"Mit dem Erscheinen dieser mit Liebe zum Detail editierten, prächtigen Ausgabe wird Mechtilde Lichnowsky in einigen Buchregalen eine Lücke füllen, von der bislang kaum jemand Kenntnis genommen haben dürfte", heißt es bei Thomas Hummitzsch in seiner Besprechung aus Anlass der Veröffentlichung einer Werkausgabe der Autorin in diesem Frühjahr beim Zsolnay Verlag. So bin ich auf die Schriftstellerin aufmerksam geworden, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine vielgelesene Autorin gewesen ist.
Mechtilde Lichnowsky kommt als Mechtilde Christiane Marie Gräfin von und zu Arco-Zinneberg am 8. März 1879 auf Schloß Schönburg im Rottal in Niederbayern zur Welt. Mechtilde ist die dritte Tochter - vier Schwestern und drei Brüder werden noch folgen - des bei ihrer Geburt 29jährigen Maximilian Graf von und zu Arco-Zinneberg und der drei Jahre jüngeren Olga Freifrau von Werther. Die Familie hat unter ihren Ahninnen die österreichische Maria Theresia und die italienische Lukrezia Borgia sowie die Gonzagas in Mantua ( siehe auch dieser Post ). Eine solche Herkunft verpflichtet. Nach einer behüteten, glücklichen Kindheit, die sie im Kreise ihrer Geschwister in Schönburg, wo der Vater ein bedeutendes Vollblutgestüt unterhält, und in seinem Münchener Palais verbringt, erhält Mechtilde anschließend ab 1892 eine strenge Erziehung in der Sacré-Cœur-Klosterschule Riedenburg in Vorarlberg.
In ihrem späteren Buch "Kindheit" wird sie ein detailreiches Panorama des Lebens auf dem Lande entwerfen und manche Idylle schildern:
"Und hinter dem Stalldach versteckt sich die Sonne, sonst könnte niemand den Himmel anschauen, in dem so viele Schwalben sausen. Dennoch, will man eine mit den Augen verfolgen, verwandelt sie sich in einen weißen Funken, der im Blau zergeht und als Träne auf die Wange fällt."
Das eigensinnige und hochbegabte Mädchen erhält eine profunde Ausbildung auf bildnerischem wie musikalischen Gebiet, erlernt nach Französisch auch Englisch und beginnt im Internat Schreibskizzen anzufertigen, boshafte über Mitschülerinnen, schwärmerische in Bezug auf junge Nonnen. Eine erste Verliebtheit in eine Ordensschwester wird im Keime erstickt. Mit allen möglichen Mitteln lehnt sich das junge Mädchen gegen die Bevormundung auf. Mit siebzehn verlässt sie die Schule.
In München fällt die junge Frau aufgrund ihres Kunstverstandes auf. "Die merkwürdige Schwabinger Bohème, die ihre Züge dem damaligen künstlerischen München aufgeprägt hatte, war auch an Mechtilde nicht spurlos vorübergegangen. Zweifellos war sie ein Charakter", schreibt ein Jugendfreund über die Adlige, ausgestattet mit dem lässigen Selbstbewusstsein ihrer Klasse, zu deren Privilegien auch gehört, auf bürgerliche Konventionen zu pfeifen.
1899 freundet sie sich mit dem gleichaltrigen Münchener Psychiater Wilhelm Schenk von Stauffenberg an, der ihre künstlerische und geistige Entwicklung prägen wird. Über Stauffenberg macht sie die Bekanntschaft mit dem Dichter Rainer Maria Rilke, dem Philosophen Hermann Graf Keyserling und dem Schriftsteller und Dichter Hugo von Hofmannsthal.
Eine Verlobung 1890 mit dem zwei Jahre älteren Briten Ralph Harding Peto, Militärattaché an der britischen Gesandtschaft in München und der Familie der Baronets Peto of Somerleyton zugehörig, wird auf Drängen der Eltern, also aus familiären Rücksichten, noch im selben Jahr aufgelöst.
Genehmer ist den Eltern da schon der 19 Jahre ältere Fürst Karl Max von Lichnowsky, Magnat & Gutsbesitzer in Mährisch-Schlesien und zeitweilig Diplomat im Dienst des deutschen Kaiserreiches. 1904 wird geheiratet - ein Fest, bei dem alleine tausendeinhundert Gäste nur aus dem europäischen Hochadel zugegen sind. Das Paar ist DAS gesellschaftliche Ereignis jener Zeit.
