt sie ihn seine Mahlzeiten allein einnehmen und später in einem Kellerzimmer schlafen. Am Familienleben darf er nicht teilhaben. 

Die Familie lebt in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen im ersten, von Architekten geplanten Arbeiterviertel Roms, Testaccio, gleich beim Schlachthof gelegen. 

Die regelmäßigen Besuche des "Onkels" Francesco müssen schon der kleinen Elsa merkwürdig vorgekommen sein. In ihren späteren Werken spielen undurchsichtige Beziehungen zwischen den Erwachsenen eine Rolle, ebenso die jüdische Religion der Mutter, mit der Elsa sich in den frühen Jahren sehr verbunden fühlt. Irma hat viel für Literatur übrig, ist kultiviert, eine Sozialistin und hat selbst in einer Zeitschrift über Frauenfragen geschrieben. Doch in ihren verzwickten Eheverhältnissen entwickelt sie eine Neigung zu ständigem Schreien, Drohen, Beleidigen und zu Nervenzusammenbrüchen. Dann schließt sie sich manchmal stundenlang im Schlafzimmer ein - alles sehr  belastend für ein Kind. Als Reaktion auf die häuslichen Konflikte zieht sich Elsa in ihr Zimmer zurück und gibt sich Fantasiewelten hin. 

Elsa wäre am liebsten ein Junge wie ihr verstorbener Bruder und strebt danach, ein Genie zu werden. Angeblich schreibt sie ihr erstes Gedicht mit zweieinhalb - mit einem toten Vorbild zu konkurrieren ist hart! Aus gesundheitlichen Gründen besucht sie keine öffentliche Schule, sondern eignet sich das Lesen & Schreiben autodidaktisch an. Der Wunsch, Schriftstellerin zu werden, ist angeblich seit ihrer Geburt vorhanden und beim Verfassen erster Werke - quasi nach der Methode "Lesen durch Schreiben" - bringt sie sich diese Kulturtechniken bei und verfasst alsbald Kinderreime, Märchen und Kurzgeschichten. Mutter Irma erkennt die frühreifen intellektuellen Talente ihrer Tochter sehr schnell, ist darauf sehr stolz und bringt Elsas Texte in den Zeitschriften "I diritti della scuola" und "Corriere dei Piccoli" unter und ebnet ihr damit den zukünftigen Weg.

Im Alter von sechs Jahren zieht Elsa für einige Zeit zu ihrer Patin Donna Maria Guerrieri di Gonzaga in eine Villa im Viertel Nomentano. Die, eine Freundin der Maria Montessori, wird ihr zu einer zweiten Mutter, und es ergibt sich für Elsa eine weitere, schwer durchschaubare, ambivalente Situation wie bei ihren Vätern. Verstärkt wird das alles noch durch den Kontrast der unterschiedlichen Lebensstile: Einerseits das bescheidene Zuhause und ein ebenso bescheidenes und armes Leben, andererseits der Adel und der Reichtum, den die Patin der kleinen Elsa vorführt und an dem sie sie teilhaben lässt. All diese Erfahrungen werden die Persönlichkeit wie die Zukunft der Elsa Morante beeinflussen.

Elsa ist ein hübsches Kind, intelligent und voller Fantasie, die sie von ihren Altersgenossen unterscheidet. Darüber hinaus ist sie, wie schon angedeutet, sich ihrer eigenen Fähigkeiten bewusst. In der Villa der Patin organisiert sie Theateraufführungen mit anderen Kindern, rezitiert ihre Gedichte. "Ich war Klassenbeste", wird sie später sagen. 

Dieses Selbstbewusstsein wird auch deutlich am Deckblatt eines Schulheftes für eine ihrer Geschichten. Irma ist gleichzeitig stolz, aber auch neidisch auf ihre Tochter. Die sieht in der Mutter mal die Hexe, mal die Heilige. Der frustrierte Appell an übernatürliche Mächte, die sowohl Flüche wie Segen anrufen können, wird ein Merkmal der Charaktere sein, die Elsa als Schriftstellerin erschaffen wird. Da wird keiner mit der Realität zufrieden sein, noch die Menschen um sich herum so akzeptieren, wie sie sind - so wie es Elsa mit ihrer Mutter hält, die ihr nicht elegant, nicht schlank und nicht aristokratisch genug ist.

