Donnerstag, 4. April 2024

Great Women #372: Marguerite Duras

Die beiden großen Marguerites der französischsprachigen Literatur habe ich anfangs immer ein wenig durcheinander geschmissen, habe ich doch mit ihnen zur gleichen Zeit literarisch Bekanntschaft gemacht. Dabei bin ich Marguerite Duras schon früher begegnet, durch einen Film - "Hiroshima, mon amour" -, den ich im Filmclub meiner Jugend gesehen habe. ( Über Marguerite Yourcenar habe ich schon vor langer Zeit gepostet. )


"Ein Mann und eine Frau, sagen Sie, was Sie wollen, 
sie sind unterschiedlich."
.....
"Ich liebe meine Bücher. Sie interessieren mich."


Marguerite Duras erblickt am 4. April 1914, also heute vor 110 Jahren, als Marguerite Germaine Marie Donnadieu in Gia Định bei Saigon in Vietnam, damals zum französischen Kolonialreich gehörig, das Licht der Welt.

Sich selbst, nächste Freunde & Familienangehörige wird Marguerite später als Schriftstellerin einem schonungslosen Voyeurismus preisgeben, und doch wird vieles im Dunkeln bleiben. Sie wird eine Meisterin im Erfinden und Umdefinieren ihrer eigenen Biographie werden - davon zeugen viele Interviews - und "die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Erinnerung und Biographie, zwischen Geschichte und Literatur" ( Laure Adler ) sind als Biografin nicht immer zu ziehen. Ich bewege mich bei meinem Porträt also immer etwas auf ungesichertem Boden.

Beginnen wir mit den Anfängen, immer im Hinterkopf, dass Marguerite in ihrer Literatur über die Jahre eine wahre Familiensaga geschaffen hat...

Ihre Mutter, Marie Adeline Augustine Josèphe Legrand, ist eine Bauerntochter aus dem Pas-de-Calais, unter miserablen materiellen Umständen aufgewachsen und mit wenig Hoffnung, dem Schicksal als Bäuerin zu entgehen. So verlässt sie schließlich 1905 nach einem halben Jahr Ehe mit einem Mann namens Firmin Obscur Frankreich, um nach Cochinchina auszuwandern und dort als Lehrerin im Kolonialdienst zu arbeiten. Sie ist streng, autoritär, sehr religiös, aber auch couragiert und bodenständig. Monsieur Obscur wird zwei Jahre später sterben.

In der Kolonie - oder vielleicht schon vorher in Duras? Da gibt es viele Geheimnisse - trifft sie auf den fünf Jahre älteren Henri Émile Donnadieu, ebenfalls Lehrer für Mathematik, Direktor der Schule vor Ort, verheiratet, Vater zweier Söhne, in sie verliebt, und der sie heiratet, nachdem seine Frau 1909 gestorben ist, die bis dahin von Marie versorgt worden ist. 

Marguerite hat zwei ältere Brüder, Pierre (*1910) und Paul (*1911). 
Marguerite an der Seite ihrer Mutter
mit ihren beiden Brüdern & drei Dienstboten
(1920 )

Gerade sechs Monate alt ist das Mädchen, da erkrankt die Mutter & kehrt für acht Monate nach Frankreich zurück. Die Kinder werden von Dienstboten aufgezogen, auch später noch, weil Marie immer unterrichtet. Sie werden immer lieber unter Vietnamensen sein denn unter Weißen. Die Mutter lässt die kleine Tochter spüren, dass sie kein Wunschkind ist. "Toi, t'es ma petite misère", wird sie zu ihr sagen.

Als sie drei Jahre alt ist, zieht die Familie um nach Hanoi,  das "tropische Paris", wo man ihren Vater zum Direktor des Grundschulwesens ernannt hat. Marie Donnadieu hingegen richtet in einem auf Kredit gekauften Haus eine Privatschule ein. Marguerite wächst jetzt mitten unter Zöglingen aus laotischem Adel & begüterten Familien Hanois auf. In diese Zeit fällt ein Missbrauch der Vierjährigen, den sie in anderen Zusammenhängen aber auch dem Bruder Paul zuschreibt.

