Mit der heute porträtierten Frau hat mich vor ca. sechzehn Jahren meine damals noch kleine Enkelin bekannt gemacht, war doch eines ihrer Lieblingsbücher das "Schellenursli". Vor sechs Jahren haben uns dann alle drei Zürcher in die Verfilmung des Buches - übrigens das drittmeist verkaufte Schweizer Kinderbuch nach "Heidi" und dem "Regenbogenfisch" - geschleppt, was ein Vergnügen war, welches wir mit Hilfe einer DVD noch wiederholt haben. Geschrieben hat das Buch Selina Chönz, die heute vor 112 Jahren geboren wurde.
Selina (rechts) mit der Mutter und den Brüdern (ca. 1920) |
Das aufgeweckte, sprachbegabte Mädchen möchte eigentlich Lehrerin werden, muss sich jedoch wie viele Frauen ihrer Generation den Wünschen der Eltern und den Rollennormen der Gesellschaft beugen. Sie besucht das Kindergärtnerinnen-Seminar Marzili in Bern, das von der Schweizer Reformpädagogin Emmy Walser & Marie von Greyerz geleitet wird, welches Selina 1932 mit Diplom abschließt, ohne eine Anstellung als Kindergärtnerin zu erlangen.
Stattdessen bekommt sie in London eine Stelle als Gouvernante für die Kinder der Familie des in Deutschland geborenen britischen Philanthropen Lord Robert Moulton-Mayer, Begründer der klassischen Kinderkonzerte in den Londoner Armenvierteln ( "Youth and Music" ). Sie betreut den achtjährigen Sohn und die fünfjährige Tochter und ist angehalten, mit den Kindern neben Englisch auch Französisch zu sprechen.
Als Maria Montessori an der Universität London einen sechswöchigen Ausbildungskurs abhält, organisiert von Dorothy Moulton, gibt die Familie Mayer auch Selina Gelegenheit, zweimal wöchentlich daran teilzunehmen und vormittags in einer Montessori Schule zu hospitieren und nachmittags die in englischer Sprache simultan aus dem Italienischen übersetzten Vorträge der Pädagogin zu besuchen. Selina ist beeindruckt, aber nicht voll überzeugt, stehen doch einige Prinzipien - kein Erzählen von Märchen, z.B. - den von ihr durch Marie von Greyerz vermittelten diametral entgegen ( Marie von Greyerz ist Anthroposophin gewesen ). Es ist dennoch Maria Montessori, der Selina den Impuls zu einer neuen Art Kinderbücher verdankt.
Ihr wird auch klar, dass die Begeisterung der damaligen Zeit für die Montessoripädagogik auch eine stille Demonstration gegen den Faschismus und gegen den durch körperliche Strafen gekennzeichneten Erziehungsstil der englischen Boardingschools ist. Die nursery der Familie Mayer-Moulton ist bereits vorher schon mit allen möglichen Montessori-Materialien ausgestattet gewesen und der Sohn besucht eine entsprechende Privatschule mit freiheitlicherer Erziehung und ohne körperliche Züchtigung.
Nach fast zwei Jahren in England übernimmt Selina für weitere zwei Jahre einen kleinen, bescheidenen Kindergarten in einer alten Schulstube in Zuoz, einer Tausend-Einwohner-Gemeinde in der historischen Landschaft La Plaiv/Oberengadin. Sie beginnt für die Kinder Nachsprechverse wie das von den drei Zwergen, die auf Mückenjagd gehen, und Geschichten zu schreiben, doch das, was sie dort verdient, reicht nicht, so Selina selbst, "um die benötigten Kleider zu kaufen, oder die Zahnarztrechnung und die Steuern zu bezahlen."
Da erfährt erfährt sie von Zürcher Freunden, dass eine Stelle am einzigen Montessori-Kindergarten der Stadt Zürich frei sei. Dieser Kindergarten ist zunächst Hilde Steinemann-Sahli geleitet worden, die aber aufgeben muss, als eine Kampagne gegen "Doppelverdiener" unter Verheirateten äußerst wirksam aufkommt."Aus der ganzen Art der Einrichtung erkannte ich den Fortschritt und die gesunde Anwendung der Montessori Prinzipien. Das machte mir Mut, denn ich hatte angehende Kindergärtnerinnen und die Klasse der Erziehungsabteilung der Töchterschule Zürich in die Montessori-Methode einzuführen."