Im Juli 1905 kommt dann auch schon Wilhelm Hermann Karl Dionysos Maximilian, im August 1906 Leonore Marie Helene und im Dezember 1907 Michael Max Leopold zur Welt, jeweils auf den Schlössern der Familie in Grätz bzw. Kuchelna. Dort lebt Mechtilde mit den Kindern bzw. ab 1908 dann auch in einer Wohnung in Berlin in der Buchenstraße.
Die Lichnowskys sind ein kulturell engagiertes schlesisch-mährisches Adelsgeschlecht, seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesen, welches sich nicht nur durch eigene literarische und musikalische Tätigkeit auszeichnet, sondern auch als Mäzene und Freunde berühmter Künstler in die europäische Kunstgeschichte eingegangen ist. Ihre Schlösser sind neben den mitteleuropäischen Metropolen wie Wien oder Prag nicht selten Treffpunkt dieser Adligen mit berühmten zeitgenössischen Künstlern von Ludwig van Beethoven angefangen, über Franz Liszt bis zu Cosima Liszt-Wagner gewesen. Golo Mann, Mitschüler von Lichnowsky in Salem, charakterisiert den Freund & seine Familie so: "In Erscheinung und Ausdrucksweise hätte man nicht aristokratischer sein können, aristokratisch beinahe bis zur Selbstparodie."
Neben dem Engagement in literarischen & musikalischen Kreisen - darin ihrer Schwiegerfamilie ebenbürtig - interessiert sich Mechtilde besonders für die zeitgenössische Kunstszene. Sie erweitert die Kunstsammlung alter Meister der Familie ihres Mannes mit Beispielen aufstrebender Künstler. So hat das Paar in seiner Sammlung moderner Kunst Werke von Franz Marc, Oskar Kokoschka ( der Mechtilde öfter gemalt bzw. gezeichnet hat) und Pablo Picasso, darunter zwei frühe Gemälde der Serie "Blue Boy".
Die Lichnowskys auf dem Weg zur Botschaft |
In den Schlössern der Lichnowskys bewirtet Mechtilde auch den deutschen Kaiser Wilhelm II. Der schickt den Ehemann dann auch 1912 als Botschafter nach London.
Sie selbst trägt mit ihrer geistreichen Art dazu bei, die Botschafter-Residenz Carlton House Terrace zu einem Mittelpunkt des damaligen Londoner Kulturlebens und der Avantgarde zu verwandeln. Sie lernt George Bernhard Shaw, Rabindranath Tagore und Rudyard Kipling kennen und ist eng mit Roger Fry ( siehe auch dieser Post ) befreundet und arbeitet in der britischen Avantgarde-Bewegung mit. Sie trifft auch den König Georg V. sowie Edward, den Prince of Wales. Es gibt sogar britische Stimmen, die meinen, Mechtilde sei "mainly responsible for her husband’s phenomenal social success in London." Andere wiederum halten sie doch für zu exzentrisch. Das gilt aber wohl vor allem für Politikerkreise in Deutschland.
In London verfasst Mechtilde ihr erstes Buch über eine Ägyptenreise im Jahr zuvor: "Götter, Könige und Tiere in Ägypten".
"Ihre genauen Beobachtungen hat Lichnowsky nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern festgehalten. In Ägypten hat sie zahlreiche Skizzen angefertigt – hier blitzt ihr Zeichentalent das erste Mal auf – und auch so manchen Kunstgegenstand erworben, wie man den Fotografien entnehmen kann", schreibt Thomas Hummitzsch in seiner Rezension der aktuellen Neuausgabe ihrer Werke. Und der befreundete Carl Sternheim ( siehe auch dieser Post ) urteilt in einem Brief schon 1913, er lese im Buch Sätze, "die niemand selbst gemacht zu haben verschmähen würde".
Außerdem arbeitet sie in London an ihrem zweiten Manuskript, dem Drama "Das Spiel mit dem Tod". Jeden Vormittag soll die Fürstin nicht gerade standesgemäß per Autobus in die Bibliothek des Britischen Museums gefahren sein, um zu schmökern. Die Londoner Tageszeitungen begeistern sich für die schöne, kluge und geistvolle Diplomatengattin.
