Donnerstag, 6. März 2025

Great Women #409: Maria Helena Vieira da Silva




 

Wieder ist ein Quadrat voll: 408 Frauenporträts sind nun auf meinem Blog zu finden. Heute also Nr. 409. Die ist den Tag genau vor 33 Jahren gestorben. Erfahren habe ich von ihr durch meinen Mann, an Lebensalter mir über zehn Jahre voraus und von daher mit der Kunst vertraut, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in Deutschland bekannt geworden ist. Er war schon in ganz jungen Jahren ihren Bildern auf der Kasseler Documenta begegnet: Maria Helena Vieira da Silva.

"Maler werden alt, 
weil sie einen gewaltfreien &
kontemplativen Beruf ausüben."
Árpád Szenes

Maria Helena Vieira da Silva wird am 13. Juni ( in manchen Quellen ist es der 18. Juni ) 1908 in Encarnação, damals noch Stadtteil von Lissabon, in eine wohlhabende, kulturverbundene Familie hineingeboren. 

Mit der Mutter
in Leysin
Ihr Vater Marcos Vieira da Silva ist Botschaftsattaché & Sohn eines Diplomaten, 33 Jahre alt, ihre Mutter Maria do Céu Silva Graça, neun Jahre jünger, Tochter des republikanisch gesinnten Großverlegers & Eigentümers von Lissabons wichtigster Morgenzeitung "O Século",  José Joaquim da Silva Graça. Der hat damals die bedeutendsten Künstler der portugiesischen Literatur- und Kunstwelt um sich versammelt, damit sie für seine Zeitschrift "Ilustração Portuguesa" arbeiten. Später, 1926, wird er, als die parlamentarische Republik in Portugal durch einen Militärputsch gestürzt wird und sich das langlebigste autoritäre System Westeuropas etabliert, ins Exil nach Frankreich gehen müssen, wo er fünf Jahre später in Hyères sterben wird. Doch zurück zu Maria Helenas Kleinfamilie:

Das kleine Mädchen, einziges Kind seiner Eltern, begleitet zunächst diese auf Reisen durch Europa, nachdem der Vater an Tuberkulose erkrankt ist und schließlich Heilung im schweizerischen Leysin sucht, wo sie zusammen mit einer Gouvernante in einem Sanatorium leben. Der Kuraufenthalt bleibt ohne Erfolg: Maria Helena ist noch keine drei Jahre alt, als der Vater am 14. Februar 1911 stirbt. Sein Tod wird sie lebenslang prägen:

"Ich habe die Vergänglichkeit schon früh entdeckt, ich wußte daß alles schnell vorübergeht."

Das "Palacete" des Großvaters
Dieser Verlust entfesselt in dem Mädchen einen Sturm an Zweifeln und Ängsten, der zeitlebens anhalten wird und ihr das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit & Kontinuität verwehrt. 

Mit der Mutter - einer eher schweigsamen, realitätsfernen Frau - findet sie Aufnahme im palastähnlichen Haus der Großeltern in der Rua Latino Coelho in São Sebastião da Pedreira, einem Lissaboner Stadtteil. Dort wächst sie in einem bildungsträchtigen Umfeld auf, unterrichtet von Hauslehrern und ohne jeglichen Kontakt zu Kindern ihres Alters. Sie lernt schon früh Französisch und Englisch zur gleichen Zeit,  hat freien, unzensierten Zugang zu Büchern, entwickelt eine ungeheure Wissbegier und ein außergewöhnliches Gedächtnis.

Als sie fünf Jahre alt ist, reist sie für zwei Monate mit ihrer Großmutter und einer Tante nach England. Während dieser Zeit besucht sie zum ersten Mal Museen - der Anblick einer ägyptischen Mumie beschäftigt sie zeitlebens - und eine Aufführung von Shakespeares "Ein Sommernachtstraum". Diese Erlebnisse vertiefen ihr Interesse bzw. ihre Liebe zu den Künsten. Nach der Rückkehr nach Lissabon schaut sie sich mehrere Aufführungen der "Ballets Russes" an. Über ihre Kindheit wird sie später sagen: 

"Ich lebte in einer Welt jugendlicher und unterhaltsamer Erwachsener. Ich hörte ihren Gesprächen zu. […] Ich flüchtete mich in die Welt der Farben, die Welt der Klänge … Ich glaube, das alles verschmolz für mich zu einem Ganzen."