1922 ziehen die Morantes in das kleinbürgerliche Viertel Monteverde Nuovo in ein kleines Haus. Elsa besucht ab da das Liceo Virgilio und schließt die Schule im Schuljahr 1931/32 mit Erfolg ab. Ihre Mitschüler bezeichnen sie als kreativ und brillant. Mit fünfzehn hat sie begonnen, Erzählungen für Erwachsene zuschreiben.

Nach der Schule verlässt Elsa ihre Familie und lebt allein, was ungewöhnlich für römische Verhältnisse ist. Aber offensichtlich treibt sie der Ekel vor den desolaten häuslichen Verhältnissen vom heimischen Herd, und die Art der Mutter, sich ständig in ihr (Schriftsteller-) Leben zu drängen. Als der Konflikt kurz vor Elsas Auszug eskaliert, schiebt sie der Mutter einen Zettel mit dem Vermerk: "Maledetta!" unter die Tür,  um dann einen weiteren mit dem Wort "Benedetta" hinterherzuschieben. Elsa wird die Mutter ab da aus allem heraushalten, bei der Hochzeit, bei den Preisverleihungen. Sie will auch keinen mütterlichen Spiegel haben, der ihr sagt: "Du bist wie deine Mutter." Eine innerlich nie aufgelöste, nie losgelassene gegenseitige Anbetung!

Als älteste Tochter ist sie auch die erste gewesen, die die Wahrheit über den leiblichen Vater erfahren hat. In mancher Hinsicht hasst sie ihn, ist aber merkwürdigerweise sehr beeindruckt, als die Familie 1945 mit einiger Verspätung erfährt, dass Francesco sich mit einem Pistolenschuss schon 1943 umgebracht hat.  ( Ihr Bruder Marcello Morante wird später, 1986, in seinem Buch"Maledetta benedetta" die ganze bedrückende Geschichte der Familie aufdecken. )

An der Universität schreibt Elsa sich an der Philosophischen Fakultät für Literatur ein, bricht jedoch bald aus wirtschaftlichen Gründen ab. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit privatem Italienisch- und Lateinunterricht, Abschlussarbeiten und durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften.

War es ihre Mutter, die den ersten Schritt zu einer literarischen Karriere ermöglicht hat, ist es nun Giacomo Debenedetti, ein Kritiker, den sie mit zwanzig Jahren kennenlernt und der ihre Geschichten sehr schätzt und sie in der Zeitschrift "Meridiano di Roma" veröffentlichen lässt. Von diesem Moment an taucht Elsas Name häufiger in Zeitungen und Zeitschriften auf, manchmal publiziert sie aber auch unter Pseudonymen wie "Antonio Carrera".

An einem Abend im November 1936 trifft Elsa Morante Alberto Moravia in Rom in einer Brauerei auf der Piazza Santi Apostoli, eingefädelt von dem bekannten abstrakten Maler Giuseppe Capogrossi, Freund von Moravia, aber auch der jungen Elsa Morante, die ihn gebeten hat, ein Treffen mit dem "Star" zu organisieren. Moravia gilt als Wunderkind der italienischen Literatur, da er mit nur neunzehn Jahren mit seinem Roman "Gli indifferenti" einen großen Erfolg gehabt hat. Ab dieser leidenschaftlichen Nacht, die sie sofort miteinander verbringen, beginnt ihre lange Beziehung, die von verschiedenen Krisen geprägt sein wird und an der sie, zu Recht oder zu Unrecht, aufgrund ihres persönlichen Minderwertigkeitskomplexes zutiefst leiden wird, ebenso an dem tatsächlichen oder vermuteten Egoismus ihres fünf Jahre älteren Geliebten. In einem von Januar bis Juli 1938 geführten Tagebuch "Diario 1938" mit dem Randvermerk "Buch der Träume" finden sich viele Hinweise auf dieses sie durchdringende Minderwertigkeitsgefühl. ( Alberto ist in der Tat ein Snob und legt Wert auf eine hohe gesellschaftliche Stellung oder ein illustres Auftreten und ziert sich gerne mit der jungen aufstrebenden Schriftstellerin. )

