Donnerstag, 20. Februar 2025

Great Women #408: Gabriele Reuter

Ich gebe zu: Ich arbeite mich seit einiger Zeit an Theodor Fontane ab ( nein, ich bin nicht Effi-Briest-geschädigt wie Schülergenerationen nach mir, Fontane wurde in meiner Zeit nicht gelesen außer dem Ribbeck ). Aber meine Recherchen zu seiner Frau Emilie ( hier das Ergebnis ) kam er mir nicht gerade sympathisch rüber. Und die Lektüre seines "Stechlins" zu dieser Zeit schaffte es nur zum Einschlafstimulans in den schlaflosen Nächten meiner Trauerzeit. Da horchte ich auf, als ich erfuhr, dass im gleichen Jahr wie die "Effi Briest" ein Roman erschien ist, der "Aus guter Familiehieß und von sehr ähnlichem Thema, allerdings weniger schön & gemütlich, denn patriarchatskritisch. "Aus guter Familie" verkaufte sich bis 1931 in 28 Auflagen. Es war der erste Bestseller im S. Fischer-Verlag, weitere Bestseller der Autorin Gabriele Reuter folgten. Um sie geht es mir also heute.

"Und plötzlich wusste ich, 
wozu ich auf der Welt war: 
zu künden, 
was Mädchen und Frauen schweigend litten."
......
"Der einsame Mensch vermag 
Kräfte der Seele zu gewinnen, 
die der in tausend irdische Liebesbande Verstrickte 
nie erfassen kann."

Gabriele Elise Karoline Alexandrine Reuter wird am 8. Februar 1859 in Alexandria/Ägypten im elterlichen Haus am Mahmudiye-Kanal "in Anwesenheit einer französischen Hebamme, einer italienischen Wartefrau und einer afrikanischen Amme" geboren. 

Sie ist das erste Kind der Johanna Behmer aus Magdeburg und ihres Ehemannes Carl Reuter aus Treptow a. d. Tollense in Pommern, ein Großkaufmann im Textilhandel. Zuvor hat die Mutter schon ein Zwillingspärchen zur Welt gebracht, das nach wenigen Lebensstunden gestorben ist. Vier Brüder  - Thomas (*1860), Albert (*1862), Martin (*1864) und Carlo (*1866) - werden auf Gabriele folgen, eine Schwester, Valerie (*1870), stirbt ebenfalls im Babyalter. 

Der Vater ist bei der Eheschließung 1854 Sekretär des preußische Konsuls in Ägypten gewesen und 32 Jahre alt, seine Frau acht Jahre jünger. Die Beiden haben lange um diese Verehelichung kämpfen müssen, da die Familie der Behmers dem Heiratskandidaten eher ablehnend gegenüber eingestellt gewesen sind.

Carl Reuter kommt aus eher ortsständigen Verhältnissen - "friedliche Ackerbürger" -, doch ihn als Nesthäkchen hat ein "unruhigeres Blut" nach der Kaufmannslehre in Berlin und Tätigkeit in einem großen Modehaus - dem ersten in Berlin, Gerson am Werderschen Markt - letztendlich über die Meere getrieben, zunächst auf eine Bildungsreise durch England, Frankreich und den Orient. Dort sieht er die Möglichkeiten eines "fruchtbaren Absatzgebietes". Er legt seine Ansichten auch schriftlich dem preußischen Staatsapparat vor. Das bringt ihm den Posten als kaufmännischer Agent im ägyptischen Konsulat ein, mit der Aussicht auf Ernennung zum Konsul. Seine Hoffnungen erfüllen sich nicht erfüllen, so dass er sich mit dem Textilhandel selbständig macht.
Mahmoudyia Kanal
CC BY-SA 2.5

Auf Gabrieles mütterlicher Seite dominieren einerseits künstlerische Interessen & Begabungen: So ist eine Urgroßmutter Gabrieles, die Dichterin Philippine Engelhard, eine kleine Berühmtheit ihrer Zeit und eine der sogenannten Göttinger Universitätsmamsellen ( siehe auch dieser und dieser Post ) gewesen.  Andererseits gibt es auch Inhaber von Hofämtern.  So ist der Großvater Gabrieles, ein Landmann und Freimaurer, Pächter herzoglicher Domänen und damit Beamter des anhaltischen Fürsten.

