Donnerstag, 13. April 2023

Great Women #333: Mathilde Jacob

Und wieder geht es heute in meinem Frauenpost in die Politik. Und wieder in die Stadt Berlin. Es geht um eine Frau, die im Schatten einer sehr viel berühmteren Frau gestanden hat und die ich aus diesem Schattendasein befreien möchte: Mathilde Jacob.


"Wir sind gesund  und haben uns bemüht,
ruhig zu bleiben, so weit man das kann."
12. April 1933

Mathilde Jacob erblickt am 8. März 1873 in Berlin das Licht der Welt. Der Vater Julius Jacob lässt am Tag darauf in der "Vossischen Zeitung" vermelden, dass seine" liebe Frau Emilie, geb. Bernhard von einem Mädchen leicht und glücklich entbunden" worden ist. 

Sie sind eine jüdische Familie, die Jacobs. Julius Jacob, 1839 in Nordhausen geboren, ist von Beruf Schlachter, so heißt es immer wieder. Da er aber nicht in der Innung ist, ist zu vermuten, dass er eher nur als Fleischhändler tätig gewesen ist. Mathilde ist das älteste der acht Kinder, denen seine zehn Jahre jüngere Frau das Leben geschenkt hat: Felix (1876-1906), Harry (1878-1942), Klara (1879- 1950), Gertrud (1881-1942), Walter (1882-1952), Margarete (1887-1943). 1891 wird dann noch das jüngste Kind, Ernst, geboren. Über Mathildes Kindheit, ihre Jugend und die frühen Erwachsenenjahre ist so gut wie nichts bekannt.

1882 lässt der Vater ein Mietshaus mit Ladenlokal im Parterre auf der Stralauer Straße, eine der vornehmsten Straßen des alten Berlin in der Nähe des Molkenmarkts, wiederum ältester Platz der Stadt, bauen - leider auf Sand, im wortwörtlichen Sinne. Es ist die Gründerzeit, Geld & Kredite sind vorhanden, aber der Bau ist schlecht berechnet auf dem instabilen Untergrund und bricht letztendlich zusammen. Schon im Jahr darauf gehört alles, was davon übrig geblieben ist, dem Tuchhändler Sechelsohn. 

Die Familie Jacob wechselt fast jährlich die Wohnungen und landet schließlich, so urkundlich belegt, für die nächsten vier, fünf Jahre in der Holzmarktstraße. Eine selbständige Tätigkeit wird der Vater Mathildes nie wieder ausüben, sondern eine Vermittlertätigkeit in seiner Branche. Schließlich landet die Familie 1899 in der Kaiser-Wilhelm-Straße 18f, in einem Neubaugebiet nahe den Elendsquartieren einer verfallenden Vorstadt. Dort unterhält Julius Jacob seine Agentur und verwaltet zusätzlich das Haus Nummer 18d. Mathilde, inzwischen 26 Jahre alt, wohnt schon nicht mehr bei den Eltern.

Das Adressbuch verzeichnet ein Fräulein ihres Namens am Kurfürstendamm 24H, später in der Nummer 29 und in der Uhlandstraße. Als Beruf wird dort Privatiere angegeben. Ab 1892 hat Mathilde allerdings nachweislich sieben Jahre als Buchhalterin gearbeitet. Dann gibt es in ihrer Erwerbsbiografie eine große Lücke, und auch das Adressbuch gibt keine Auskunft mehr zur jungen Frau. Heinz Knobloch, ihr Biograf, vermutet, dass die unverheiratete Mathilde zur Vervollkommnung ihrer Sprachkenntnisse gereist ist. Denn wer ein Übersetzungsbüro annonciert, muss über entsprechende Sprachkenntnisse verfügen.

1907 macht die 34-Jährige Mathilde nämlich ein kleines Büro für Schreibmaschinen-, Vervielfältigungs- und Übersetzungsarbeiten in der Essener Straße 13 in Moabit auf. Sie wohnt im Hansaviertel zusammen mit ihrer im gleichen Jahr verwitweten Mutter und ihrer Schwester Grete im Gartenhaus, zweiter Stock, in der Altonaer Straße 11. Schriftsteller, Journalisten und bald auch Politiker aus sozialistischen Kreisen werden ihre Kunden. Ab 1913 wird auch die "Sozialdemokratische Korrespondenz" im Jacobschen Büro verfasst und vervielfältigt. Mathilde ist für deren technische Herstellung und den Versand zuständig. 