Sie selbst wird schließlich sogar Ausbilderin im Kindergartenseminar in Zürich, bis sie 1939 den Architekten Iachen Ulrich Könz heiratet. Der bringt vier Söhne mit in die Ehe und besitzt ein Haus in Guarda, die Nr. 47 an der Plazetta Zuoscha. Dort wohnt man gemeinsam, denn der zwar in Arezzo geborene, elf Jahre ältere Kaufmannssohn hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Engadinerhäuser in dem Ort seiner Väter, eben Guarda, zu restaurieren. Dafür hat er schon 1937 ein Renovationskonzept samt Budget für eine umfassende Gestaltung bis in geringste Kleinigkeiten vorgelegt und Bund & Kanton, einmal überzeugt, haben ihn darin unterstützt. Ihr Mann ist ein engagierter Engadiner Heimat- und Sprachschützer.
Selina selbst nennt sich rätoromanisch Chönz, wobei sie ertragen muss, dass ihr von den Engadinern zu ihrem Leidwesen immer wieder unter die Nase gerieben wird, dass sie eine halbe Deutsche sei. Dass man ihr Authentizität schon mal gerne abspricht, das verletzt die junge Frau.
Mit Mann & Sohn |
Im Oktober 1940 bekommt sie ihren Sohn Steivan Liun, den sie wie bis zu seinem dritten Lebensjahr wie ein Mädchen ausstattet, hat sich das Paar doch eine Tochter gewünscht. Damit legt sie, die gelernte Erzieherin, den Grundstein für ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrem sensiblen, künstlerisch begabten Kind, das lebenslang anhalten wird. Steivan wird nach dem Besuch der Primarschule ein paar Jahre in einer befreundeten Schriftstellerfamilie, dann im Internat leben.
Schon in Zürich hat Selina begonnen, über eigene Kinderbücher nachzusinnen, denn die vorhandenen gefallen ihr nicht. In Zürich hat sie auch die Bekanntschaft von Alois Carigiet, ebenfalls gebürtiger Bündener, gemacht, der für das legendäre Cabaret Cornichon, das er mitbegründet hat, arbeitet und mit originellen Plakaten für Modefirmen, touristische Unternehmen oder politische Organisationen auf sich aufmerksam macht. Sein eigenwilliger Stil mit einer Prise Humor macht ihn einzigartig in der entsprechenden Szene der Stadt.
Selina drängt Carigiet immer wieder, ihr erstes, auf rätoromanisch verfasstes Kinderbuch, über den Schellen - Ursli zu illustrieren. Der kommt auch wiederholt nach Guarda, um sich inspirieren zu lassen und auch um mit ihr gemeinsam am Projekt zu arbeiten. Als Vorlage für Urslis Haus dient dem Künstler die dem Haus der Könz nahe gelegene Chasa 51.
In diesen Tagen des 2. Weltkrieges, der jenseits der Grenzen der Schweiz tobt, entwickelt das kleine Land erneut einen Sinn für die spezifische Art seiner Landsleute, schätzt die Kraft der Berge und ihrer tapferen Bewohner wieder höher ein und das ist für die Aufrechterhaltung des Widerstandsgeistes in der Schweiz von zentraler Bedeutung. Man spricht gar von einer "geistigen Landesverteidigung".
Etwas von diesem Zeitgeist zeigt sich, bewusst oder unbewusst, auch in der Bilderbuchgeschichte: Der Ursli lehnt sich gegen sein Schicksal auf und wird für seinen mutigen Gang auf die Alp schließlich belohnt. Selinas Stiefsohn Constant sieht in der Hauptfigur aber auch viel von seiner Stiefmutter widergespiegelt, die er als hartnäckig in ihrer Suche nach dem Besten beschreibt. Ohne eine Vision, wird ihr Enkel Simon später sagen, hätte seine Großmutter Carigiet nicht dafür gewinnen können, das Kinderbuch einer damals namenlosen Autorin zu illustrieren.
Das Buch kommt 1945 im Zürcher Schweizer Spiegel Verlag heraus und erobert nach dem Zweiten Weltkrieg sofort die Herzen der Schweizerinnen und Schweizer. Es trifft ihre Mentalität nach dem Krieg, denn eine Geschichte vom Kleinen der etwas Großes macht, trifft den Nerv der Zeit. Das Buch ist damit maßgeblich beteiligt an der Mythenbildung von der moralischen Überlegenheit des einfachen Bergbauern.