Die orientalische Umgebung, in der die Familie Reuter zeitweilig lebt, wird als Märchenwelt erfahren und verschafft dem Mädchen, Ella gerufen, unvergessliche Erlebnisse, so dass es auch später gerne in einer Fantasiewelt zu Hause bleibt. 

"Den ersten Winter meines Lebens verbrachte ich in Kairo. Mein Vater gründete dort eine Zweigniederlassung seines Import- und Exporthandels. Er hatte ein türkisches Haus an der Esbekieh gemietet [... ] Die Esbekieh war auch noch keine mit Kaffeehäusern und Musikpavillons besetzte öffentliche Anlage von Teppichbeeten, Springbrunnen und elektrischen Lampen, sondern ein feierlicher dunkler Hain von riesenhaften Sykomorenbäumen."

"Unerhört farbig, unerhört reich" wird sie auch bei ihrer Rückkehr 1869 das Land empfinden. 

In Dessau - dort lebt die Großmutter Behmer als Witwe - hat die Familie ab 1860 in der Kavalierstraße im Hause des Hofbankiers des Königs von Preußen einen prächtig ausgestatteten Zweitwohnsitz zur Miete eingerichtet. Ein erstes Mal ist das kleine Mädchen als Einjährige nach Deutschland gekommen. 1864-68 bleibt die Mutter dauerhaft dort, denn ihre Kinder sind kränklich und sollen im raueren deutschen Klima abgehärtet werden. Johanna Reuter ist eine Anhängerin der Homöopathie ( die Gabriele später entschieden ablehnen wird ) und verordnet ihren Kindern eine frugale Lebensweise. Viel Zeit verbringen sie bei Verwandten, Heinrich & Luise Nathusius ( letztere die älteste Schwester der Mutter ), und deren zwölf Kindern auf dem Gut Althaldensleben im heutigen Sachsen - Anhalt. Vater Reuter verbleibt derweil die meiste Zeit in Kairo.

Das Mädchen lebt in ihren Geschichten, die für sie realer sind als ihre Wirklichkeit, beschreibt sich später in ihrem Rückblick als sehr gehorsam und gläubig, sich geborgen fühlend in einer großen und noblen, da religiös wohlanständig und gut situierten Familie. Unterrichtet wird sie von Hauslehrern, in Tanz & Anstand zusammen mit der Prinzessin Elisabeth von Anhalt - Dessau
"Etwas Prinzessinnentum war immer schon in mir, das wurde durch diesen Umgang nicht wenig gefördert. Prinzen und Prinzessinnen gehören nun einmal in jedes Märchen, und meine Kindheit war ein Märchen voll von guten Dingen.
Der geäußerte Wunsch, nachdem sie erfahren hat, dass drei Mitschülerinnen im "Sommernachtstraum" mitgewirkt haben, selbst Schauspielerin zu werden, wird vom Vater schnell "abgebügelt". Die Idee, Schriftstellerin zu werden sei ihr bereits in die Wiege gelegt worden: So zitiert sie später die Prophezeiung einer Besucherin, Tochter eines bedeutenden englischen Gelehrten vor Ort, am Wochenbett der Mutter, in ihrer Lebensbeschreibung "Vom Kinde zum Menschen" von 1921.
Wörlitzer Gartenreich
CC BY-SA 4.0

Trotz des Besuches des Instituts des Fräulein Anna Braune am Ende der Kavalierstraße bleibt die Bildung Gabrieles höchst lückenhaft - alles ist hinter einem "Ahnungsschleier" verborgen geblieben und beschränkt sich, wie damals üblich, auf die Vorbereitung als spätere Gattin & Familienmutter. Sie wird später diese "Fassaden- oder Konversationsbildung" kritisieren, aber ihre Kinderzeit auch verklären aufgrund der vielen Erlebnisse in gehobenen Kreisen, der Ausflüge und Spiele im Wörlitzer Gartenreich zum Beispiel.  