Die nächste Station der "unsäglichen Kindheit" ist Tonkin/Pnom Penh, wohin die Familie 1920 in ein großes Haus mitten in einem Park umzieht, und das Mädchen von der Mutter unterrichtet wird. 

Der stets kränkelnde Vater ist immer wieder zwischendurch nach Frankreich zurückgekehrt, im Frühjahr 1921 dann endgültig, wo er zunächst in einem Hospital in Marseille behandelt wird. Später kauft er die Domaine de Platier in Pardaillan bei Duras im "Land des Weißweins" im Departement Lot-et-Garonne. Dort lebt er abgeschottet von seiner Familie, dort stirbt er  am 4. Dezember des Jahres 49jährig einsam & ohne medizinische Betreuung, dort wird er in einem Nachbarort begraben. Marguerite verspürt keine Emotionen bei der Nachricht von seinem Ableben, ist doch in ihrer Fantasie ihr Vater ein chinesischer Geliebter der Mutter. Diese muss übrigens sechs Jahre darum kämpfen, ihre Witwenpension zu bekommen.

Erst im Jahr 1922, als die Mutter einen zweijährigen Heimaturlaub antritt, lernt Marguerite die Gemeinde Duras kennen, und es bildet sich ihre Vorstellung von Frankreich. Später werden die Eindrücke in ihren ersten Roman "Les Impudents" ( 1943; deutsch: "Die Schamlosen" ) einfließen. 

Ende 1924 kehrt Marie Donnadieu mit ihren drei Kindern - Marguerite ist jetzt zehn Jahre alt - wieder nach Cochinchina zurück, diesmal nach Vĩnh Long im Süden Vietnams, wo sie als Rektorin der Mädchenschule eingesetzt wird. Die Brüder Pierre & Paul brechen die Schule ab, beginnen den Tag am späten Nachmittag, um nachts umherzustreunen - die Söhne einer Lehrerin, die sonst ihre Schüler in festem Griff hat! Wenn Pierre Opium geraucht hat, befällt ihn eine regelrechte Quälsucht, die sich in besonderer Brutalität gegenüber der zartgliedrigen jüngeren Schwester ausdrückt. Die Mutter lässt ihn lange gewähren. Als die Aggressivität des Ältesten unerträglich wird, schickt sie ihn zwischenzeitlich nach Frankreich zurück.

Mit Bruder Pierre
(1930)
Noch mal vier Jahre später kommandiert man Marie Donnadieu ab als Schulleiterin an eine andere Mädchenschule, diesmal ins damals idyllische Sa Đéc, nahe der ungesunden Wälder im Schwemmland des Mekong gelegen, auch als "Garten Cochinchinas" bekannt. "Meine Heimat ist eine Heimat aus Wasser," wird Marguerite einmal über ihre Kindheit voller Mandelblütengeruch, aber auch dem Pestgestank der Cholera schreiben. 

Der Bruder stößt wieder zur Familie. Aus Frankreich führt er neue Schimpfwörter ein und belegt Marguerite mit Ausdrücken wie sale morpion ( "dreckige Filzlaus" ), espèce de fumier ( "verdammtes Mistvieh" ) oder sale pute ( "dreckige Hure" ). "Niemals, nirgendwo", schreibt sie im "Cahiers rose marbré", "in keinem Milieu, ist mir ein so ausgeprägter Sinn für die Schamlosigkeit der Sprache begegnet."

Marguerite übernimmt allerdings auch das Bild von sich, dass Bruder & Mutter von ihr entwerfen:

"Mich hätte man ebenso gut für eine kleine Nutte wie für ein kleines Mädchen halten können, ich war die Zweideutigkeit in Person." 