Die "Korrespondenz" ist ein Artikeldienst der deutschen Sozialisten. Die Beiträge werden in der Hauptsache von Julius Marchlewski, Rosa Luxemburg und Franz Mehring geschrieben, die auch Herausgeber fungieren.

Im Dezember 1913 taucht Rosa Luxemburg erstmals im Büro von Mathilde auf und macht auf die damals 40jährige "sofort einen tiefen Eindruck". "Bewundernd blickte ich zu dieser Geistesgröße auf, die beinahe dürftig gekleidet war". Für Mathilde Jacob ist das eine schicksalhafte Begegnung, und aus der geschäftlichen Beziehung wird in den folgenden Jahren eine innige und vertrauensvolle Freundschaft zu der nur wenig Älteren, die auch auf gemeinsamen Überzeugungen fußt: Mathilde ist durch ihren Bruder Harry, der gewerkschaftlich aktiv ist, politisiert worden. Sie ist Mitglied in der SPD, gibt sich in ihrer Familie aber als politisch unbedarft. 

Rosa Luxemburg spricht in Stuttgart 1907
Source
Rosa Luxemburg weiß ihre zuverlässige und bescheidene Art sowie ihre Hilfsbereitschaft zu schätzen. Als diese, die Antimilitaristin & Wortführerin der Linken in der SPD, im Februar 1915 die Haftstrafe im Berliner Frauengefängnis antreten muss, die sie für eine in Frankfurt am Main gehaltene Anti-Kriegsrede erhalten hat, erfüllt Mathilde ab da ihre Wünsche mit großer Loyalität, ja fast schon Ergebenheit, wie sie es auch während der weiteren Inhaftierungen tun wird.

Sie kümmert sich um Rosa Luxemburgs verhätschelte Katze Mimi ( "Ich erweise Ihnen die höchste Ehre, die ich einem Sterblichen antun kann. Ich werde Ihnen meine Mimi anvertraun. Sie werden sie in Ihren Armen, nicht etwa im Körbchen oder Sack im Auto entführen müssen..." ), bringt Mittel zur Körperpflege, Wäsche und Diätkost, eigens gekocht von ihrer Mutter, für die Magenkranke ( in Kriegszeiten ein aufwändiges Unterfangen!), besorgt ebenso Medikamente wie gewünschte Lektüre. Mathilde nimmt jede Strapaze auf sich, um die Gefangene so oft wie möglich zu besuchen. 

Diese Besuche sind für die Inhaftierte in jeder Hinsicht überlebenswichtig: Für deren Gesundheit, ihr seelisches Befinden, aber auch für ihre Rolle als Politikerin. Clara Zetkin lobt Mathilde 1915 in einem Brief an Karl Liebknecht folgendermaßen: "... sie denkt an alles, sorgt für alles, tut alles: ein aufopfernder Prachtkerl."

Ein Jahr später wird Rosa Luxemburg entlassen, doch schon drei Monate später wird sie nach dem damaligen Schutzhaft-Gesetz zur "Abwendung einer Gefahr für die Sicherheit des Reichs" wieder zu insgesamt zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, die sie im Juli 1916 antreten muss. Zweimal wird sie verlegt, zuerst nach Wronke nahe Posen, dann nach Breslau. Mathilde quartiert sich in der Nähe der Haftanstalten zum "Urlaub" ein, um sie regelmäßig besuchen und versorgen zu können. Wo es erlaubt ist, organisiert sie mal ein Regal, einen bequemen Stuhl für das winzige Häuschen innerhalb der Haftanstalt Wronke, und immer Blumen und immer Lesestoff. 

In ihrem Weihnachtsbrief 1916 dann tituliert die Inhaftierte ihre Unterstützerin als "liebste Mathilde." Immer wieder sucht die deprimierte und auch physisch angeschlagene Politaktivistin während der Besuche auch die körperliche Nähe ihrer Freundin, wie der Gefängnisdirektor später bestätigt hat.