Als der Vater 1868 unverschuldet in Schwierigkeiten gerät, kehrt die Familie 1869 nach Auflösung des Dessauer Haushaltes zurück nach Alexandria. Die folgenden Jahre, nicht ohne Kummer & Leid, wird sie in der Rückschau besonders orientalisch-prächtig erleben. "Alles lebte in dieser Gegend für uns von tausend Erinnerungen."

1872 ist die Familie wieder in Deutschland. Es steht die Silberhochzeit des Paares Nathusius an, und die 13jährige Gabriele verliebt sich bei dieser Gelegenheit in ihren Vetter, den Kürassier Jacobus von Nathusius, fünf Jahre älter als sie. Den romantischen Schwärmereien setzt der plötzliche Tod des Vaters am 14. Oktober des Jahres, am Tag vor der Abreise aller nach Ägypten, ein jähes Ende. 

Obwohl schon länger herzleidend, hat Carl Reuter seine Frau nie vorbereitet auf eine potentielle Übernahme seiner Geschäfte in Ägypten. Stattdessen hat er, als ein lukratives Geschäft mit der ägyptischen Regierung betreffs Militäruniformen ansteht, einem jungen Verwandten aus der Familie seiner Frau vertraut und als Kompagnon eingestellt. Der veruntreut die Gelder des Unternehmens und verursacht damit geschäftliche Turbulenzen. Aus familiärer Rücksicht zeigt Carl Reuter den jungen Mann nicht an. Diese Umstände wird Gabriele später als Schriftstellerin nur einmal aufgreifen, denn gegen die angesehene Familie Behmer kann sie nicht "anstänkern", gilt doch nach landläufiger Meinung im Umfeld die soziale Degradierung der Reuters als durch die Mutter selbst verschuldet.

Gabriele wird noch im selben November in der fortschrittlichen Internatsschule "Neu-Watzum" der Henriette Schrader-Breymann, einer Nichte Fröbels, bei Wolfenbüttel untergebracht. Eine Großtante finanziert. In "Neu-Watzum" werden Mädchen aus bürgerlichem Hause auf die pädagogische Arbeit mit Kindern vorbereitet. Doch Gabriele fühlt sich fremd unter all den fröhlichen anderen Mädchen. 

"Meine Kindheit war zu Ende." Dass sie von der Mutter in ihren Briefen in deren existenzielle Nöte einbezogen wird, belastet die gerade mal Vierzehnjährige. Ihre Schlussfolgerung ist aber: Sie muss eine grandiose Schriftstellerin werden!

Tatsächlich kehrt die Mutter 1873 aus Ägypten zurück und lässt sich zunächst in Neuhaldensleben mit ihrer Kinderschar nieder. Gabriele verlässt das Internat, um sie zu unterstützen. Sie erhält wieder einmal Hausunterricht, besonders im Rechnen. Bei einem Onkel in Mecklenburg bekommt sie dann Konfirmandenunterricht und von seiner Frau solchen in Hauswirtschaft - "eine umfriedete Existenz", aus der sie die Mutter bald wieder abholt. Diese ist der Meinung, dass der "Aufenthalt  in unterschiedlichen Haushaltungen mehr zur Bildung eines Menschen beitrage, als alle Weisheit aus Büchern." Und so wird Gabriele auf viele Besuche geschickt...
Hermann Behmer: "Gabriele Reuter"
1892

Im Mai 1875 wird Gabriele dann von ihrer geschätzten Tante Auguste "Gustchen" Oberbeck, eine "gealterte Elfe" nach Weimar eingeladen. Die Tante hat sich dort das in der Jugend versagte Musikstudium gegönnt. Gabriele, mittlerweile sechzehn Jahre alt, führt sie in ihre vielfältigen kulturellen & gesellschaftlichen Kontakte ein.