Marie Donnadieu erwirbt in dieser Zeit eine Reisplantage bei Prey Nop in Kambodscha, am "Ende der Welt", zwei Stunden von Saigon entfernt. Gleichzeitig lässt sie auf ihrem Land am Golf von Siam einen Bungalow aus Holz errichten. Marguerite führt dort mit ihrem Bruder Paul ein wildes Leben, die beiden töten Affen und Vögel, Reptilien, Raubkatzen.

"Wir wuchsen komplett hemmungslos auf. Es hatte etwas Brutales. Meine Mutter kümmerte sich nicht. Auch meine Brüder erlebten das so. Wir waren höhere Tiere, schreckliche wilde Tiere." ( Quelle hier )
Mit der Mutter
(19)

Das Konzessionsgebiet, das Marie Donnadieu gekauft hat, stellt sich schließlich als unkultivierbar heraus, da es regelmäßig sechs Monate im Jahr vom Meerwasser überschwemmt wird und von Krabben heimgesucht. Ein Schlag für sie, und sie verliert fast den Verstand angesichts der Tatsache, dass ihre Ersparnisse aus zehn Jahren Arbeit in den Wogen des Ozeans versenkt worden sind. Im Roman "Un barrage contre le Pacifique", der 1950 erscheinen wird, schildert die spätere Schriftstellerin den gigantischen Kampf zwischen dem Meer und ihrer Mutter. Sie brutalisiert und überhöht diese gleichzeitig und verwandelt sie in eine fast mythologische Figur. 

Der Traum, dass sie die Konzession für den Reisanbau reich machen würde, muss damals aufgegeben werden. Dennoch wird Marie Donnadieu in Cochinchina reüssieren: Als sie 1950 endgültig nach Frankreich heimkehrt, wird sie durch lukrative Investitionen in ein Internat der gehobenen Klasse und in fünf Häuser in Saigon und durch einträgliche Geschäfte mit Indochina-Piastern eine gemachte Frau sein. Entgegen mancher Darstellungen bei Marguerite ist sie eine widerstandsfähige Selfmade-Frau, die nach  jeder wirtschaftlichen Katastrophe in der Lage gewesen ist, wieder auf die Beine zu kommen.

Szene aus der Verfilmung von "L'Amant"
(1992)
© capelight pictures
1929 meldet sie ihre Tochter am College Chasseloup Laubat in Saigon an und bringt sie in Lyautey Boarding School, einem Pensionat, unter.

Auf einer Heimfahrt von Saigon nach Sa Đéc kommt es auf der Fähre, die einen Seitenarm des Mekong überquert, zu jener schicksalhaften Begegnung Marguerites mit einem Chinesen, Huynh Thoai Lê, Sohn einer wohlhabenden Landbesitzerfamilie. Fünfzehneinhalb ist das Mädchen da, er zweiunddreißig. Zwei Jahre wird ihr Verhältnis andauern, und sein Geld wird der Familie Donnadieu zugute kommen. 

In dem bekanntesten Roman der Duras, "L'Amant" ( 1984; deutsch: "Der Liebhaber"), wird diese Szene als auch die Liaison eine legendäre Rolle spielen und die Schriftstellerin zu einem Star machen. 

"L'Amant" ist eher das Bruchstück von einem Roman, den man an einem Nachmittag lesen kann. Die Urszene ist eine, um die sich wieder Mythen ranken werden. Marguerite Duras erschafft sich darin nämlich ein mächtiges alter ego, eine Heldin: Ein Mädchen, das mit fünfzehn die Kontrolle über einen viel älteren und sexuell erfahreneren Liebhaber übernehmen und bestimmen kann, wie die Beziehung gestaltet wird! Das Buch wird mit dem bekanntesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet, über drei Millionen Mal verkauft und in 40 Sprachen übersetzt werden.

1931 legt Marguerite einen Teil ihres baccalauréat in Philosophie noch in Saigon ab und verlässt dann Indochina in Richtung Frankreich. Dort setzt sie ihr Abitur an einer Privatschule, der Scientia Technical School in Auteuil, fort, um 1932 nach Indochina zurückzukommen. Im Jahr darauf kehrt sie ihrer Heimat dann endgültig den Rücken und studiert in Paris zunächst Mathematik, dann Jura & Politikwissenschaften.