Bei der Großmutter Maria Matilde Da Assunção Da Silva Graça findet das Mädchen ein offenes Ohr für ihre Fragen zum Tod: "Sie hat mir viel geholfen, sie war wunderbar zu mir."

Die Mutter bestärkt sie in ihrem Wunsch, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Sie bekommt zu Hause Klavier- & Gesangs- sowie Zeichen- & Malunterricht. Einem Bildhauer steht sie Modell. Mit elf Jahren tritt sie in die Akademie der Schönen Künste in Lissabon ein und arbeitet in den Ateliers der Malerin Emília dos Santos Braga und des Malers Armando de Lucena. Auch das Modellieren studiert sie intensiver, als sie sechzehn ist. Mit achtzehn belegt sie den Anatomiekurs eines Professors an der medizinischen Fakultät der Universität Lissabon. Doch länger übt die Musik die größere, unwiderstehlichere Anziehungskraft auf sie aus. Sie komponiert sogar, hält ihr Talent aber für nicht ausreichend genug. Ihr malerisches Frühwerk ist geprägt vom Surrealismus. Es zeigt gegenständliche Bilder mit mythologischen Bezügen.

Atelierhaus heute
Alto de São Francisco, 3
Die Sommer verbringt Maria Helena von kleinauf in einem Haus der Mutter in Sintra, am Hang hinter dem berühmten Königspalast gelegen. Der Blick von dort mit zwei fast symmetrischen Hügeln am Ende des Tales wird bei ihr zu einer Vision, vor der ihre zukünftigen Bilder werden bestehen müssen. 1926 - nach der Flucht des Großvaters - kauft die Mutter ein kleines Haus in Lissabon, welches später von der Künstlerin bei ihren Aufenthalten in der Stadt als Atelierhaus genutzt werden wird und heute zu besichtigen ist.

Politisch instabil, verarmt Portugal zusehends kulturell, und Maria Helena beschließt - diesmal ohne Selbstzweifel - im Januar 1928 zusammen mit ihrer Mutter in die "Stadt des Lichts", Paris, aufzubrechen. Dort können sie sich im 14. Arrondissement im "Médical Hôtel", einem merkwürdigen Ort in der Rue du Faubourg-St.-Jacques, der Wohnungen, Kunstateliers, Behandlungszimmer und sogar einen Boxring vereint, niederlassen. Über die Stadt urteilt Maria Helena:

"Früher brachen die Leute vom Hafen Lissabons auf, um die Welt zu entdecken und zu bewohnen. In Paris kann man die Welt hier und in jedem Augenblick auf spirituelle Weise entdecken. Paris wiederum bewohnt den Raum mit seinen Schöpfungen."

Sie studiert die Kunst im Louvre, fühlt aber eine große Distanz zu den ausgestellten Werken. Vincent Van Gogh und Paul Gauguin vermögen sie zu inspirieren. Am meisten zieht sie Paul Cézanne an, der in ihren Augen für Strukturen der Realität neue Möglichkeiten der Raumdarstellung gefunden hat. 

"Ich schaute, lernte aus allem und blieb doch am Rande. Der Impressionismus, der Kubismus, die abstrakte Malerei bereicherten mich, aber ich wollte niemals Mitglied einer Sekte werden."