"Mit einem inneren Jauchzen spürte ich es: in Weimar atmete die Seele Heimatluft. Gegen die Sehnsucht, die mich dorthin zog, kam die Lockung nach Dessau, wo mir doch weit mehr jugendliche Vergnügungen blühten, nicht mehr auf."

Sie fängt an, kleinere Texte zu schreiben,  zumeist Schilderungen aus Ägypten, die gefallen und nicht schlecht bezahlt werden und der jungen Frau nicht nur ein Sparbuch, sondern auch das Interesse der Männer einbringen. Durch Tante Gustchens Schwester, Tante Henne, geschieden, Freidenkerin, an Debatten interessiert, lernt sie liberale Ideen kennen und fühlt ihren Verstand "erweckt". "Ich quälte mich ehrlich um eine wohlabgerundete und doch vertiefte Weltanschauung."

In ihrer Suche nach einem Standpunkt nimmt sie auch in Berlin eine Möglichkeit wahr, dem Hofprediger Stoecker zuzuhören:

"Es war eine Hetzrede schlimmster Art gegen die Juden. Der Mund des Mannes auf der Kanzel strömte über von geiferndem Haß, von blinder, wilder Verfolgungsgier. - Und dies war ein Jünger und Nachfolger Jesu? [... ] ... doch ich habe immer gefunden, der durch persönliche Erfahrung geklärte Blick schaut tiefer in das Wesen der Dinge als der durch theoretische Prinzipien in eine bestimmte Richtung gedrängte."

Über ihren ebenfalls in Weimar lebenden Onkel, den Maler Hermann Behmer, und seine Frau Elisabeth, bei denen sie schließlich wohnt, kommt sie in Berührung mit anderen bildenden Künstlern, darunter Christian Rohlfs. In diesem Zusammenhang trifft sie auf einen schon lange ersehnten "Märchenprinzen", den "Herrn von S." ( dahinter versteckt sich wohl der Düsseldorfer Friedrich von Schennis, ein eleganter Bohémien & Dandy ). "Dieser Mann war nie zu gewinnen. Von mir nicht," so vergöttlicht ihn die nunmehr Zwanzigjährige alsbald. Ihre Gefühle nennt sie "schmerzliche, resignierte Genugtuung". Bei einem erneuten Aufeinandertreffen zwei Jahre später ergreift Gabriele nicht die Chance, eine Beziehung aufzunehmen, vor sich selbst rechtfertigend, "den sichern Schatz der Vergangenheit nicht durch eine ungenügende Gegenwart aufs Spiel setzen zu wollen." Wie kompliziert!

In der Zwischenzeit ist sie wieder nach Neuhaldensleben zurückgekehrt, um den Haushalt der zunehmend depressiver werdenden Mutter zu führen, was sie eigentlich als "demütigende Arbeit einer Magd" empfindet. Tagträume sind ihr wahres Leben. Der geistig anregende Kreis an Frauen wie in Weimar fehlt ihr. Anfang Oktober 1879 finanziert sie, nach Uneinigkeiten mit ihrem Vermieter, einen Umzug samt Mutter und jüngstem Bruder nach Weimar.

Schillerhaus in Weimar
um 1890
Dort kann sie sich immer wieder dem "echten idyllischen Weimarzauber" hingeben. So frönt sie z.B. mit den Frauen rund um Elisabeth Behmer dem Weimarer Hobby der Tableau vivant. Dabei kann sie ihre Scheu ablegen und fühlt sich mit sich wohl, während sie an der alltäglichen jungen Frau allerhand herumzumäkeln hat: zu dünn, zu wenig Busen, zu kleinstädtisch zugeschnittene Kleider, dazu noch geschenkt, geerbt, gefärbt. Zu gern hätte sie, dass ihr "Selbstgefühl gehoben" würde...