Zwischen 1935 und 1936 - sie wohnt inzwischen in einer winzigen Wohnung am Corso Umberto - erscheint Elsas erster Roman "Qualcuno bussa alla porta" in Fortsetzungen bei "I diritti della scuola". Vor allem die nächsten fünf Jahre sind diejenigen, in denen Elsa als Publizistin immer mehr in Erscheinung tritt, in engem Kontakt mit gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen lebt und freundschaftliche Beziehungen zu wichtigen Personen der intellektuellen Szene Italiens aufnimmt wie Pier Paolo Pasolini, Natalia Ginzburg, Goffredo Fofi, Umberto Saba. So wird sie Teil des kulturellen und literarischen Hotspots dieser Periode in Italien. 

Ab 1939 schreibt Elsa Morante in der Wochenzeitung "Oggi", auch unter mehreren Pseudonymen, über für sie wichtige pädagogische Erfahrungen.

Alberto und Elsa auf Capri in den
1940er Jahren
Die Beziehung zwischen Elsa und Moravia mündet trotz des ständigen Wechselspiels von Liebe und Hass - während sie ihn liebt, verspürt er nie ein großes körperliches Verlangen nach ihr, sondern ist "von einer extremen, herzzerreißenden, leidenschaftlichen Eigenschaft ihres Charakters fasziniert" - in einer Ehe. Am 14. April 1941 wird sie vor Elsas Beichtvater in der Chiesa del Gesù nur kirchlich geschlossen. Sie ist jetzt 28 Jahre alt, er 33. 

1941 erscheint ihre Übersetzung eines Buches von Katherine Mansfield und eine erste Sammlung von Kurzgeschichten "Il gioco segreto", die neben dem deutlichen kafkaesken Einfluss einen Einblick in die geheimsten und unbegreiflichsten weiblichen Emotionen geben. "Le bellissime avventure di Cateri dalla trecciolina", ein Märchen, an dem sie schon mit dreizehn zu schreiben begonnen hat, erscheint im darauffolgenden Jahr.

In den Jahren 1941-1943 verbringt Elsa die meiste Zeit in Anacapri, wo das Leben sehr viel billiger ist, zunächst zusammen mit Moravia, dann aber auch allein. Moravia, ebenfalls Halbjude wie Elsa, ist zu dieser Zeit schon eine unwillkommene Figur im Regime: "Kurz nach [der Heirat] wurde mir verboten, mit oder ohne Pseudonym in den Zeitungen zu schreiben. Es wurde auch der Auftrag erteilt, mich nicht im Kino arbeiten zu lassen", schreibt er dazu. 

1943 spitzt sich die Situation noch mehr zu: Das Ehepaar erfährt, dass Moravia auf einer Liste der zu verhaftenden Personen steht, die nach Deutschland gebracht werden sollen. So beschließen sie, mit dem Zug nach Neapel zu fliehen, können aber wegen Bombenschäden an den Gleisen nicht weiter und flüchten deshalb in die Berge der Provinz Latina, wo sie sich in Sant'Agata di Fondi für etwa neun Monate in einem an das Haus eines Bauern gelehnten Stalles bis zum Eintreffen der alliierten Truppen bzw. bis zur Befreiung Roms am 5. Juni 1944 verstecken. Dort beginnt Moravia an "La Ciociara" zu schreiben, das Buch, welches 1960 von Vittorio De Sica mit Sophia Loren mit großem Erfolg verfilmt werden wird. 

Elsa füllt währenddessen ein Schulheft mit dem Titel "Narciso" mit Versen, Gedichten, Projekten und Skizzen. Nach späterem Bekunden Moravias sei das die beste Zeit ihrer Ehe gewesen. Wie Elsa das gesehen hat, weiß ich nicht.

Nach einem Zwischenaufenthalt in Neapel kehrt das Paar nach Rom zurück, wo sie wieder ganz normal zu leben und zu arbeiten beginnen. Die Rückkehr ist aus beruflicher Sicht die bestmögliche Entscheidung. Der Zweite Weltkrieg, ja die Schrecken aller Kriege werden die beiden Schriftsteller viele Jahre in ihren Romanen beschäftigen. Elsa wird "La Storia" mit dem Untertitel "Ein Skandal, der zehntausend Jahre dauert" versehen. 