Mathilde erfährt die Grundlagen des konspirativen Arbeiten von dem zeitweiligem Lebensgefährten Rosa Luxemburgs, Leo Jogiches, der in Berlin im Untergrund lebt - "ein Verschwörer in Reinkultur: ohne persönlichen Ehrgeiz...", so Mathilde. Sie erlangt zusehends eine Routine als Botin politischer Schriften ins Gefängnis und Schmugglerin  fertiger Artikel Luxemburgs aus dem Gefängnis hinaus. So gelingt es ihr, das Manuskript des dann anonym als "Junius-Broschüre"veröffentlichten Texts "Zur Krise der Sozialdemokratie" aus dem Gefängnis in der Barnimstraße nach draußen zu schleusen. Darin rechnet die Luxemburg mit der "bürgerlichen Gesellschaftsordnung" und der Rolle der SPD ab, deren reaktionäres Wesen der Krieg offenbart habe. Auch die berühmten "Spartakusbriefe" sind nur durch Mathilde Jacob in die Welt außerhalb des Gefängnisses gelangt. Der Geheimcode, mit dem Rosa Luxemburg politische Instruktionen an Mathilde & Jogiches weitergibt, ist bis heute unbekannt.

Was sie da tut, entspricht juristisch dem Tatbestand des Landesverrates und ist eine gefährliche Arbeit. Hilfreich sind ihr zwei identische Handtaschen, die sie bald nach der Inhaftierung kauft. Die tauschen die beiden Frauen während der Besuchszeit aus. "Wir mussten all unseren Witz anstrengen, um keinen Reinfall zu erleben", so berichtet Mathilde später. Ein anderes Mal, bei ihrem ersten Besuch in Wronke, drückt sie während der Umarmung Rosa einen Kassiber von Jogiches in die Hand. Von einer anderen Episode während eines Verhörs erzählt sie, dass sie Briefe zwischen Liebknecht & Luxemburg unbemerkt in ein Butterbrot, das sie verzehren will, schieben und es anschließend, begleitet von hoch bewaffneten Soldaten, auf die Toilette mitnehmen kann. Dort zerreißt sie die Briefe und lässt sie vom Wasser in die Tiefe spülen.

Mathilde unterstützt also während des Ersten Weltkriegs Leo Jogiches und die Arbeit der "Spartakusgruppe" und gerät alsbald selbst ins Visier der Politischen Polizei. Sie lässt sich durch Hausdurchsuchung, Überwachung und Verhaftung nicht abschrecken oder einschüchtern und stellt ihre beruflichen Fähigkeiten und ihr großes Organisationstalent ganz in den Dienst der Sache und der Erstellung illegaler Flugblätter. 

Von links nach rechts:
Paul Levi, Rosa Luxemburg, Leo Jogiches
Man kann heute sagen, dass Mathilde das organisatorische Zentrum der stark durch Inhaftierung dezimierten Spartakusgruppe gewesen ist. Als Jogiches im März 1918 verhaftet wird, ist Mathilde aufgrund der engen Zusammenarbeit über alles informiert, wie z.B. über die Verbindungen zu regionalen Gruppen und ihren Deckadressen. Ihrem konspirativen Geschick ist es zu verdanken, dass die politische Arbeit nicht völlig zum Erliegen kommt und die Kontakte nicht abreißen.

Am 9. November 1918 kommt Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis in Breslau frei und mit dem Zug nach Berlin und stürzt sich umgehend in die Politik. Schon am 11. November wird der Spartakusbund gegründet. Rosa wird Chefredakteurin der "Roten Fahne", Mathilde ihre persönliche Sekretärin. Zur Verstimmung auf Mathildes Seite kommt es, als ihre Freundin ein junges Mädchen namens Medi Urban bei sich in der Wohnung aufnimmt. Eifersucht plagt sie, sie ist keine Lesebuchheldin, ebenso wenig wie die spätere Ikone Rosa.

Als es am Ende des Krieges – maßgeblich unterstützt von den Spartakisten, an deren Spitze Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht stehen – zum revolutionären Umsturz in Deutschland kommt, ist Mathilde Jacob aktiv an der Seite der Freundin, ebenso beim Gründungskongress der KPD zum Jahreswechsel 1918/19.