Mit ihren Kindern (1912 ) |
Doch der Aufenthalt ist nicht von langer Dauer:
Karl Max von Lichnowsky bemüht sich auf seinem Posten bis zuletzt, den 1. Weltkrieg auf diplomatischem Wege zu verhindern und auf einen Ausgleich zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien hinzuwirken. Außerdem rät er zur Zurückhaltung was die Unterstützung Österreich-Ungarns anbelangt. Seine Position findet kein Gehör bei Kaiser & Reichskanzler.
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs verlässt die Botschafter-Familie am 6. August 1914 London und kehrt nach Deutschland zurück. Als Kritiker der Rolle Deutschlands in dem Konflikt verfasst Lichnowsky privat ein Memorandum, welches gegen seinen Wunsch & Willen ab 1916 im Land kursiert & veröffentlicht wird, weshalb er aus dem preußischen Herrenhaus ausgeschlossen wird, kurz bevor das Herrenhaus selbst aus der Liste der europäischen Parlamente gestrichen wird. Lichnowsky zieht sich aus der Politik ganz zurück. Später wird er von den Nationalsozialisten auf die Liste der "Novemberköpfe", also Staatsfeind Erster Klasse, gesetzt werden.
Die Stigmatisierung ihres Ehemannes wirkt sich auch auf die Rezeption der Schriften der Autorin aus: In der Weimarer Republik - und erst recht nach 1933 - wird sie immer wieder von bestimmten Kreisen quasi in Sippenhaft genommen und als "Fremdkörper" innerhalb der deutschen Kultur diffamiert werden.
In ihrem letzten Buch "Heute und Vorgestern", dass erst 1958 veröffentlicht wird, kommt Mechtilde noch einmal auf den Vorabend des Ersten Weltkrieges zu sprechen. Ihre detaillierten Auskünfte über die letzten Ereignisse vor der "großen Katastrophe" wirken glaubwürdig und keinesfalls als späte Rechtfertigungsversuche, sondern sind noch einmal ein deutlicher Angriff auf die deutsche Politik und Diplomatie der Zeit.
Karl Max von Lichnowsky kehrt als gebrochener Mann nach Berlin zurück, während Mechtilde, so scheint es, sich immer schnell mit dem neuen, nächsten Ort arrangiert, was wohl mit ihrer Herkunft und der damit verbundenen Weltläufigkeit zu tun hat.
1915 bringt der Verleger Kurt Wolff in Leipzig ihr "Spiel vom Tod. Neun Bilder für Marionetten," heraus. Es wird im Berliner Lessing - Theater unter Anwesenheit der Lichnowskys aufgeführt und von Karl Kraus in der "Fackel" so kommentiert: "Die Welt gäbe viel darum, wenn der Herr noch in einer bezahlten Loge eines Londoner Theaters säße." Auch der berühmte Kritiker Alfred Kerr schätzt das Stück. 1918 folgt die Aufführung von "Der Kinderfreund", einem Schauspiel in fünf Akten, inszeniert von Max Reinhardt.
Apropos Karl Kraus: Mit dem wird Mechtilde bis zu seinem Tode 1936 sehr eng befreundet sei. Schon 1913 möchte Kurt Wolff eine Begegnung zwischen seiner Autorin und Karl Kraus arrangieren ( Wolff versucht ihn leidenschaftlich für seinen Verlag zu gewinnen ). Endlich, nach langem Sträuben, warum auch immer, kommt es 1916 zur Gründung des "Verlags der Schriften von Karl Kraus" unter dem Dach des Kurt Wolff Verlags und Mechtilde begegnet ihm 1917 bei einer seiner Lesungen.
Mit Kraus verbindet sie die Leidenschaft für die Präzision der Sprache. Es entsteht eine Freundschaft, die die böhmisch Baronesse und Salondame Sidonie Nádherná von Borutin, die Geliebte des Schriftstellers, in einer Art avantgardistischer Dreierbeziehung miteinschließt, die nicht ganz zu durchschauen ist. Kraus verbringt lange Sommerwochen auf den böhmischen Schlössern Kuchelna und Grätz bzw. Janowitz. Und einen Augenblick lang erwägt er, sein Hauptwerk "Die letzten Tage der Menschheit" Sidonie Nádherná und Mechtilde Lichnowsky zu widmen.
Selbst eine ausgezeichnete Pianistin, vertont Mechtilde für Karl Kraus Nestroy-Couplets, die er bei seinen Rezitationsabenden einsetzt. Und satirische Zeichnungen für die "Fackel" steuert sie ebenfalls bei.