Nach ihrer Rückkehr wird Elsa die Veröffentlichung einiger ihrer Kriegsgeschichten in Zeitungen & Zeitschriften verweigert, so dass sie diese Zusammenarbeit ganz aufgibt. Die Ehe gibt ihr die wirtschaftliche Sicherheit, die sie vorher nicht gehabt hat. Endlich kann die Schriftstellerin sich also voll und ganz den von ihr ersehnten langen Ausarbeitungen widmen, wie der 1943 begonnene Roman – unterbrochen durch die Flucht – mit dem Titel "Das Leben meiner Großmutter", der dann zu "Menzogna e Sorcello" werden wird. 

1948 kann Elsa diesen, ihren ersten großen Roman - auf Deutsch: "Lüge und Zauberei" -  herausbringen:

"Dank meiner Lügen konnte ich mich jetzt für meine unerwiderte Liebe rächen, konnte meinen heimlichen Stolz sättigen, der dunkel und unterirdisch war wie die Hölle. Einzig meine Traumgestalten, diese edlen Hildagen, waren wie ich bitter und stolz in ihrer Prahlerei und wild in ihrer Verachtung. Sie waren meines Blutes und mir gleich, und keine Gesellschaft war meiner würdig, außer der ihren."

Sie gewinnt damit den Viareggio-Preis und der Roman wird vom großen ungarischen Kritiker György Lukács als "größter moderner italienischer Roman" gefeiert und Elsa als "begabter [...] als ihr Mann". "Menzogna e Sorcello" macht die 36jährige Elsa berühmt.

Die wirtschaftlichen Bedingungen des Paares verbessern sich, und Elsa besucht 1949 zum ersten Mal Frankreich und England. Sie ziehen aus der alten Wohnung, die sie schon zu Vorkriegszeiten bewohnt haben und die der ungeliebten Schwiegermutter gehört, kaufen einen Dachboden an der Piazza del Popolo in der Via dell'Oca 27 und für Elsa ein Studio in der Gegend von Parioli im Norden der Ewigen Stadt, ebenfalls über den Dächern, das sie jeden Morgen aufzusuchen pflegt, um sich an ihrem eigenen Schreibtisch niederzulassen.

1950 beginnt sie mit der RAI zusammenzuarbeiten, indem sie die wöchentliche Filmkritik-Kolumne betreut. 1950 beginnt sie auch eine sehr komplexe Liebesbeziehung mit dem Filmregisseur Luchino Visconti, mit dem ihr Mann arbeitet, und die drei Jahre anhält, bis Visconti sich wieder seiner Vorliebe für junge Männer erinnert. Sie beginnt auch einen neuen Roman zu schreiben, "Nerina", der nie gedruckt werden wird.
"Es war die belle epoque von Rom. Rom wurde nicht nur für das Kino zu einem Anziehungspunkt, sondern auch für das Theater, die Literatur, die Kultur überhaupt, und zwar auf internationaler Ebene. Alle Diven aus Hollywood kamen hierher, an den Theatern arbeiteten Leute wie Strehler und Visconti, Schriftsteller wie Elsa Morante und Alberto Moravia waren auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, man traf sich im Café, unterhielt sich, tauschte sich aus. Es war extrem lebendig, es gab ein echtes Kulturleben", erinnert sich der Drehbuchautor Raffaele La Capria. 
Mit Visconti im Hintergrund
Doch der Ruhm, der Morante und Moravia unter die größten Autoren des 20. Jahrhunderts hievt, mildert nicht die Missverständnisse, die in ihrer Beziehung lauern. Elsa hat gehofft, dass er sie erlöst von ihren bitteren Erfahrungen in ihren jungen Leben. 