Ein halbes Jahr, später auf einer Studienreise nach Mailand, Verona, Padua, Venedig, Bologna, Siena, Florenz, Pisa und Genua, klärt sich für sie der Bruch, den sie zwischen alter und neuer Malerei empfunden hat. Es ist der Gebrauch der Zentralperspektive, die seit der Renaissance die abendländische Kunst beherrscht. Richtungsweisend für die junge Künstlerin wird ein Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti im Rathaus von Siena:


Ambrogio Lorenzetti:
"Die Allegorie der guten und schlechten Regierung" (Ausschnitt )
(1337-39 )

Mit diesem Werk, so die Kunsthistoriker, ist die erste Landschaftsdarstellung der abendländischen Malerei in naturalistischer Hinsicht voll überzeugend gelungen. Maria Helena reagiert darauf so:

"Alles muss vibrieren und lebendig sein... Ich möchte Bilder mit vielen Dingen malen, mit allen Widersprüchen, mit dem Unerwarteten... Ich möchte meine volle Aufmerksamkeit auf die Fäden richten, die die Menschen führen und sie festhalten."

Zurück in Paris verfolgt sie in der Académie de la Grande Chaumière in ihren Zeichenstudien ihre Erkenntnisse. Eine kurze Zeit verbringt sie bei Fernand Léger, dessen Faszination für technische Erfindungen sie teilt und in Charles Despiaus Atelier an der Académie Scandinave, gibt danach die Bildhauerei aber ganz auf. Sie beschäftigt sich nun auch mit abstrakten Teppich- und  Stoffentwürfen.

In der Académie trifft sie schon kurz nach ihrer Ankunft in Paris auf den ungarischen Maler Árpád Szenes, der kritische Anmerkungen zu ihren Arbeiten macht. Als Árpád ein Jahr später - er ist zwischendurch in seinem Heimatland gewesen - sie erneut besucht, staunt er über die Fortschritte der 21jährigen Künstlerin.

Árpád Szenes am 6. Mai 1897  in Budapest geboren, ist ebenfalls in einem privilegierten und kultivierten Umfeld in Kontakt mit Künstlern und Intellektuellen aufgewachsen: In der Familie gibt es Komponisten & Musiker, einen Bildhauer und einen Theaterdirektor. Schüchtern und unbeliebt in der Schule, wo er durch seine roten Haare auffällt, flüchtet sich der Junge ins Zeichnen. Sein Talent wird von seiner Familie & seinen Lehrern früh erkannt. 1916 stirbt sein Vater, und Árpád entgeht deshalb dem Kriegseinsatz. Lungenkrank in einem Lazarett, macht er die Bekanntschaft mit dem Bildhauer Desider Bokros-Bierman, der schon mit der Kunstszene in Berlin & Paris vertraut ist. Nach Kriegsende schreibt sich Árpád zunächst in der École libre des beaux-arts in Budapest ein. Seine Mutter ermöglich ihm durch den Verkauf von Wertgegenständen durch Europa zu reisen und dort zeitgenössische Kunst wie alte Kunst "live" kennenzulernen. 1925 bleibt er in Paris und hält sich mit dem Anfertigen von Karikaturen und Porträts über Wasser. 1928 geht er für ein Jahr nach Ungarn zurück.

Zwischen der jungen Malerin und dem neun Jahre älteren Ungarn beginnt eine lebenslange Beziehung, deren Besonderheit Maria Helena einmal so ausdrücken wird:

"Es ist ziemlich geheimnisvoll. Unser Leben war ein wundervolles Leben. Alle sind erstaunt! Zwei Maler, die sich lieben und ein ganzes Leben miteinander verbringen! […] Árpád ist der einzige Mensch auf der Welt, der mich in- und auswendig kennt. Nur er kennt mich ganz und gar."

"Autoportrait"
1931
Am 22. Februar 1930 heiraten die Beiden und beginnen ihr Zusammenleben in der Villa des Camélias im gemeinsamen Atelier. Zunächst gehen sie aber auf eine dreimonatige Reise nach Budapest, Transsylvanien ( Siebenbürgen) und Wien und besuchen auch kurz Deutschland. 

Maria Helena verliert durch die Eheschließung allerdings ihre portugiesische Staatsbürgerschaft, weil sie einen Ausländer außerhalb ihres Heimatlandes geheiratet hat, und bald darauf werden sie gänzlich staatenlos, weil sie nicht jährlich nach Ungarn zwecks Erneuerung des Status reisen. 