Zwei Seelen wohnen in ihrer Brust: die romantische mit dem "idealsten Begriffe von der Ehe" und "die vernünftige Wirklichkeitsseele", die ihr Leben nicht durch ein Begehren behindert werden soll. Offensichtlich genießt sie die anspruchslosen Künstlerfeste in ebenso anspruchslosen Lokalen, "aber etwas Sehnsucht nach jener andern Welt der Sünde, der großen tollen Erregungen verließ mich nicht."

Doch was ist mit der jungen Schriftstellerin? Sie lässt sich "vom Strom der Tage treiben [...] ohne allzuviel Nachdenken." Das Schreiben hat sie aufgegeben. Erst die von der Engelhardtschen Familienstiftung ermöglichte "Kur" in den bayrischen Bergen vermag die Steine wieder ins Rollen zu bringen: Gabriele fängt ihren ersten Roman an. Tante Gustchen schreibt Kapitel für Kapitel ins Reine. 

Das Manuskript ruht eine lange Weile. 1888 publiziert sie "Glück und Geld. Ein Roman aus dem heutigen Egypten" in Leipzig und hält sich länger in Berlin auf. 29 Jahre ist sie jetzt. Nach einem Jahrzehnt wirkt Weimar, das sie einst so beflügelt hat, wie "lähmendes Gift". 
"Mein eignes inneres Sein konnte sich nicht im kleinen Philistertum verspinnen. [... ] Und immer, wenn es mir zumut war, als müsse ich doch am Ende ersticken, drang es mir von außen wie ein Salzhauch des Meeres, wie ein ferner Ruf aus endlosen Weiten in die Seele: Was du um dich siehst, ist nicht die Welt - ist nur ein winziger Ausschnitt, der durchbrochen werden kann -  und draußen winkt das Unermeßliche mit unausdenkbaren Möglichkeiten!"
Ihre Erlebnisse verarbeitet sie in "Episode Hopkins. Zu spät. Zwei Studien" (1889). Sie nimmt an dem Treffen des Allgemeinen Deutschen Schriftsteller - Verbandes in Eisenach teil, wo sie "in Berührung mit einer Fülle von bekannten Namen" kommt, lauter reife Männer "von ungewöhnlicher Bildung und ungewöhnlichem Geist, die mitten im großen wogenden Strom des modernen Kulturleben" stehen. Endlich empfindet sie sich als selbständiger Mensch, der sagen kann, was er denkt. Auch fällt sie nun vom Christentum ab: "ein glückseliges Armebreiten der ganzen ungeteilten, vielfarbigen, fürchterlichen, wunderschönen Welt entgegen"!

Sie unternimmt erste eigenständige Reisen zu anderen Schriftstellertagungen in Dresden & München und macht Bekanntschaft mit weiteren Künstlern ihrer Zeit, darunter der in Schottland geborene "SturmdichterJohn Henry Mackay, mit dem sie - trotz großer Gegensätze - eine langjährige Freundschaft verbinden und der ihr 1895 einen Kontakt zu dem Verleger Samuel Fischer vermitteln wird. 

München verspricht ihr frischen Wind, sie packt "den Stier an den Hörnern" und reist samt sechzigjähriger Mutter 1890 nach Bayern, um sich in der Landschaft und der ortsansässigen Bohème umzutun. Sie besucht die Gründungsfeier der "Gesellschaft für modernes Leben", wo ihr die Idee zu ihrem späteren Erfolgsroman "Aus guter Familie" kommt. Als die Mutter abermals erkrankt, zieht sie aber wieder mit ihr nach Weimar zurück.

Dort haben sich allerdings inzwischen neue Intellektuelle eingefunden, darunter Eduard von der Hellen und Rudolf Steiner, beide Archivare des Goethearchivs, und der Dramatiker Hans Olden. Bei einem Treffen bei ihm und seiner Frau Grete stellt Gabriele ihren Roman erstmals vor. Deren Begeisterung ermutigt sie zu "kräftiger Arbeit".