Während ihres Studiums trifft sie im Januar 1936 Robert Antelme. Der drei Jahre jüngere, in Korsika geborene, mit schriftstellerischen Ambitionen wie sie, studiert ebenfalls Jura und muss im Jahr darauf seinen Militärdienst absolvieren. Sie selbst erhält nach dem Erwerb des Diplôme d'études supérieures im Juni 1938 eine Anstellung im Kolonialministerium. Im Auftrag dieser Behörde schreibt sie "L'empire français" (1940), ein patriotisches Propagandawerk, das sie später lieber vergessen machen will und bei der Erwähnung ihrer Werke beinahe systematisch unterschlägt. 

1939 heiraten sie & Antelme. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazideutschen arbeitet sie ab 1942 im Comité d'organisation du livre, das - der deutschen Propagandaabteilung unterstellt - im Buchwesen über die Papierzuteilung an die Verlage entscheidet. 1942 verliert sie bei der Geburt ihr Kind, den Glauben an Gott und ihre bisherige politische Haltung: Sie wird Mitglied der französischen Résistance.
Links mit Roert Antelme, rechts mit Dionys Mascolo

Aufgrund ihres Jobs lernt Marguerite den Schriftsteller & Gallimard-Lektor Dionys Mascolo kennen, mit dem sie eine Liaison eingeht. Mit Robert, der ebenfalls eine Nebenbeziehung hat, führt sie eine komplizierte ménage a trois. 

Auf politischer Ebene bilden die drei die "groupe de la rue Saint-Benoît" ( nach der Wohnung des Ehepaares ), die wiederum Teil einer Gruppe ist, zu der auch François Mitterrand ("François Morland" ) gehört, der spätere Präsident Frankreichs. 

Am 1. Juni 1944 fliegt die Gruppe auf. Während den anderen die Flucht gelingt, wird Robert Antelme verhaftet und zwei Monate später nach Deutschland in das KZ Buchenwald deportiert. Marguerite spricht vorher bei der Gestapo vor, um ihren Mann freizubekommen. Sie begegnet dort demjenigen, der ihn verhaftet hat, mit bürgerlichem Namen Charles Delval. Sie lässt sich auf ihn ein, vordergründig um über Roberts Schicksal etwas zu erfahren, unzweifelhaft aber auch darum, weil sie die Zweideutigkeit dieser perversen Konstellation reizt. Manche Kenner ihrer Person bestätigen der jungen Frau einen heillosen Hang zur Ambivalenz... 

Was sie wiederum nicht weiß: Ihr Geliebter Mascolo unterhält gleichzeitig eine Beziehung mit Delvals Ehefrau Paulette. Die wird nach der Befreiung einen gemeinsamen Sohn zur Welt bringen, da ist ihr Ehemann im Februar 1945 schon exekutiert worden.

Doch zurück zu Robert Antelme: Den kann "Morland" aus dem verbotenen Teil des Lagers in Dachau, wo "die Toten und hoffnungslosen Fälle lagen", ("La Douleur") als lebenden Leichnam nach Paris zurückzubringen, auf 35 Kilogramm abgemagert. Marguerite gelingt es, Antelme gesund zu pflegen, lässt sich aber 1947 von ihm scheiden, um Mascolo zu heiraten, mit dem sie seit Juni des Jahres einen Sohn, Jean, hat. Der Haushalt zu dritt bleibt bestehen. 

Antelme verfasst sein Buch "L'Espèce humaine" ( dt. "Das Menschengeschlecht" ) auf der Basis seiner Erlebnisse, welches auf Betreiben von Albert Camus 1947 veröffentlicht wird. Ab da wählt er das Schweigen. Er wird nie mehr ein Buch schreiben, sondern nur noch für den Verlag Gallimard die Pléiade-Ausgaben betreuen. Und er wird von da an kein Wort mehr verlieren über Buchenwald oder Dachau.