Dem romanischen "Uorsin" (dt. "Schellen-Ursli" ) folgen zwei weitere Kooperationen mit Carigiet: 1952 "Flurina und das Wildvögelein" von einem willensstarken, mutigen Mädchen und 1964 "La naivera / Der grosse Schnee" und die Triologie ist ein Grundstein der Schweizer Kinderliteratur und darüber hinaus. Allein der Schellen-Ursli wird in elf Sprachen, darunter auch Japanisch, übersetzt, und bereits nach sieben Jahren übersteigt die Auflage dreißigtausend Exemplare. Mehr als zwei Millionen Male ist das Buch bis heute verkauft worden. Inzwischen gibt es auch wieder eine Ausgabe mit den Illustrationen, die in den ersten Jahren noch als Photochromdruck hergestellt worden sind.
Im Jahre 1953 wird die Geschichte erstmals durch den Thurgauer Filmemacher Ernst A. Heiniger verfilmt. Produziert in den Disney-Studios läuft er erfolgreich als Vorprogramm in amerikanischen Kinos. Der Streifen gilt als verschollen.
Im Jahre 1964 entsteht ein weiterer Kurzfilm von 18 Minuten von der Condor-Films AG in Zusammenarbeit mit der Buchautorin. Dieser Kurzfilm ist ein internationaler Kassenschlager und erhält über zehn internationale Auszeichnungen. Als Kinovorspann schafft es die Schellen-Ursli-Geschichte in die nationalen und internationalen Kinos und wird sogar an Filmfestivals in Barcelona, Marseille, San Francisco, Paris und Edinburgh gezeigt.Durch die Geschichte des Duos Chönz /Cariget wird der im Buch dargestellte Chalandamarz-Brauch zu einem Engadiner Exportgut mit sehr grossem Werbeeffekt. Sowohl Schellen-Ursli als auch Chalandamarz werden sogar auf eine Gedenkmünze geprägt und von Uorsin gibt es eine eigene Briefmarke.
Dieser Erfolg mit nur einem einzigen Buch verstellt allerdings lange, lange den Blick auf das übrige Werk der Autorin: Schon in den 1930er Jahren hat sie Gedichte in romanischer Sprache publiziert und 1940 eine Novelle - "La Chastlauna"- in der Reihe "Chasa Paterna" veröffentlicht. Es folgen weitere Erzählbände in der selben Reihe. Selina, gefördert auch von Men Rauch, einem bündnerromanischen Dichter, Erzähler, Kabarettisten und Liedermacher, gehört zu denjenigen, die nach der Abstimmung von 1938, als die Schweizer mit 91,6 Prozent aller Stimmen dafür gestimmt haben, das Rätoromanisch als Landessprache zu etablieren, die sich intensiver mit der rätoromanischen Lebensart, mit den Traditionen und den Bräuchen auseinandersetzt und ihren Mitbürgern durch ihre Veröffentlichungen - darunter auch typische Rezepte - nahe bringt.
Damit ergänzt sie die Aktivitäten auf architektonischen Gebiet ihres Mannes, der auch Gemeindepräsident von Guarda sowie Denkmalpfleger des Kantons Graubünden ist. Im Privaten ist das aber eine durchaus mit Konflikten behaftete Beziehung gewesen, wie der Sohn berichtet: "Solche Persönlichkeiten machen die beste Konfitüre, weil sie ihre Liebe irgendwie loswerden müssen."
In die Politik will sie nicht einsteigen, hat aber eine dezidierte Meinung zur kulturellen, sozialen, gesetzlichen Stellung der Frauen in der Schweiz und sie begehrt auf gegen die Hindernisse, die Frauen in Ausbildung & Beruf in den Weg gelegt werden.
Mitte der 1990er Jahre muss sie einsehen, dass das Schreiben nicht mehr geht. Aus eigenem Entschluss zieht sie sich 1995 in das Altersheim Promulins in Samedan zurück. Im April 1998 stirbt ihr Sohn, unversöhnlich bis zuletzt. Eine seiner Aufzeichnungen lautet: "Von meinem Vater habe ich die Engadiner Depression geerbt, aber auch das Kreativsein in der Dunkelheit, die Fähigkeit, im Felsen eine Höhle zu bauen. Das Licht, das mein Vater entzündet hat, suchte meine Mutter immer zu löschen."
Sie selbst überlebt ihn nur knapp zwei Jahre - von Alzheimer gezeichnet - und stirbt am 17. Februar 2000 mit knapp neunzig Jahren.
Inzwischen ist das Buch vom Schellen- Ursli nicht nur Vorlage für eine Neuverfilmung geworden, sondern die Erfinderin dieser legendären Schweizer Figur gerät langsam als Autorin und großartige Bündener Persönlichkeit ins Visier. Das sei ihr von Herzen gegönnt!