Neu inspiriert, liest sie die Schriften Friedrich Nietzsches, Arthur Schopenhauers und Ernst Haeckels, knüpft Kontakte zum Verein "Freie Bühne" in Berlin, lernt u. a. die Dramatiker Gerhart Hauptmann, Otto Erich Hartleben und Ernst von Wolzogen kennen. 

1895 kommt er dann im Fischerverlag heraus, der Roman, der Gabriele Reuter quasi über Nacht berühmt macht und in Literaturzeitschriften und feministischen Blättern eine erregte Debatte auslöst. "Aus guter Familie" sollte ursprünglich "Agathe Heidling" heißen:

1907
Der Roman erzählt die Leidensgeschichte jener Agathe Heidling im wilhelminischen Deutschland, die am typischen Lebensweg der bürgerlichen Frau als "Jungfrau, Gattin und Mutter" in seiner Unvereinbarkeit mit der individuellen Persönlichkeit & Interessen und dem realen Leben nach den Konventionen der Zeit scheitert. Er setzt ein mit dem Tag der Konfirmation, einem wichtigen Ereignis im Leben eines jungen Mädchen des 19. Jahrhunderts, weil es dann als heiratsfähig gilt. Zwei Jahrzehnte ihres Lebens werden beschrieben, in denen sie sich immer wieder den Ansprüchen & Ideologien der Eltern anpasst, eine erwünschte Verheiratung zwischenzeitlich scheitert, weil ihr Bruder Walter ihre Mitgift für seine Spielschulden aufgebraucht hat. Viele Möglichkeiten, ihr Leben sinnvoll zu füllen, stehen Agathe danach nicht mehr zur Verfügung. Sie probiert, was passen könnte, scheitert und wird schließlich in eine neurasthenische Heilanstalt eingewiesen ( Neurasthenie entspricht der heutigen Diagnose 'Burn-out' ).  

Das alles schildert Gabriele Reuter ohne versöhnlichen Ton, ernst, oft auch bitter ( es fehlen die Fontaneschen  Schmunzelmomente ) und kann auch keine Lösung für die dargestellten Probleme bieten. "Bei Reuter (...) gibt es kein Ende, das einen beruhigt einschlafen ließe", so Nicole Seifert. Heute wertet die Literaturwissenschaft ihren Tabubruch - sie thematisiert offen den sexuellen Missbrauch von Frauen durch Männer - als Innovation innerhalb des Genres des gesellschaftskritischen Romans.

Das Buch führt zur Identifikation einer ganzen Generation und der Frauenbewegung. Dem zeitgenössischen Lesepublikum ist es geläufiger als Theodor Fontanes "Effi Briest". Der österreichische Schriftsteller Karl Federn kommentiert 1904:

"Nicht alle Mädchen 'aus guter Familie' gehen so armselig zugrunde, wie die unglückliche Heldin ihres Romans, aber nur sehr wenig Mädchen aus guter Familie wird es geben, deren Schicksal und Entwicklung nicht irgendwie durch die gleichen törichten Schranken gehemmt und gestört worden, in deren Charakter nicht eine Spur der Jämmerlichkeiten der 'guten Familie' verhängnisvoll geblieben ist. Darum hat das Buch auch einen so überaus starken Erfolg gehabt."

Und der ungleich berühmtere Thomas Mann wird in einem Essay im gleichen Jahr schreiben, dass Reuter "vor allen übrigen die Sendung des weiblichen Genies in der modernen Literatur erkannt" habe.

Dem S.-Fischer-Verlag verschafft Gabrieles Buch übrigens seinen ersten Bestseller, und der Autorin eine erneute Übersiedlung nach München, in die Schwabinger Seestraße 41/2. Hier tritt sie im Jahr darauf in den 1894 auf Anregung von Anita Augspurg ( siehe dieser Post ), Sophia Goudstikker und Emma Merk gegründeten "Verein für geistige Interessen der Frau" ein. Bis 1898 ist sie im Vorstand des Vereines aktiv.