Mit Karl Kraus (ca.1930 ) |
Im "Fachmann" übt die Schriftstellerin Kritik an den Geschlechterstereotypen ihrer Zeit. Indem sie die Dissoziation einer weiblichen Protagonistin aufzeigt, die durch die restriktive Sicht auf Frauen als nicht-kreativ gilt, versucht sie, alternative Modelle weiblicher Subjektivität zu entwickeln. Dieses Problem tritt auch auf im Verhältnis zu Kraus auf, der von schreibenden Frauen eigentlich nichts hält. Humor und Ironie nimmt man Frauen damals ohnehin generell nicht ab.
Teilweise ist sie "selbst noch so halb von dem Mythos überzeugt, mit dessen Hilfe sich das Patriarchat so lange halten konnte: dass Frauen biologisch unterlegen seien, etwa weil sie ein messbar "kleineres Hirn" hätten [... ] Hier war sich eine der begabtesten und gebildetsten Frauen ihrer Zeit offenbar ihr Leben lang nicht ganz sicher, ob sie wirklich dem trauen konnte, was sie täglich wahrnahm – nämlich sich selbst im qualitativen Vergleich zu intellektuellen Männern," wie Eva Menasse zur Neuausgabe der Lichnowsky - Werke kommentiert.
1921 - das Jahr, in dem Kraus die 42jährige Mechtilde vor dem Ertrinken in der Moldau rettet - erscheint ihr Roman "Geburt. Liebe, Wahnsinn, Einzelhaft,", mit dem ihr endgültig der schriftstellerische Durchbruch gelingt. Er erreicht in kurzer Zeit sieben Auflagen, und Mechtilde ist von nun an durch Lesungen und Zeitschriftenbeiträge einem breiteren Publikum bekannt. 1927 dann erscheinen "Halb & Halb", ein selbst bebildertes Versbuch über Tiere, und die Erzählung "Das Rendezvous im Zoo", in der das Unbehagen der Geschlechter in ironischer, teils auch bitterer Weise analysiert wird.
Am 27. Februar 1928 stirbt Mechtildes Mann mit knapp 68 Jahren. All sein Vermögen geht nun erbrechtlich auf den erstgeborenen Sohn Wilhelm über, der Lebensstandard seiner Mutter hängt also ab da von der Großzügigkeit des 23jährigen ab. "Ohne Mann war und galt man nichts in dieser Zeit, ganz egal, wie gut man denken, schreiben, malen und komponieren konnte", meint dazu Eva Menasse.
Mechtilde wird nun an der französischen Riviera in Cap d’Ail in der Nähe von Nizza sesshaft, wo sie ein altes Haus mit Garten erwerben kann, welches sie bis 1938, nur unterbrochen durch Reisen, bewohnen wird und in dem sie offensichtlich eine Atmosphäre vorfindet, die ihre literarische Tätigkeit befördert.
1930 erscheint "An der Leine" über ihren intelligenten und humorvollen Dachshund Lurch, das sich schwerlich in eine Gattung einordnen lässt, 1934 "Kindheit", was als schönstes Kindheitsbuch der damaligen Zeit bezeichnet wird, ja ein Meisterwerk, das die "Neue Züricher Zeitung" damals in höchsten Tönen lobt: "Ein Buch, das allein genügen würde, solch einem Leben die Unsterblichkeit zu verleihen." Die eher unterhaltsamen Romane "Delaide" und "Der Lauf der Asdur" folgen 1935 und 1936.
Die Weigerung, in die Reichsschriftumskammer im Nazi- Deutschland einzutreten, bezahlt sie wie viele andere mit Schreibverbot und Isolation. Ein Bruch in ihrer Karriere, der auch nach dem Krieg nur schwer zu kitten sein wird. Wegen der Enteignung ihres letzten Verlegers vor dem Krieg, der Familie Fischer, verzichtet sie selbst aber auch auf neue Publikationen in Deutschland.
Mit Ralph H. Peto |
In Südfrankreich trifft sie - nach einem Menschenalter quasi- ihre alte Jugendliebe Ralph Harding Peto wieder, der schließlich bei ihr lebt und den sie 1937 heiratet. Der bislang unveröffentlichte Roman "Der Gärtner in der Wüste" schildert, wie sie sich emotional von ihrem Garten in Südfrankreich verabschiedet, den sie im Sommer 1938 endgültig verlässt, um nach London zu ziehen. Durch die Heirat ist sie britische Staatsbürgerin.