1931 besucht das Paar Portugal und Spanien. Bis 1939 werden sie dann jeden Sommer in Maria Helenas Heimat verbringen. Ansonsten unterzieht sich das Künstlerduo in Paris einem strengen, selbstauferlegten Arbeitsrhythmus. Selten gehen sie aus, um sich am Montparnasse in den Cafés mit anderen Künstlern zu treffen. 1933 organisiert die Galeristin Jeanne Bucher, die Bilder der Beiden im jährlichen Pariser Salon gesehen hat, eine erste Einzelausstellung für die Malerin. Es ist auch der Galeristin zu verdanken, dass Maria Helena ein erstes Gemälde an das Museum of Modern Art in New York veräußern  kann.

Die probiert lange, ihren Weg zwischen Figuration und Abstraktion zu finden, vermeidet ganz bewusst, Gestalten virtuos zu malen. Aber auch zu den Formexperimenten der Pariser Avantgarde hält sie Abstand. Es gibt entscheidende Momente, die ihr den weiteren Weg in ihrem Schaffen aufweisen:

Bei ihrer Galeristin macht sie die Bekanntschaft mit dem uruguayischen Künstler Joaquín Torres-Garcia, der in Paris die Bewegung "Cercle et Carré" ins Leben gerufen hat. Seine geometrische Malerei basiert auf Diagrammen und Rhythmen und kombiniert das Symbolische mit dem Formalen. Maria Helena kauft Bilder von ihm.

Der Blick aus einem Hotelzimmer in Marseille auf den Kai bzw. eine Drehbrücke im Hafen, führt zu Raumstudien, in denen sie sofort "...eine Richtung, an ihrem Anfang" erkennt. Das danach entstandene großformatige Werk - ihr zweites überhaupt in diesem Ausmaß - ist allerdings heute verschollen. Was bleibt, ist die Reduzierung auf Linien und farblich helle Flächen. Gerüsten an im Bau befindlichen Gebäuden, metallene Bahnhofshallen, die U-Bahn, Schienen und Weichen werden  weitere Inspirationsquellen für die junge Frau.

Als weiterer wichtiger Einfluss gelten die Azulejos – jene kleinen Quadrate aus mehrfarbiger Keramik, die in Portugal die Häusern innen wie außen dekorieren. Maria Helena besitzt eine außergewöhnliche Sammlung, die einen Teil ihres Ateliers schmückt und den Raum vergrößert bis zu einer farbigen Unendlichkeit hin. 1935 hat sie ihren Stil, ihre Themen gefunden:

"Die optische Maschine"
    1937
Es entstehen Bilder, in die der Betrachter förmlich hineingezogen wird. Geschlossenen Türen gleich, entstehen schachbrettartig unterteilte Welten, die ein Spiegel der Leere wie der geheimnisvollen Erinnerung sein können, als ob die Malerin ein Netz aus ihren Unsicherheiten und Zweifeln webt und gleichzeitig die Fäden für ihre geheime Erkundung festhält. Beim Betrachten landet man schließlich in einem Bereich helleren Lichts, das einem wie ein Durchbruch in eine andere Ebene vorkommt. 

Die oft schwermütige Maria Helena fasst den Tod als einen erlösenden Moment am Ende eines Lebens voller Irrungen & Wirrungen auf, scheint ihn gar herbeizusehnen, räumt ihm auf jeden Fall eine exponierte Stellung in ihrem Werk ein. Die Kartenfiguren, die Schachbretter, die Türen, die Brücken, die Bibliotheken scheinen der Vorwand zu sein für ihre Reise durch das Unsichtbare - alles sehr komplex! Es scheint, so Véronique Jaeger, die Enkelin der Galeristin Jeanne Bucher, als sei sie "auf einer malerischen und poetischen Suche nach den Landschaften ihrer Seele und ihres Herzens."

1935 zeigt Maria Helena das erste Mal ihre Werke in einer Galerie in Lissabon, und das Paar bleibt bis zum folgenden Jahr in der Stadt. Eine Einzelausstellung 1937 bei Jeanne Bucher, jetzt am Boulevard du Montparnasse, markiert den endgültigen Beginn der erfolgreichen Karriere als Malerin. Da ist sie noch keine dreißig Jahre alt. 