Wie so viele Künstler ihrer Zeit erkundet sie von Schwabing aus das Voralpenland. Im Seehotel "Leoni" in Berg am Starnberger See lernt die 38-Jährige den in München ansässigen Schriftsteller und Privatgelehrten Benno Rüttenauer kennen. Sie wird von ihm schwanger und bringt am 18. Oktober 1897 im Geburtshaus für ledige Mütter in Erbach an der Donau ihre Tochter Elisabeth "Lili" zur Welt. 

Im Roman "Das Tränenhaus" (1908) wird sie die dortigen Verhältnisse gewohnt sozialkritisch literarisieren. Ihre Mutterschaft, die für sie einen sehr wichtigen Einschnitt in ihrem Leben ausmacht, bewältigt Gabriele im Gegensatz zu ihrer Protagonistin im Buch, der Schriftstellerin Cornelie Reimann, auch ohne Ehepartner. ( Eine Vaterschaftsanerkennung für ihre Tochter erfolgte erst im Zuge der Nürnberger Rassegesetze fast vier Jahrzehnte später durch Rüttenauer. ) 

Neben der strukturellen Gewalt, der die jungen Frauen im Geburtshaus ausgesetzt sind, verhandelt der Roman ambivalent die Auffassung von "natürlicher" Mutterliebe, wie sie beispielsweise Lou Andreas-Salomé in jener Zeit konstatiert, wenn sie die weibliche Bestimmung zum "Muttertier" vertritt. Die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit als Schriftstellerin gelingt aufgrund weiblicher Solidarität, so Gabriele, die dazu führt, dass die Erschöpfung erträglich und schließlich überwunden werden kann.

Es ist enorm, was die junge Mutter in den Folgejahren an Romanen, Erzählungen, Essays produziert, darunter einfühlend-belletristische Biographien über Marie v. Ebner-Eschenbach (1904; siehe dieser Post ) und Annette v. Droste-Hülshoff (1905), die viel Resonanz finden. Das macht sie zu einer der gefragtesten Schriftsteller*innen der Münchner Bohème, die sie aber schon vor der Jahrhundertwende in Richtung Berlin verlassen hat. Sie bleibt aber Mitglied im Münchner Verein für Fraueninteressen. 

Als Fünfzigjährige zum Geburtstag
in der Zeitung
Die immer kränkliche Mutter stirbt 1903. 1904 und 1908 sind zwei längere Aufenthalte auf dem Monte Verità von Ascona im Schweizer Tessin bekannt. Dort verfasst sie weitere Prosa. Von dieser Zeit handelt der Schlüsselroman "Benedikta", der 1923 herauskommen wird.

Es entwickelt sich eine nähere Bekanntschaft mit Käthe Kruse, der später berühmten Puppenmacherin, selbst ein "uneheliches" Kind und zunächst Mutter zweier Töchter, denen ein ebensolcher Makel angehaftet hat, bis ihre Eltern 1909 geheiratet haben. Ihre Erinnerungen "Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend" (1921) werden Käthe und ihrem Mann Max gewidmet sein.

Gabriele Reuters Literatur, da sie spezifisch weiblich markierte "Seelenzustände" als Resultate gesellschaftlich bedingter, zerstörerischer Lebensverhältnisse zum Thema hat, wird unter der Rubrik "Frauenliteratur" abgelegt, "und die wird bekanntermaßen nicht als ernsthafte Konkurrenz zur 'hohen Literatur' betrachtet. Der Moment, in dem ein Buch der sogenannten Frauenliteratur zugewiesen wird, ist der Moment, wo es nicht mehr bei den Großen mitspielt," so Nicole Seifert an dieser Stelle. Und "Frauenliteratur" trägt bis heute ja immer  noch das Etikett "trivial "...

Dabei lässt ihre beobachtende, naturalistische Literatur psychoanalytische Sehweisen im Freud’schen Sinne erkennen. Mit dessen Werk hat sie allerdings erst nach 1895 Bekanntschaft gemacht. Der Vater der Psychoanalyse wird ihr bescheinigen, "die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung der Neurosen" geschildert zu haben.