Marguerite wird ihre Sicht auf die Erfahrungen viel später (1985) unter dem Titel "La Douleur" (dt. "Der Schmerz" ) publizieren, ihr politischstes und wohl auch substanziellstes Buch. Ihr erstes Werk "Les Impudents" ( dt. unter dem Titel "Die Schamlosen" erst 1999 erschienen ) ist schon während des Krieges 1943 herausgekommen, hat aber wenig Beachtung gefunden. Damals hat sie ihren nom de plume "Duras" nach dem Sterbeort ihres Vaters angenommen, gesprochen mit dem scharfen s am Ende, wie es in der Region dort üblich ist und nicht verschluckt wie im feinen Französisch der Pariser Hochkultur. 

Das Entsetzen über die Barbarei Nazideutschlands lässt die Drei zwei einschneidende Konsequenzen ziehen: 

Einmal eine starke Identifikation mit den Juden, die umso stärker wird, als von deren Verfolgung in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch in Frankreich kaum gesprochen wird ( Jean Mascolo wird lange glauben, er sei Jude ), zum anderen die Hinwendung zur Kommunistischen Partei. Gemeinsam mit anderen Schriftstellern und Intellektuellen der Pariser rive gauche schließen sie sich der KP-Sektion des großbürgerlich-intellektuellen 6. Pariser Bezirks an. Doch die weltoffene intellektuelle Atmosphäre in der Sektion ändert sich, als mit dem Ausbruch des Kalten Krieges 1947 die französische KP eine immer stärkere "Stalinisierung" durchmacht. Dionys Mascolo wird 1949 wegen "parteischädigenden Verhaltens" ausgeschlossen, sie selbst im Jahr darauf. Ihre nächtlichen Exzesse in den Lokalen von Saint-Germain-des-Prés lassen sie den Parteiführern als hoffnungslos bourgeois erscheinen. 

Marguerite und der Alkohol - das wird ein Dauerproblem in ihrem Leben werden. Er ist auch ein Grund, weshalb sie mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert ist und sie, von ihrer Umgebung gedrängt, ihn in einem Internat unterbringt. Sie führt gerne ein offenes Haus, ist gastfreundlich, lebendig & fröhlich und schart die intellektuelle crème de la crème der Nachkriegszeit in Frankreich um sich, darunter Raymond Queneau, Maurice Merleau-Ponty, Michel Leiris, Georges Bataille, Clara Malraux, Jorge Semprun, Jacques Lacan, Roland Barthes. 

1955
© Roger Viollet / Ullstein

1956 bricht sie mit Mascolo wegen seiner notorischen Untreue. Ihre neue fünfjährige Beziehung zu dem jüngeren Journalisten von "France-Dimanche" und Romancier Gérard Jarlot, dem sie literarisch das Etikett "Lügenmann"  anhängen wird,  kennzeichnen Sauftouren & Gewalt. 

Es ist aber auch eine fruchtbare Arbeitsbeziehung im Hinblick auf Film- und Theaterproduktionen. Jarlot unterstützt sie als literarischer Berater bei ihrem ersten Drehbuch zu "Hiroshima mon amour", welches sie für Alain Resnais verfasst, das ihr eine Oscar-Nominierung einbringt und 1959 ihr erster Film sein wird. Sie entwickelt sich zu einer durchaus experimentierfreudigen Regisseurin und Drehbuchautorin des film noir. Auch wird erstmals einer ihrer Romane verfilmt, "Barrage contre la Pacifique", von René Clément.

1957 stirbt ihre Mutter, was sie scheinbar emotionslos aufnimmt, ihren Alkoholkonsum aber forciert. 1959 beginnt sie sogar eine Psychoanalyse, bricht diese jedoch mit der lakonischen Bemerkung ab, dass Schreiben ihre Selbst-Therapie sei. 

Zuvor hat sie sich mit ihrem Buch "Moderato cantabile", 1958 publiziert und eine stilistische Zäsur, vom Realismus Faulknerscher Prägung gelöst und wird nun den nouveau romanciers zugeordnet. Für das Buch erhält sie den "Prix de Mai".