Während eines Familienbesuches 1939 in Deutschland bricht der 2. Weltkrieg aus, und die Gestapo untersagt ihr als feindlicher Ausländerin die Ausreise und stellt sie unter Hausarrest. Wöchentlich muss sie sich bei der Polizei melden. Mechtilde verbringt die Kriegsjahre überwiegend in den schlesischen Schlössern der Familie, aber auch in München. 1941 wird ihr Werk auf die "Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" gesetzt.
Während sie also festsitzt, schreibt sie "Worte über Wörter", in dem sie sich mit der Nazisprache auseinandersetzt und das oft mit Victor Klemperers "Lingua Tertii Imperii" verglichen wird. Sie zeigt auf, wie die Barbarei der Nazis mit der Verhunzung der Sprache begonnen hat. Was viele auch heutzutage nicht sehen wollen: dass die Worte den Taten unweigerlich vorangehen und die Taten ohne Worte nicht vorstellbar sind.
Die Widmung in diesem Buch lautet: "In Freundschaft dem damals lebenden Karl Kraus gewidmet, und heute dem unsterblichen". Einzig die Nähe zu Karl Kraus legitimiert Mechtildes Sprachkritik bei manchen ihrer Kritiker. Selbst wenn sie sich auf linguistischem Gebiet bewegt, wird das "Damenhafte" ihres Textes betont, vom Geschlecht der Autorin also wieder einmal nicht abstrahiert.
Der Verleger Peter Suhrkamp soll 1939 vergeblich versucht haben, das Werk zu veröffentlichen. Es kommt dann erst zehn Jahre später im Wiener Bergland Verlag heraus.
Eine weitere Abrechnung mit dem NS-Staat ist die allegorische Tragödie "Gespräche in Sybaris. Tragödie einer Stadt in 21 Dialogen", das sie während des Krieges schreibt. Sybaris ist eine griechische Stadt am Golf von Tarent voller heiterem, friedlichem Wohlleben. Als der letzte Sybarit von einer Seereise zurückkehrt, findet er aber nur noch eine Trümmerstätte vor: Der totalitäre Feind, an den niemand geglaubt hat, hat zugeschlagen. Die Gespräche werden in zweierlei Deutsch geführt, denn es gibt keine gemeinsame Sprache zwischen Geist und roher Gewalt. Das Buch erscheint 1946 in Wien.
Im Februar 1945 verlässt Mechtilde mit ihrem Sohn Schloss Grätz in Richtung Westen.
Nach sechsjähriger ungewollter Trennung stirbt ihr Mann am 3. September 1945 in London, drei Monate bevor sie selbst in die Stadt zurückkehren kann. Das restliche schlesische Lichnowsky-Eigentum wird nach dem Zweiten Weltkrieg von der tschechoslowakischen Regierung verstaatlicht, ein Teil der Kunstsammlung, darunter Werke aus dem ehemaligen Besitz von Mechtilde Lichnowsky, zum Beispiel Kokoschkas Porträt, werden staatlichen Museen der Tschechischen Republik einverleibt.
Sie selbst lebt zunächst in London unter sehr prekären Umständen in einem bescheidenen möblierten Zimmer für 30 Schilling die Woche. Von ihrem 70. Geburtstag 1949 nimmt die Londoner Presse, die sie doch dereinst gefeiert hat, keine Notiz.
1950 wird sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur. Eine weitere Ehrung erreicht die einsame Schriftstellerin - ihre Söhne leben inzwischen in Brasilien, die Tochter lehrt an der Uni Heidelberg - in London: 1953 ehrt sie die Landeshauptstadt München mit ihrem Literaturpreis.
Es sind auch die Jahre, in denen Neuauflagen ihrer Werke herauskommen, die die Zeit unter den Nationalsozialisten überdauert haben. Jedoch behindert die Rezeption ihrer achtzehn Bücher, ihrer Dramen, Gedichte und essayistisch-philosophischen Abhandlungen ihre schonungslos kritische Haltung am überwundenen Regime und ihre dezidierte Nazi-Gegnerschaft. Auch die Einsortierung in "Frauen- bzw. Salonliteratur" verhindert in späteren Jahren, dass die Lichnowsky in der Bundesrepublik noch gelesen wird.