"Belesene Paare sind eine Plage", schreibt Elsa einmal an ihre Freundin Maria Valli, der Frau des Herausgebers von Moravias Werken. Und während er regelmäßig Tag für Tag schreibt und sechs weitere Romane, darunter "Il conformista" ( dessen Verfilmung 1970 der erste Bertolucci- Erfolg wird ) veröffentlicht, legt Elsa immer wieder längere Schreibpausen ein, reist - so 1952 nach Griechenland -  und auf Momente intensiver Kommunikation folgt zwischen dem Ehepaar, aber auch zwischen ihr und ihren Freunden, Distanz und Unbehagen. "Elsa fürchtete und hasste die Einsamkeit, aber sie liebte die Menschen nicht",  hat einmal Elena De Angeli, ihre Herausgeberin bei Einaudi, Elsas Verlag, gesagt. In ihrem Wunsch nach Isolation & wegen ihrer Haltung zu menschlicher Gemeinschaft wird Elsa oft missverstanden oder sogar verurteilt.
"Ja, in mir stand dem Bedürfnis nach Autonomie ein starkes Bedürfnis nach Schutz und Zuneigung gegenüber. Unsere Beziehung war betroffen. Es gab häufig Flucht und Wiederkehr, Abspaltung und Annäherung, Szenen, Neckereien, aber auch wütende Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit. Auch er war ein instabiler Typ, manchmal lief er zu anderen Ufern ... dann kam er zurück und sagte mir, dass es notwendig sei, das zu beenden..."

Als ungeklärtes Problem zwischen den Ehepartnern steht auch die Frage nach eigenen Kindern. Elsa ist auch da widersprüchlich: gleichzeitig will sie Kinder und lehnt die Mutterschaft ab. Schließlich gibt sie den Gedanken ganz auf, denkt allerdings später, dass es eine große verpasste Gelegenheit gewesen ist. Sie führt dieses Unentschlossene zurück auf ihre komplizierte Beziehung zu ihrem Körper, den Geistern ihrer Kindheit, zur weiblichen Sinnlichkeit & Erotik. 

1950er Jahre

Auch die Rivalität schleicht sich mit den Jahren bei dem Autorenpaar ein. Als Elsa an ihrem nächsten Werk "L’isola di Arturo"  ( deutsch: "Arturos Insel" ) arbeitet, geht sie in einem Brief an ihre Freundin Maria Valli auf eine gerade von ihrem Lebensgefährten geschriebene Geschichte ein, die der Freundin gefallen hat:  "Besagte Geschichte ist ein (mittelmäßig gelungenes) Plagiat meiner Kurzgeschichte", schreibt sie da. "Ich sage das [...] einfach, weil sonst in ein paar Jahren, wenn die Daten durcheinander geraten, ihr Alberto-Bewunderer und anti-feminine Rassisten würdet sagen können, dass es meine Geschichte war, die ihn plagiiert hat!"

Mit "L’isola di Arturo" legt Elsa Morante einen Roman voller Arabesken und fantastischer Verwicklungen vor, der sich vollkommen von den zu dieser Zeit üblichen neorealistischen & politisch engagierten Werken ihrer Kollegen unterscheidet.

"Elsa Morante hat nicht nur, wie die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb, "durch Arturo die Weltliteratur um eine der schönsten Knabengestalten bereichert", sondern es gelang ihr auch, ein fast vergessenes Italien in farbenprächtigen Bildern festzuhalten. Arturo, der rückblickend seine Kindheitserinnerungen erzählt, wird nicht müde, die Schönheiten seiner Insel Procida zu schildern: ein Paradies, wo der Knabe mutterlos und unbewacht aufwächst, barfuß, mit wirrem Haar, beinahe wie ein wildes Tier über die Insel streifend, im Wasser genauso zu Hause wie auf dem Land. Eines Tages bringt die Fähre eine junge Stiefmutter ins Haus. In der Furcht, den ohnehin kaum gegenwärtigen Vater zu verlieren, überzieht Arturo das ängstliche, unselbständige Mädchen mit Spott – bis er plötzlich begreift, dass das Unmögliche geschehen ist: Er hat sich in Nunziata verliebt...", so der Wagenbach-Verlag in seinem Klappentext für das meisterhafte Buch, dass so ganz ohne Reflexion und viel Psychologie auskommt.
Premio Strega ( mit Maria Bellonci rechts )
1957 erhält Elsa Morante dafür den wichtigsten italienischen Literaturpreis Premio Strega, der bis dahin noch nie an eine Frau vergeben worden ist. Klar, dass in Italien Stimmen laut werden, die hohe Auszeichnung verdanke Elsa dem Einfluß ihres Mannes ( sechs Jahre später wird es Dacia Maraini ebenso ergehen ). 

In dem Jahr besucht sie auch mit Kulturdelegationen im März die Sowjetunion und im September China. 