Liebe Astrid,
AntwortenLöschenein interessantes Porträt. Aber hier bin ich leider ziemlich schnell raus gewesen. Eine Mutter, die ihren Sohn, weil SIE sich ein Mädchen wünschte, die ersten 3 Jahre in Mädchenkleider steckte, damit kann ich nichts anfangen.
Ich freue mich auf dein nächstes Porträt.
Viele Grüße
Claudia
Danke für dieses sehr interessante Portrait. Meine Kinder sind von klein auf mit dem Schellenursli und Flurina aufgewachsen. Klar, bei der Nähe zur Schweiz. Ich fand es spannend, jetzt mehr über die Autorin zu erfahren.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Andrea
Den Schellenursli hab ich auch schon mal in der Hand gehabt, aber nicht richtig gelesen. Die Illustrationen sind aber besonders, das ist mir aufgefallen.
AntwortenLöschenSo schade, dass Selina Chönz ihren eigenen kleinen Schellenursli nicht anerkannte und zeitlebens mit ihrem Sohn nicht ins Reine kam. Du hast schon mal eine Pädagogin vorgestellt, die ihre Kinder völlig unpädagogisch behandelt hat. Mir fällt ihr Name nicht mehr ein. Aber so etwas finde ich eine ungeheure Tragödie für beide Teile und so traurig.
Mir ist ein Rätsel, wie das so geschehen kann bei einer Pädagogin:
Dem eigenen Kind das Licht zu löschen...
Herzlichst, Sieglinde
Nicht umsonst heißt es: "Lehrers Kinder, Müllers Vieh gedeihen selten oder nie."
LöschenDu meinst den Beitrag über Alice Miller
https://lemondedekitchi.blogspot.com/2021/04/great-women-256-alice-miller.html
Aber Auch Rousseau, Montessori u.a. wären da zu nennen.
GLG
Liebe Sieglinde, ihre Worte sprechen mir aus dem Herzen.
AntwortenLöschenGenau diese Gedanken hatte ich auch.
Liebe Astrid, vielen Dank für das interessante Frauenportrait und weiterhin alles Gute.
Herzliche Grüße Sigrid
Oh, welch ein interessantes Portrait. Aus mehrfacher Sicht. Den Fall Junge in Kleidern aus dem Wunsch der Mutter nach einem Mädchen hatte ich in unmittelbarer Nähe und kenne auch das tragische Ende, ganz schlimm in dem hiesigen Fall. Im Geburtsort Samedan waren wir mehrfach, auch im Oberengadin aus familiären Gründen. Mit dieser Zeit der Pädagogik beschäftige ich mich intensiv durch meinen Großvater, dessen Werke da hinein fallen.Was für eine Geschichte um ein Leben. Das Buch kannte ich nicht. Jetzt interessiert es mich. Herzlich, Sunni
AntwortenLöschenDas Kinderbuch kenne ich überhaupt nicht, aber als gebürtiger Flachländer vielleicht nicht verwunderlch. Schon tragisch, dass Pädagogen für ihre eigenen Nachkommen nicht die richtigige Haltung haben. Obwohl mich wundert, dass es so ein Problem war mit der Kleidung, da zu der Zeit Kittelchen und Schürzchen beiderlei Geschlecht trugen.
AntwortenLöschenViele Grüße, Karen
ein interessantes portrait einer schriftstellerin, von der ich bisher noch nichts gehört habe. das zitat des sohnes hat mich wirklich betroffen gemacht. so traurig, dass sie - gerade als montessori-lehrerin - nicht die fähigkeiten und stärken ihres eigenen kindes erkannt und gefördert hat.
AntwortenLöschenliebe grüße
mano
Sonntagslektüre, deine Frauenportraits. Wieder eine interessante Frau, und dann diese Fehlentscheidung bei der Erziehung des eigenen Kindes. Traurig! Jetzt mache ich mich auf die Suche nach dem Buch.
AntwortenLöschenViele liebe Grüße,
Karin
Als du den Beitrag über Selina Chönz veröffentlicht hast, war ich gerade ein paar Tage im Unterengadin und machte auch einen Besuch in Guarda (vielleicht schreibe ich einmal einen Beitrag über das Dorf), dort wird die berühmte Schriftstellerin ja Touristisch vermarktet, obwohl sie ja einen schweren Stand hatte bei den Einheimischen. Aber mit fremden Federn schmückts sich eben gut. Deine Frauengeschichten lese ich übrigens sehr gerne, meistens Abends im Bett, dann reicht es nicht mehr zum kommentieren!
AntwortenLöschenL G Pia