"Composition"
1936/37
1938 zieht das Paar um in eine Wohnung am Boulevard Saint-Jacques 51. Sie schließen sich angesichts der Entwicklung der extremen Rechten in Europa der Gruppe "Amis du Monde" an, einer Vereinigung mehrerer Künstler und Intellektueller verschiedener Nationalitäten in Paris, um Formen des Widerstands gegen faschistische Bewegungen zu diskutieren, aber auch künstlerische Fragen  nach Abstraktion & Realitätsbezug.

Der drohende Kriegsausbruch setzt sie enorm unter Druck, ist Árpád doch Jude und sie beide staatenlos. Das Paar vertraut Jeanne Bucher seine Werke und sein Atelier an, in dem der russisch-französische Maler Nicolas de Staël kurzfristig Unterschlupf findet. Als das Ereignis eintritt, befinden sie sich im Sommerurlaub auf der Île de Ré. Noch im September fahren sie sich nach Portugal. Am 15. November 1939 heiraten sie dort in einer religiösen Zeremonie in der Kirche São Sebastião, und Árpád, der vom Judentum zum Katholizismus konvertiert ist, lässt sich taufen.

Selbstporträt
1940
Das nützt alles nichts: Maria Helena Vieira da Silva versucht fast ein Jahr vergeblich, für sich und ihren Mann die portugiesische Staatsangehörigkeit zu erlangen. Doch der Premierminister António Oliveira Salazar, Führer einer konservativ-autoritären Diktatur, verweigert es. Man legt ihr sogar nah, sich von ihrem "kommunistischen" Ehemann scheiden zu lassen.

Im Juni 1940 fliehen sie, aus Angst vor dem Schlimmsten, ausgestattet mit mit Diplomatenpässen des Völkerbundes, weiter nach Brasilien. In Rio de Janeiro kommen sie erst einmal im "Hotel Internacional" unter. Es erwarten sie sieben finanziell schwierige Jahre im Exil, denn es fällt dem Paar schwer, durch den Verkauf seiner Kunst seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. In Brasilien herrscht ein sehr konventionelles Kunstverständnis vor. Später wird man erst anerkennen, dass die Malerin dazu beigetragen hat, die brasilianische Kunst zu verändern ( der Neokonkretismus wird sie  bestimmen ).

"História Trágico-Marítima"
1944
Maria Helenas Werke im Exil reflektieren zunehmend Gefühle wie Traurigkeit, Schmerz, Sehnsucht, Entwurzelung und die Absurdität eines menschlichen Zustand wie dem ihren. Die Künstlerin fühlt sich aller Dinge beraubt und dies zeigt sich in ihrer Malerei insofern, als sie die vollständige Abstraktion aufgibt und nur Landschaften, intime Darstellungen und Stillleben malt, die auch aus dem Drama des Krieges resultieren.

Ein Beispiel hierfür ist das Werk "História Trágico-Marítima", welches die Ankunft des Paares in Brasilien auf einem voll besetzten Schiff - eine etwas klaustrophobische und dramatische Komposition, die sehr an aktuelle Filme erinnert von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. Viele Nachrichten aus Europa setzen ihre mitfühlende Fantasie frei.

Árpád erhält einige Porträtaufträge, und sie beginnt, Vasen, Teller, Fliesen und andere Gebrauchsgegenstände zu bemalen, Illustrationsaufträge auszuführen und die Cafeteria der Agraruniversität  in Rio de Janeiro mit einer Kachelwand zu dekorieren, die sie "Kilomètre 44" tauft. 1942 bekommt sie auch eine Ausstellung im Museu Nacional de Belas Artes in Rio de Janeiro - ihre erste Museumsausstellung überhaupt! 1943 ist sie in Peggy Guggenheims ( siehe dieser Post ) Ausstellung "Exhibition by 31 Women" in der Galerie Art of This Century in New York vertreten. Im Jahr darauf veranstaltet die Galeria Askanazy in Rio eine Einzelausstellung ihrer Bilder.