Unmittelbar danach, 1958, erscheint die Gedichtsammlung "Alibi". Zwischen 1959 und 1961 fängt sie auch wieder einen Roman an mit dem Titel "Senza i conforti della religione", dessen Ausarbeitung sie später aufgibt.  

In dieser Zeit reist Elsa auf Einladung des PEN-Clubs nach Brasilien und dann nach Indien, wo Moravia und Pier Paolo Pasolini sie erwarten, und sie gemeinsam Kalkutta, Madras, Bombay und den Süden des Landes erkunden.

Mit Bill Morrow
Es folgt im gleichen Jahr eine Reise in die USA. Dort lernt sie den 23 Jahre jungen, gut aussehenden & charismatischen Maler Bill Morrow kennen, der ihre letzte Liebe sein wird. Es entsteht eine tiefe Freundschaft zwischen ihr und dem homosexuellen Mann, der später nach Rom kommt. Elsa gibt ihren ehelichen Wohnsitz nicht auf, bezieht aber auch eine eigene Wohnung. 

1962 hat Bill Morrow, präsentiert von Moravia, eine Ausstellung in der Galerie La Nuova Pesa in Rom. Im April kehrt er nach New York zurück und stürzt sich von einem Wolkenkratzer, vermutlich unter dem Einfluss von LSD. 

Diese schlimme Erfahrung zusammen mit den Problemen des fortschreitenden Alters, die sich bei der 50jährigen allmählich bemerkbar machen, untergraben das ohnehin zerbrechliche seelische Gleichgewicht der Schriftstellerin. Für eine Weile lässt sie das Schreiben sein, Moravia und sie trennen sich endgültig ( sie werden sich aber nie scheiden lassen ), und Elsa besucht Spanien, insbesondere Andalusien. Sie schreibt als Erstes wieder ein langes Gedicht, "Addio", das einen unvermeidlichen Vers für jeden hat, der ein geliebtes Wesen verloren hat ( es wird in "Il mondo salvato dai raggazini" 1968 publiziert werden ).

"Lo scialle andaluso", eine Sammlung von Erzählungen wird im Jahr darauf erscheinen. Im Herbst 1965 unternimmt sie eine zweite Reise in die USA, verbringt dort Weihnachten und reist dann nach Mexiko, wo ihr Bruder Aldo Manager der Commercial Bank of Mexico City ist, und fährt nach Yucatán. 

Die 1960er Jahren bleiben eine Phase der Depression und der emotionalen Schwierigkeiten, ein Jahrzehnt, in dem sie reflektiert über ihr Schreiben, ihre Literatur und einen Großteil ihres bisher Geschriebenen vernichtet. 1968 veröffentlicht sie dann "Il mondo salvato dai raggazini"( deutsch: "Die von Kindern gerettete Welt" ), eine originelle Sammlung von Liedern und Gedichten, die sich ausdrücklich an das jugendliche Publikum richten, in den Augen der Schriftstellerin zu diesem Zeitpunkt "das einzige Publikum [...], das jetzt vielleicht in der Lage ist, den Worten der Dichter zuzuhören".

Sie umgibt sich gerne mit jungen Menschen, darunter die 35 Jahre jüngere Philosophiestudentin Patrizia Cavalli, die sie ermutigt, Lyrikerin zu werden und mit der sie zeitweise jeden Tag zu Mittag isst - eine intensive, aber auch schwierige Beziehung, denn Elsa "wollte jedes Bild, das man sich von ihr gemacht hatte, sofort wieder zerstören, jede Einschätzung relativieren." In Gesellschaft der Jungen zeigt sich ihre Fröhlichkeit, allerdings immer durchtränkt von einer tragischen Note. 1971, als Patrizia Cavalli und Elsa Morante sich beinahe täglich sehen, beginnt die Schriftstellerin mit der Arbeit an ihrem Epos "La Storia", für sie die "Ilias unserer Zeit", an. 