In Berlin herrscht Progromstimmung, so Mathilde. Ihre Freundin wohnt nicht mehr Zuhause, Karl Liebknecht ebenso. Mathilde warnt die beiden, sie sollen getrennte Aufenthalte nehmen, was abgelehnt wird. Immer wieder hat sie das Gefühl, die Freundin schützen zu müssen. 
"Am 15. Januar 1919 nimmt eine "Wilmersdorfer Bürgerwehr", die über genaue Steckbriefe verfügte, sie und Karl Liebknecht in einer Wohnung der Mannheimer Straße 27 in Berlin-Wilmersdorf fest und brachte sie in das Eden-Hotel. Dort residierte der Stab der Garde-Kavallerie-Schützen-Division unter dem Ersten Generalstabsoffizier Hauptmann Waldemar Pabst, der die Verfolgung von Spartakisten in Berlin organisierte. Befehlshaber dieser Division war Generalleutnant Heinrich von Hofmann, der, gesundheitlich stark eingeschränkt, die operative Führung Pabst überließ. Die Gefangenen wurden nacheinander über mehrere Stunden verhört und dabei schwer verletzt. Pabst beschloss mit seinen Offizieren, sie zu ermorden; der Mord sollte nach einer spontanen Tat Unbekannter aussehen. Er begriff dies bis zu seinem Lebensende nicht als Mord, sondern als Hinrichtung im nationalen Interesse. Der am Haupteingang bereitstehende Jäger Otto Wilhelm Runge schlug Rosa Luxemburg beim Verlassen des Hotels mehrfach mit einem Gewehrkolben, bis sie bewusstlos war. Sie wurde in einen bereitstehenden Wagen geworfen. Der Freikorps-Leutnant Hermann Souchon sprang bei ihrem Abtransport auf das Trittbrett des Wagens auf und erschoss sie mit einem aufgesetzten Schläfenschuss etwa an der Ecke Nürnberger Straße/Kurfürstendamm (heute Budapester Straße). Kurt Vogel ließ ihre Leiche in den Berliner Landwehrkanal in der Nähe der heutigen Lichtensteinbrücke werfen."

So weit Wikipedia zu den damaligen Ereignissen. Dass die 47jährige so öffentlich umgebracht wird, ist quasi ein Regiefehler. Die offizielle Lesart macht schließlich eine entfesselte "Menschenmenge" für alles verantwortlich...  

1929
Mathilde ist nach dem gewaltsamen Tod der Freundin weiterhin ihr "guter Engel": Sie identifiziert die Leiche Rosa Luxemburgs, nachdem die sterblichen Überreste im Juni 1919 im Landwehrkanal aufgefunden worden sind, anhand von Kleiderresten, den Handschuhen, die sie der Freundin selbst gekauft hat, und einem Medaillon und kämpft um Obduktion und die Freigabe der Leiche und deren Beisetzung. Auch für die des im März 1919 im Untersuchungsgefängnis erschossenen Leo Jogiches setzt sie sich ein. Der hat zuvor am 12. Februar in der Zeitschrift "Rote Fahne" eine sehr detaillierte Beschreibung des Tatgeschehens mit Nennung der Namen der tatverdächtigen Offiziere veröffentlicht gehabt.

Von Anfang August bis Ende September 1919 muss dann auch Mathilde einen Gefängnisaufenthalt überstehen.

Die brutalen Morde treffen sie tief & nachhaltig. Doch anstatt sich zurückzuziehen, arbeitet sie weiter, nun zusammen mit Paul Levi, dem ehemaligen Rechtsanwalt Rosa Luxemburgs und Nachfolger von Jogiches als KPD-Vorsitzender, trägt als Parteimitglied die Verantwortung für die Finanzen der noch jungen Partei, ist Redakteurin der kommunistischen Frauenzeitung und hütet Rosa Luxemburgs Nachlass. Dank ihrer Umsicht bleiben wesentliche Teile davon erhalten.

Ohne Jahr
( wohl zu der Zeit, als sie Ralph H. Lutz getroffen hat )
Weil Paul Levi und Mathilde Jacob sich kritisch gegenüber der Führung der russischen KP in der Komintern äußern, werden sie im Februar 1921 zum Austritt aus der Partei gezwungen. Sie schließen sich zunächst der USPD an und folgen 1922 der Mehrheit der Parteiorganisation in die SPD. Hier unterstützt sie Paul Levi bei der Herausgabe verschiedener Publikationen, wie der Zeitschrift "Unser Weg". Sie zeichnet später auch redaktionell verantwortlichfür seine Pressekorrespondenz "Sozialistische Politik und Wirtschaft". 

Nachdem sich Paul Levi 1930 suizidiert hat, zieht sich Mathilde Jacob von allen politischen Tätigkeiten zurück. Ob sie weiter Mitglied der SPD geblieben ist, lässt sich nicht ermitteln, da die Mitgliederkarteien der Partei verbrannt sind.