Im Alter in ihrem Haus in
Neauphle-le-Château 
Mit der Verfilmung von "Barrage contre la Pacifiquestellt sich endlich auch der materielle Erfolg für die Duras ein, der es ihr gestattet, 1960 ein kleines Landhaus in Neauphle-le-Château (Departement Seine-et-Oise) zu erwerben. 1963 kommt im normannischen Seebad Trouville ein Appartement hinzu, was sie sich im "Roches Noires", einem Grandhotel, in dem einst Marcel Proust abgestiegen ist, kauft.

1965 feiert sie ihren ersten Erfolg im Theater mit "Des journées entières dans les arbres", gespielt von Madeleine Renaud, inszeniert von Jean-Louis Barrault ( 1976 wird sie eine filmische Version nachliefern ). Ihre vielfältigen Talente zeigen sich nun in drei Bereichen: Literatur, Film und Theater. 

Ihr Alkoholmissbrauch zeigt der 50jährigen unmissverständlich seine Folgen, als eine Leberzirrhose diagnostiziert wird. Sie macht eine erste Entziehungskur, wird aber auf dieses Therapeutikum,  diesen Ersatz für menschliche Wärme & Erotik auch in Zukunft nicht verzichten können. Gut ein Jahrzehnt wird der Film für Marguerite zum Medium ihrer Wahl. Im Privaten führt sie dagegen das Leben eines vergessenen ehemaligen Stars, einsam & verlassen, nur in Gesellschaft des Fernsehers und des Weines.

"Die Duras" - so wird sie jetzt immer heißen - ist eine Meisterin des Dialogs. Ihre Filme lesen sich wie ein Buch und sprengen doch alle Grenzen des geschriebenen Wortes. Sie erzählen von Einsamkeit und nie enden wollendem Begehren, von Erinnerung und Vergessen. Die Struktur ihrer Filme gleichen musikalischen Variationen: Motive, Sätze, Bilder, Töne, Musik, alles kommt und geht wie Ebbe und Flut. Beeindruckend "India Song" mit der unvergleichlichen Delphine Seyrig von 1975, ihre Vision eines untergehenden Kolonialismus, ein Film voller dekadenter Eleganz und Schönheit. Er basiert ebenfalls auf einem ( unveröffentlichten ) Theaterstück und auf dem Roman "Le vice-consul" aus dem Jahre 1966. Beeindruckend auch "Le camion" von 1977. Dort sitzt sie selbst mit Gérard Depardieu vor der Kamera. Sie lesen ein Drehbuch, in dem ein kommunistischer Lastwagenfahrer auf eine Anhalterin trifft. Wiederholt kommentiert Duras ihren Text und spricht über ihre enttäuschten Ideale des Kommunismus. 

"Ich mache Filme, um mir die Zeit zu vertreiben. Wenn ich Kraft genug hätte, nichts zu tun, dann würde ich nichts tun." Aber auch: "Ich habe Filme gemacht, um der beängstigenden Arbeit des Schreibens zu entkommen." Während dieser Zeit erscheinende literarische Publikationen stehen ausschließlich im Zusammenhang mit diesen Filmen. Der Vorwurf, Literatur in Serie zu produzieren, ficht Marguerite nicht an.

1980 wird sie wegen ihres Alkoholmissbrauchs in das Krankenhaus Saint-Germain-en-Laye eingeliefert, fällt ins Koma und bleibt dort fünf Wochen. 

"Es ist immer zu spät, wenn jemand jemandem sagt, dass er zu viel trinkt", schreibt sie. "Man weiß selbst nie, dass man Alkoholiker ist. In hundert Prozent der Fälle wird es als Beleidigung aufgefasst." ( Quelle hier )

Sie vermutet, dass sie aber vom Moment ihres ersten Drinks an Alkoholikerin gewesen ist. 