Gegen den Skandal, wie sie es empfindet, dass immer nur die Geschichte der Mächtigen erzählt wird, setzt sie nun ihre eigene Vorstellung von Geschichte in fiktionaler Form. Der Roman, 1974 herausgebracht, siebenhundert eng bedruckte Seiten umfassend, auf Elsas ausdrücklichen Wunsch als Taschenbuch ( mit einem Foto eines Erschossenen des Kriegsreporters Robert Capa auf dem Titel ), damit es für jeden erschwinglich bleibt, wird von vielen Kritikern geradezu bissig kommentiert. Sie halten ihn für populistisch, ideologisch nicht gefestigt genug ( aus linker Sicht ), individualistisch, verbindet die Autorin doch die "große Geschichte" des Zweiten Weltkriegs mit der nicht minder tragischen der Opfer dieser Geschichte, in diesem Fall die verhärmte halbjüdische Lehrerin Ida und ihr kleiner Sohnes Useppe, im von den Nazis besetzten Rom. Angeregt hat Elsa Morante dazu eine Zeitungsnotiz in einem Lokalblatt von 1947 über eine Mutter, die man in einer Wohnung in Testaccio vollkommen verwirrt über dem Leichnam ihres sechsjährigen Sohnes gefunden hat, bewacht von einem bissigen Hund. 

Ida, wohnhaft in der Nähe der Stazione Termini, verwitwet und Mutter des heranwachsenden Nino, der sich für die Faschisten begeistert, begegnet mittags an einem Januartag 1941 einem betrunkenen deutschen Soldaten, der ihr in ihre Wohnung folgt und sie vergewaltigt. Neun Monate später bringt sie Giuseppe, genannt Useppe, einen kleinwüchsigen Jungen zur Welt. Dieses Kind verzaubert seine ganze Umgebung, hat es  doch den unschuldigen Blick für die Schönheit des Lebens trotz der Beeinträchtigungen durch den Krieg noch nicht verloren. Ida hingegen ist panisch, sieht sich gezwungen angesichts der Räumung des jüdischen Ghettos, ihre Wurzeln nachhaltig zu verbergen. Hinzu kommt die tägliche Suche nach Lebensmitteln. Nino, der Fünfzehnjährige, entwickelt sich unterdessen vom Kleinganoven zum Partisanen und umgekehrt: Nach 1943 ist er Schwarzmarkthändler. Als der Krieg endlich zu Ende ist, heißt das für Ida gar nichts: Nino kommt auf der Flucht vor der Polizei bei einem Autounfall ums Leben und Useppe beginnt unter epileptischen Anfällen zu leiden wie seine Mutter. Sie findet ihn eines Tages wie eine Schwalbe, die in der Luft vom Blitz getroffen wurde, auf dem Boden im Nebenzimmer liegend... Useppes Lebenszeit ist die erzählte Zeit des Romans.

Das Leid der Menschen ist unfassbar, aber Elsa Morante gelingt das Kunststück, in dünnen, aber außergewöhnlichen Dialogen die nach dem Sinn ihres Lebens suchenden Menschen in allen Nuancen ihrer Realität zu erfassen. Der kleine Useppe wird die Grausamkeit der Welt nicht überstehen, da erlaubt Elsa Morante dem Leser keine Hoffnung. Alles folgt einer brutalen Sinnlosigkeit. 

"La Storia" verkauft sich im Erscheinungsjahr 800.000 Mal. Da mögen die Kritiker noch so wüten, die Leser lieben das Buch. Elsa ist gelungen, was sie gewollt hat: ein möglichst breites Publikum erreichen, damit ihre Botschaft die größtmögliche Verbreitung findet. Es wird in ganz Italien, in Espresso - Bars wie Eisenbahnabteilen, diskutiert.

1986 wird "La Storia" mit Claudia Cardinale & Andrea Spada verfilmt werden. Erst in den 1990er Jahren ändern die Kritiker ihre Meinung, und der Roman zählt heute so zu den wichtigsten Werken der italienischen Nachkriegsliteratur.

Schmerzlich für Elsa: Auch Pier Paolo Pasolini, ein enger Freund, ist unter den Kritikern und liefert einen gnadenlosen Verriß ab. Elsa wird belasten, dass sie sich nicht mehr getroffen haben, bevor er am 2. November 1975 ermordet aufgefunden wird.