Mathilde ist jetzt 57 Jahre alt. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie weiter mit ihrem Schreibbüro. Bis zu deren Tod im Oktober 1933 lebt Mathilde weiterhin mit der Mutter zusammen.

Anlässlich des zehnten Jahrestages der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1929 steuert sie für die Gedenkseite der "Leipziger Volkszeitung" eine Episode aus der Haftzeit Rosas bei. Dann verstummt sie. Die Machtübernahme der NSDAP bedeutet für die Jüdin eine Phase voller Repressalien und Drangsalierungen bei gleichzeitiger existenzieller Bedrohung. Um den Zwangsnamen Sara zu vermeiden, lässt Mathilda amtlich ihren Vornamen in Mathel ändern. Als Sozialistin wird sie wohl von den Nazis nicht erkannt.

Im Juni 1939 gelingt es ihr noch, nach allen Regeln der Konspiration, große und bedeutende Teile des Nachlasses von Rosa Luxemburg - die Briefe an sie selbst, das Gefängnistagebuch, Bilder, Korrespondenz - dem amerikanischen Historiker Ralph H. Lutz von der Hoover Institution in Stanford/USA zu übergeben. Der hat sich zuvor noch von Hitler den "Verdienstorden vom Deutschen Adler" verleihen lassen, zu Tarnungszwecken? Den Kontakt hat die in die USA emigrierte Sozialistin Angelica Balabanoff hergestellt. Mit der Diplomatenpost der US-amerikanischen Botschaft können diese wichtigen zeitgeschichtlichen Dokumente in die USA geschafft werden. 

Für sich selbst will ihr ein solcher Übergang in die Sicherheit nicht mehr gelingen: Zwar hat sie Kontakt zur Schwester Levis, Jeanette Herz, die inzwischen in den Vereinigten Staaten lebt, und versucht über diese für sich und die Familie ihres Bruders Walter eine Ausreise zu ermöglichen - vergebens! Nach und nach werden die Mitglieder der Familie deportiert. Insgesamt 36 Mitglieder der Familie werden umgebracht. Nur der Neffe Manfred kann an einem Seil aus einem Fenster flüchten, als die Gestapo an seiner Tür klingelt, und sich getarnt in Berlin halten. Auch Klara und ihr Sohn überleben, nicht aber deren Ehemann.

Mathilde muss mit Erreichung des Rentenalters 1938 von 35,80 Reichsmark & gelegentlichen Schreibarbeiten leben. Am 1. Juli 1942 verfügt das Geheime Staatspolizeiamt, "die Einziehung des gesamten Vermögens der Reichsfeindin Mathel Jacob zugunsten des Deutschen Reiches". 

Sie ist bereits mittellos, als sie knapp drei Wochen später ihre Vermögenserklärung abgeben muss, bevor sie am 27. Juli 1942 nachts mit dem "30. Alterstransport" vom  jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26 zusammen mit 101 Frauen und Männern, alle über 60 Jahre alt, auf den Transportflächen zweier Lastkraftwagen in Richtung Anhalter Bahnhof gebracht wird. Von dort aus geht es mit einem regulären Zug der Verbindung Aachen - Dresden ( der Wagen des "30. Alterstransportes" wird nur angehängt ) zum Konzentrationslager Theresienstadt.

Noch im Oktober des Jahres werden vom Vermieter die Kosten für die Instandsetzung ihrer Wohnung eingefordert. Ausgeglichen werden die Kosten durch die Oberfinanzkasse, die den Erlös der verkauften Möbel der Mathilde Jacob und einen Betrag des Bestattungs- und Versicherungsverein "Volkswohlbund" für eine nicht erfolgte Bestattung einstreicht. 

Stele am Franz-Mehring-Platz
CC BY-SA 3.0
Dort in Theresienstadt stirbt Mathilde Koch, 70jährig, wohl an den unerträglichen Lebensbedingungen. Eine in Israel entdeckte Registratur aus dem Krematorium Theresienstadt nennt ein Datum: 14. April 1943, also morgen vor achtzig Jahren. Die Urne wird mit unzähligen anderen im November 1944 bei Nacht & Nebel abtransportiert und ins Wasser ( vermutlich die Eger ) geworfen.