1947 kehren Maria Helena Vieira da Silva und Árpád Szenes nach Frankreich zurück in das Atelier, das sie acht Jahre zuvor verlassen haben. Nach all dem Chaos & Elend erfährt das Paar eine fruchtbare Zeit der Kreativität, in der seine Kunst vom Publikum wohlwollend aufgenommen wird. Schon 1948 kauft der französische Staat eines ihrer Werke.

"Graues Zimmer"
1950

In den 1950er-Jahren erlangt Maria Helena internationales Renommee mit Ausstellungen in Schweden, England, der Schweiz, den Niederlanden und den USA. 1954 gewinnt sie einen Wettbewerb für einen Wandteppich für die Universität Basel. Mit ihrem Mann ist sie auch auf den ersten Ausstellungen der Kasseler "Documenta" vertreten. 

1956 wird ihnen endlich die französische Staatsbürgerschaft verliehen. Sie ziehen in die Rue de l'Abbé-Carton 34 im 14. Arrondissement, in ein Haus, das sie auf einem von ihnen erworbenen Grundstück haben bauen lassen. Für den Rest ihres Lebens zieht auch Maria Helenas Mutter zu ihnen ( sie stirbt 1964 ). Nicht nur äußerlich tritt das Leben der Malerin in eine Phase größerer Stabilität, die sich in ihrem intensiven künstlerischen Schaffen widerspiegelt. Bis zum Ende des Jahrzehnts hat sie sich endgültig einen guten Namen in der Geschichte der zeitgenössischen Weltmalerei erarbeitet. Die Preise für ihre Werke liegen zu dieser Zeit auf dem Niveau ihres Zeitgenossen Pablo Picasso. 

Maria Helena, die sich immer als Städterin verstanden hat, zieht sich ab 1960 für einen Teil des Jahres nach Yèvre-le-Châtel, einer kleinen Stadt im Département Loiret, zurück, wo das Paar sich Ateliers in der erworbenen Maréchalerie einrichtet. 1966 bekommt sie den Auftrag, die Fenster der Kirche Saint-Jacques in Reims zu gestalten, an denen sie zwei Jahre arbeiten wird.  Es ist das Jahr, in dem sie als erste Frau mit dem "Grand Prix National des Arts" der französischen Regierung ausgezeichnet wird ( später wird sie noch zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen werden ).

1975 schafft sie zwei Plakate, die in der kollektiven Vorstellung der Portugiesen bleiben werden: "A Poesia Está na Rua". 

Auf Wunsch der Dichterin Sophia de Mello Breyner, mit der sie eng befreundet ist, lässt sie sich von Fotografien des 1. Mai 1974 inspirieren, um den 25. April desselben Jahres darzustellen, den die Malerin aufgrund ihres Wohnsitzes Paris nicht miterlebt hat: Der später unter dem Begriff "Nelkenrevolution" bekannte Tag des grundlegenden politischen Umsturzes in Portugal, hat eine Zeitenwende für ihre Heimat eingeläutet.

1976 richtet sie zusammen mit ihrem Mann eine umfangreiche Schenkung ihrer Zeichnungen an das Nationalmuseum für moderne Kunst ein. 1981 erhält sie vom französischen Kulturministerium und dem Außenministerium den Auftrag, die Kapelle neben dem Palacio de Santos zu dekorieren, dem Sitz der französischen Botschaft in Lissabon. Zwei Jahre später nimmt sie einen Auftrag der Lisbon Metropolitan Company an, die dekorativen Fliesen für die U-Bahn-Station Cidade Universitária zu entwerfen. 

1988
Ihr Ehemann erkrankt, und das Paar schränkt seine Reisetätigkeit ein. Am 16. Januar 1985 stirbt Árpád Szenes in seinem Atelier in Paris. Sein Tod hinterlässt ein Vakuum und Maria Helena in einem längeren Schweigen zurück. Anlässlich einer Ausstellung im Zentrum für moderne Kunst der Calouste Gulbenkian-Stiftung zu ihrem achtzigsten Geburtstag reist sie erstmals wieder nach Portugal. 