Sie selbst, "bis in die Seele verletzt" vom Naziterror und der Begeisterung der Massen in jenen Tagen, stellt eine Rückkehr "nach den Zeiten des Ungeists" nach Deutschland in Frage, wie sie kurz vor ihrem Tod in einem Interview bekennt. Am 4. Juni 1958 stirbt Mechtilde Linowsky im Alter von 79 Jahren in London und findet ihre letzte Ruhe auf dem Friedhof Brookwood in der Grafschaft Surrey
Erich Kästner äußert sich kurz nach ihrem Tod so: "Wir Glücklichen besaßen drei bedeutende Schriftstellerinnen, drei im Naturell eigenwillig weibliche, drei im Charakter entschlossene männliche Frauen", und stellt neben Ricarda Huch und Annette Kolb ( siehe dieser Post ) eben Mechtilde Lichnowsky.
Ruth Rehmann - auch diese von mir schon hier porträtiert - verfasst 1999 einen Beitrag über sie für das Jahrbuch der Akademie der Schönen Künste in München, 2002 kommt ihr Briefwechsel mit Karl Kraus heraus und eine - die bisher einzige - Monographie, und so langsam richtet sich im neuen Jahrtausend der Blick wieder auf die in der Weimarer Zeit beachtete Autorin. Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung ist zuletzt in diesem Jahr also die vierbändige Werke-Ausgabe herausgegeben worden, die neugierig macht, zeigt sie doch eine unkonventionelle, streitbare und sprachbewusste Autorin. Und es zeigt sich, dass es Zeit wird, sich von solchen Formulierungen zu verabschieden wie "ihre Bücher gehören zu den geistreichsten, die von Frauen geschrieben wurden." Hat frau je vom Verleger eines Autors gehört, seine Bücher gehören zu den geistreichsten, die von Männern geschrieben wurden?
Danke für diese spannende und sehr neugierig machende Biographie. Deine Betrachtung der Verlags-Formulierung am Ende ist sooo richtig!
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Andrea
Eine bemerkenswerte Persönlichkeit, die außergewöhnliche Bücher geschrieben hat. Meine besondere Zustimmung fand Deine Bemerkung „Worte gehen Taten voran“. Just am heutigen Tag ist im Feuilleton der FAZ eine ausführliche Rezension der vierbändigen Werkausgabe erschienen. Gut, dass Mechtilde Lichnowsky wiederentdeckt werden kann. Du hast mit diesem Portrait beste Vorarbeit dazu geleistet. Danke, liebe Astrid! Grüße von Margit P.
AntwortenLöschenWas für ein ereignisreiches Leben, persönlich und historisch. Ich bin immer wieder verwundert, wieviel Frauen in diesen Zeiten unterwegs waren und keine kleinen Entfernungen. Und an welchen Orten sie gewohnt haben.
AntwortenLöschenSchloß Grätz habe ich einmal besucht vor einigen Jahren. Aber die Bedeutung dieses Ortes war mir nicht klar.
Gelesen haben ich noch nichts von ihr. Sie war eine außergewöhnliche Frau, die sehr hellsichtig war wie mir scheint.
Tragisch, dass sie zu spät wieder nach London kam. Was für ein Leben!
Herzlichst, Sieglinde
deinen beitrag hab ich fast atemlos ohne unterbrechungen gelesen - so spannend und aufschlussreich!
AntwortenLöschendanke, dass du mechthilde lichnowsky hier ins licht der öffentlichkeit rückst! ich hoffe, dein beitrag - und ihre werke - finden viele leser*innen!
liebe grüße
mano
Vielen lieben Dank für die Porträts. Sie wecken das Bewusstsein, das viele Persönlichkeiten gänzlich mir unbekannt. Namen der Feauen nie gehört und ein solch umfangreiches, interessantes Leben. Ich lese diese gern und frage mich, welche Angst herrscht, diese Leben einfach nicht zu beachten. Viele Grüsse
AntwortenLöschenwieder ein sehr interessantes Portrait einer starken Frau
AntwortenLöschenauch wenn sie in ihren Anfängen durchaus anerkannt war so hat sie doch am Ende ihres Lebens sehr kämpfen müssen
doch scheint sie mit allen Widrigkeiten klar gekommen zu sein
ganz aktuell ihre Worte über die Sprache und die folgenden Taten
danke für die Vorstellung dieser Autorin
liebe Grüße
Rosi