Schon zu Zeiten der DDR forscht der Schriftsteller & Feuilletonchef Heinz Knobloch zu Mathilde Jacob, nicht ohne diverse Behinderungen, denn eine solche Abweichlerin ist nicht gern gesehen. 1985 erscheint sein Buch "Meine liebste Mathilde" in Ost-Berlin.

Nach der "Wende" wird 1995 der Rathausvorplatz des damaligen Berliner Bezirks Tiergarten nach ihr benannt ( heute liegt der Mathilde-Jacob-Platz im Bezirk Mitte ). Im Jahr darauf will die CDU - Tiergarten mittels Bürgerbegehren die Benennung rückgängig machen. Man könne doch keinen Platz nach einer Kommunistin benennen...

Zwei Jahre später bringt der Berliner Verein "Aktives Museum" eine Gedenktafel am Rathaus an mit der Begründung, dass Mathilde Jacob sich für eine demokratische Form des Kommunismus stark gemacht habe.

1996 wird vor dem Verlagsgebäude des "Neuen Deutschland" am Franz-Mehring-Platz eine Terrakotta-Stele zu Ehren von Mathilde Jacob aufgestellt und 2011 vor ihrem ehemaligen Wohnhaus, Altonaer Straße 26, im Berliner Hansaviertel, ein Stolperstein für sie verlegt.

Heinz Knobloch möchte ich auch das Schlusswort überlassen zu diesem Leben, das die Grausamkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mal wieder für mich belegt:
"... ihr Leben: ein Stück tätigen Daseins für ein Ideal, und zugleich ein erlittenes deutsches Schicksal, bis zum Tode, und nur deshalb, weil man anders war, zufällig von jüdischen Eltern geboren. Denn nicht als Kommunistin, sondern als Jüdin wurde Mathilde Jacob getötet. Es hätte auch umgekehrt sein können."








 

7 Kommentare:

  1. Wieder so ein spannendes Stück Zeitgeschichte aus der Berliner Nähe. So wichtig, dass solche Frauen nicht vergessen werden. Danke dir und liebe Grüße Ghislana

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  2. Über M Jacob habe ich letztens erst noch einen Podcast gehört, vor allem um die Freundschaft zu R. Luxemburg und die Zeit als sie im Gefängnis war, ist es gegangen.
    Eine starke Frau, die so viel im Hintergrund bewirkt hat
    Liebe Grüße
    Nina

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    1. Das hattest du mir ja geschrieben und ich habe daraufhin weiter recherchiert. Da es von den Daten her passte, hab ich den Beitrag anderen vorgezogen.
      LG

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  3. wieder ein sehr interessantes Portrait
    von einer starken Frau
    die es fast durch alle Wirren der damaligen Zeit geschafft hätte ..
    gerade am Dienstag hatten wir bei der AWO einen Vortrag über das jüdische Bingen
    das war auch sehr interessant
    liebe Grüße
    Rosi

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  4. Wieder ein interessantes Frauenschicksal, was so eng mit der Zeitgeschichte verflochten war. Danke!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  5. So beeindruckend ihre Lebensgeschichte! Ich kannte Mathilde Jacob überhaupt nicht.
    Da kann frau wieder mal sehen, wie wichtig die Menschen im Hintergrund sind. Ohne sie ist manche Frau, aber noch mehr mancher Mann im Vordergrund gar nicht denkbar. Meist sind dies Frauen, die im Schatten arbeiten. Das könnte aber auch zu manchen Zeiten Mathildes Glück gewesen sein, denn dass sie als Kommunistin nicht erkannt wurde, ist ein Wunder. Auf jeden Fall war sie eine höchst mutige Frau und musste soviel Leid erleben.
    Auf dem Platz an der Großen Hamburger Straße stand ich vor ein paar Jahren und fand es so traurig dort.
    Mögen solche Zeiten nie mehr wiederkommen!
    Herzlichst, Sieglinde

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  6. Ein typisches Frauenschicksal, sich im Hintergrund für andere aufopfern, meint man. Und dann doch nicht, so ganz und gar nicht. Eine starke Frau, die in schwierigen Zeiten ihren Weg ging. Um dann aus ganz anderen Gründen als den sich zunächst abzeichnenden, jedoch noch widerwärtiger, den Tod zu finden. Danke für deine unermüdliche Arbeit, diese Frauen vor den Vorhang zu holen.
    LG heike

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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