Auch während des Ersten Weltkriegs publiziert Gabriele weiter. Mit Beginn der Weimarer Republik erfährt sie noch einmal Aufmerksamkeit für ihre Autobiografie "Vom Kinde zum Menschen". Doch weiterer schriftstellerischer Erfolg bleibt aus. Sie schreibt nun bei der bürgerlich - liberalen Wiener "Neue Freie Presse" eher deutsch-national gesinnte Kolumnen ( lehnt den Nationalsozialismus aber wegen seines Antisemitismus ab ).

1929 kehrt Gabriele Reuter endgültig nach Weimar zurück. Die Weltwirtschaftskrise hat die 70-jährige Schriftstellerin um ihre Ersparnisse gebracht. In den folgenden zehn Jahren arbeitet sie noch als Rezensentin für die "New York Times". Der Produktionsdruck dieser Erwerbsarbeit schenkt ihr allerdings keinen Raum mehr für hochwertiges literarisches Schaffen. Wegen ihrer nachlassenden Sehkraft benötigt sie die Unterstützung durch ihre Tochter Lily, die nach einer kurzen Ehe und dem Tod des gemeinsamen Sohnes von ihrem Mann, dem Maler Johannes Avenarius, geschieden ist. 

1939 ziehen Mutter und Tochter, als die Lebenssituation prekär geworden ist, aus der Wohnung an der Freiherr-vom-Stein-Allee in das "Haus zur Sonne" der Burg- und Reichsgräfin Daisy zu Dohna-Schlodien.

Am 13. November 1941 stirbt Gabriele Reuter mit knapp 82 Jahren im Beisein ihrer Tochter an "Altersschwäche", so der Totenschein. Ihr Urnengrab auf dem Historischen Friedhof in Weimar gibt es nicht mehr. Ihr Nachlass befindet sich im Goethe- und-Schiller-Archiv. 

Anfang der 1980er Jahre wird sie im Rahmen kritischer Untersuchungen zur Weiblichkeit um 1900 wiederentdeckt. Eine Gesamtausgabe ihrer Werke - immerhin siebzehn Romane,  - hat es nie gegeben, und auch in die Literaturgeschichtsschreibung ist sie nicht aufgenommen worden. Theodor Fontanes Werk dagegen gibt es inzwischen in mehreren Gesamtausgaben, seine Balladen und Romane sind Schullektüre, seine Werke fraglos Bestandteil des Kanons und zu keiner Zeit vergessen.

Dabei hat Gabriele Reuter durch ihre Werke die Diskussion der Rechte von Frauen & Mädchen auf Bildung, eigenständige Entwicklung und Gleichbehandlung zu ihrer Zeit damals in breite Kreise getragen und ein Umdenken mitinitiiert. Wenigstens eine Erinnerungsplakette an dem Haus in Weimar, in dem sie am längsten gewohnt hat, hätte sie verdient, findet ihre Biografin Annette Seemann. Finde ich auch.

                                                                         

Weitere bemerkenswerte Frauengeschichten - Gedenktage dieser Woche habe ich wieder aufgelistet:


 

1 Kommentar:

  1. In Deutschland kenne ich alle die Orte, an denen sie gelebt oder gewirkt hat. Wir sind in Mitteldeutschland einige Jahre lang in vielen Orten gewesen, weil es uns wie das kulturelle Herz Deutschlands vorkam und wir auf Spurensuche waren.
    Aber stell Dir vor, sie kannte ich nicht! Jedenfalls nicht bewusst. Immer wieder bin ich überrascht, welche Frauen ich nicht kenne, die solchen Einfluss hatten auf Her-Story. So gut, dass Du viele von ihnen und auch sie vorstellst.
    Ihre innere Unabhängigkeit ist bewundernswert und ermöglichte ihr sicher auch diesen Blick auf Frauenleben ihrer Zeit.
    Eine Gedenktafel für sie wäre das Mindeste in Weimar und was inzwischen generell aus Mitteldeutschland geworden ist, macht mich eh traurig.
    Herzlichst,
    Sieglinde

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