Ihre Gesundheit bleibt fragil, sie malt weniger und verbringt die meiste Zeit zu Hause. Schließlich wird bei ihr 1989 Krebs diagnostiziert. Nach einer schmerzhaften Operation mit einer Wunde, die nicht verheilen mag, erholt sich Maria Helena nicht mehr und stirbt am 6. März 1992 mit 83 Jahren in Paris. Bestattet wird sie neben ihrem Mann auf dem Friedhof unweit der Kirche Saint-Lubin in Yèvre-le-Châtel.

Noch vor ihrem Tod malt Maria Helena Vieira da Silva eine Reihe von vier Bildern: "Kampf mit dem Engel". Darin illustriert sie ihre Begegnung mit dem Tod, dargestellt als eine vermummte Gestalt mit langem Gewand, die aber in der für sie typischen, irisierenden Malweise nur angedeutet und mit dem Hintergrund gleichsam verschmolzen ist. Ein Blick zurück zeigt noch einmal die Perspektiven und Raumfluchten des zurückliegenden Lebens. Im letzten Bild steht der Betrachter direkt an der Schwelle, lediglich ein Streifen am Rand des Bildes, wie ein Türrahmen, zeigt, dass der letzte Schritt noch nicht gemacht ist. Diese Bilderserie ist heute in Privatbesitz und leider nur in Buchveröffentlichungen zu sehen, doch auch dort noch sehr eindrucksvoll und schön.

Sie hinterlässt auch einen Text, den sie mit Testament überschreibt. In diesem vermacht sie ihren Freunden neunzehn Farben und die Bedeutung, die sie ihnen zugemessen hat:.

Testament
Lego an meine Freunde,
ein Himmelblau, um hoch zu fliegen,
ein Kobaltblau, um glücklich zu sein,
ein Ultramarinblau, um den Geist anzuregen,
ein Zinnoberrot, um das Blut glücklich zirkulieren zu lassen,
ein Moosgrün, um die Nerven zu beruhigen,
ein Goldgelb: Reichtum,
ein Kobaltviolett, 
um einen verrückteren Traum zu haben 
lässt das Cello
ein Barytgelb hören: Science-Fiction, Glanz, Pracht,
ein gelbes Ocker, um die Erde anzunehmen,
ein veronesisches Grün für die Erinnerung an den Frühling,
ein Indigo, um den Geist durch den Sturm stimmen zu können,
eine Orange, um die Vision eines Zitronenbaums in der Ferne zu verwirklichen,
ein Zitronengelb für Anmut,
ein reines Weiß: Reinheit,
Land der natürlichen Siena: die Umwandlung des Goldes,
ein üppiges Schwarz, um Tizian zu sehen,
ein Land des natürlichen Schattens, um schwarze Melancholie besser zu akzeptieren,
gebrannte Siena für die Vorstellung der Dauer.

Die Einweihung des Museums, welches ihr und dem Werk ihres Mannes gewidmet und dessen Eröffnung von der Árpád Szenes-Vieira da Silva-Stiftung für 1994 im Jardim das Amoreiras in Lissabon geplant worden ist, erlebt sie also nicht mehr. Ihre Kunst zeigen bis heute auch die  Museen für moderne Kunst in Paris und New York, die Tate Gallery in London, das Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst in Lissabon und die Calouste Gulbenkian Foundation, bei mir hier in der Nähe die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf. Dort entfalten die großen Malereien erst richtig die Wirkung, die die Malerin nach meinem Dafürhalten beabsichtigt hat. Im Netz ist einiges zu finden, auch hier, aber oft in schlechter Wiedergabe, so dass die Faszination, die die Bilder entfalten können, ausbleibt. Schade für diese bedeutende Malerin der Abstraktion! Empfehlenswert ist nach wie vor die preiswerte Ausgabe des Taschen - Verlags von 1998, um einen Eindruck von dieser mittlerweile wieder eher vergessenen Künstlerin zu bekommen.

                                                         


Und abschließend wieder Links zu weiteren Frauenporträts in meinem Blog, 
bei denen ein Gedenktag vorliegt:

 

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