Sie ist jetzt eine Frau, die ihre Kindheit weit hinter sich gelassen hat, erinnert sich aber - wie es wohl so beim Altern üblich ist -mit immer mehr Nostalgie an die Unschuld und Einfachheit der frühen Jahre. Nie wirklich von extrovertierter Natur, wünscht sie sich im Laufe der Zeit immer mehr, sich von den Menschen und der Welt zu distanzieren, während sie gleichzeitig die Einsamkeit schmerzt. Ihr eigenes Leben gerät zu einem Kunstwerk, voller Unschärfen und märchenhaften Elementen. Ihre Enttäuschungen, nie der Ernüchterung gewichen, im Gegenteil, dienen ihr dazu, eine Parallelwelt für ihre Geister zu erschaffen, meint René De Cecatty in seiner 2018 erschienenen Biografie. Elsas Existenz sei für den journalistischen Klatsch wie für Kulturanalysen nicht gerade einfach.

"Aracoeli" heißt Elsas letztes Buch mit einem Helden, der vom Leben enttäuscht ist und sich in die Kindheit zurücksehnt.  Eine Reise ins Land der Mutter ruft die Erinnerung, auch an ihren körperlichen Zerfall, ins Gedächtnis zurück. 1982 kommt es heraus und erhält 1984 den Medici-Preis. 

Das Alter kommt der Schriftstellerin selbst wie das Wüten eines Orkans vor. Auch ihre körperliche Verfassung hat schon Schaden genommen: Kurz vor Beendigung des Romans erleidet sie bei einem Sturz einen Oberschenkelbruch, der sie lange ans Bett fesselt. Im Dezember 1981 erholt sie sich in einer Schweizer Klinik, bleibt aber weiter bettlägerig. Im April 1983 unternimmt sie einen Suizidversuch,  der aber von ihrer Haushälterin Lucia Mansen verhindert wird. In eine Klinik eingeliefert, entdeckt man dort eine Hydrozephalitis. Eine Operation lässt sie fast unbeweglich zurück. Die Preisverleihung 1984 gibt ihr für einen Moment wieder den Impuls zum Leben. Doch bei einem zweiten chirurgischen Eingriff erleidet sie einen Herzinfarkt. Am 25. November 1985 stirbt Elsa Morante, 73jährig, in Rom. Ihre Asche wird in der Nähe der Insel Procida, Arturos Insel, im Meer verstreut. Alberto Moravia stirbt knapp fünf Jahre später.

Erst im darauffolgenden Jahrzehnt, dem letzten des 20. Jahrhunderts wird die literaturhistorische Bedeutung der Elsa Morante gewürdigt und die Bewertung ihres Hauptwerks "La Storia" - wie schon geschrieben - revidiert. "Romane sind autobiografischer als alles andere, was man über sich selbst sagen könnte", hat die Schriftstellerin spät in ihrem Leben geschrieben. "Es spielt keine Rolle, wie die Fakten im Leben auftreten. Es ist wichtig, wie sie erzählt werden."




4 Kommentare:

  1. Nun kenne ich zu ihrem Namen auch ihre Geschichte, zumindest eine ihrer möglichen. Denn, wie Du schon schreibst:...denn Elsa "wollte jedes Bild, das man sich von ihr gemacht hatte, sofort wieder zerstören, jede Einschätzung relativieren."
    Das ist ein sehr anstrengendes Leben gewesen mit dieser Einstellung.
    Erstaunlich wieviel Kraft sie hatte, es zu leben.
    Wahrscheinlich gibt AutorInnen das Schreiben viel Kraft zurück, so stelle ich es mir jedenfalls vor.
    Ich habe nie etwas von ihr gelesen, aber auch nicht von Moravia.
    Ihr Leben jedoch beeindruckt mich sehr.
    Danke fürs Recherchieren und Vorstellen dieser erstaunlichen Frau.
    Herzlichst, Sieglinde

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  2. Wieder mal ein Fenster aufgestoßen zu einer sehr spannenden Autorin, die mir bislang noch kein Begriff war. Das war sehr spannend zu lesen! Über italienische Literatur wusste ich bislang nur wenig.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. Morante und Moravia, die meissten kennen ja nur ihn. Ich gestehe, ich habe vor ewigen Zeiten nur mal den Film gesehen. Von ihrem Leben wusste ich nur wenig, nur dass es ein zerrissenes war, wie so oft bei kreativen und anders denkenden Menschen. Danke für wieder mal eine gute Frauenkurzmonografie
    Liebe Grüsse
    Nina

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  4. Great Women #270: Elsa Morante ist top

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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