"Alkoholismus ist bei einer Frau ein Skandal, und eine Alkoholikerin ist eine ernste Angelegenheit. Es ist eine Verunglimpfung des Göttlichen in unserer Natur." Und: "Mir wurde klar, welchen Skandal ich um mich herum verursachte."

Marguerite fängt mit dem Trinken gleich nach dem Aufwachen an, macht eine Pause, um die ersten beiden Gläser zu erbrechen, und trinkt dann bis zu acht Liter Bordeaux. Danach Cognac in der Nacht, morgens Cognac nach dem Kaffee, und danach schreibt sie: "Wenn ich zurückblicke, ist es erstaunlich, wie ich es geschafft habe zu schreiben." 1987 wird sie in "Practicalities" über ihre - schockierenden -Erfahrungen mit ihrem Alkoholismus, speziell als Frau, Rechenschaft ablegen

Nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus nimmt sie Kontakt auf mit einem jungen Verehrer namens Yann Lemée, den sie fünf Jahre zuvor in Caen kennengelernt hat und mit dem sie Briefe gewechselt hat. Sie schreibt ihm und schickt ihm "L’Homme assis dans le couloir". Er reagiert zunächst nicht, weil ihm die Erzählung nicht gefällt. Sie schickt ihm dennoch weitere Neuveröffentlichungen, darunter "Les Petits Chevaux de Tarquinia".

Nach sechs Monaten Abstinenz nach ihrem Klinikaufenthalt verfällt sie erneut dem Alkohol. Eines Abends ruft Yann Lemée sie an. Sie  lädt ihn zu sich in Trouville-sur-Mer auf ein Glas ein. Der 27jährige homosexuelle Philosophiestudent weicht ab da nicht mehr von der Seite der 38 Jahre Älteren. Er scheint zu akzeptieren, dass sie die Favoritin sein will, "La seule. A tous. A tout le monde."

Mit Yann Andréa
( ohne Jahr )

Marguerite gibt ihm den Namen Yann Andréa. In ihrem Leben setzt eine neue Phase ein. In den folgenden gemeinsamen sechzehn Jahren entstehen neben Welterfolgen wie "L'Amant"oder "Emily L." auch Dokumente tiefster Seelenintrospektion. Eine exzentrische Beziehung, die immer auch - trotz beider Veröffentlichungen dazu - ein Rätsel bleiben wird. Es ist ihre Passion im wahrsten Sinne des Wortes, denn Yann lebt seine homosexuellen Neigungen aus. Aber reden und trinken tun sie gemeinsam. Nach ihrem Diktat, weil der Tremor ihr eigenes Schreiben unmöglich macht, hält Yann "La Maladie de la mort" ( 1985 unter Peter Handke verfilmt ) schriftlich fest.

Im Oktober 1982 stimmt sie einer Entgiftung im Hôpital américain in Neuilly zu. Nach dreiwöchigem Entzug verlässt sie es erschöpft. Halluzinationen werden sie von nun an ständig begleiten. Von Oktober 1988 an verbringt sie dann, auf Leben und Tod erkrankt und wieder im Koma, neun Monate im Pariser Hôpital Laennec. Ein Lungenemphysem macht sie für den Rest ihres Lebens abhängig von einer Sauerstoff-Flasche in Reichweite. 

1992 gelingt ihr eine wundervolle Hommage an ihren Gefährten im Alter. "Yann Andréa Steiner". Der beschützt und verteidigt sie. Kritikern, die sich nicht wohlwollend über sie äußern, wirft er vor, dass sie nichts von der Größe der Duras verstanden hätten. Der gemeinsame Alltag hingegen ist eher erdrückend, oft unerträglich, anstrengend, denn sie entscheidet alles, ist sehr geizig und verdächtigt ihn immer wieder, es nur auf ihr Geld abgesehen zu haben. Und er weiß: Es gibt keine wirkliche Intimität mit dieser Schriftstellerin. Sie wird aus allem ein Buch machen. "Écrire" heißt dann auch eine Veröffentlichung von 1993.

Ihr allerletzter Text trägt den Titel "C’est tout" ( dt.: "Das ist alles"), 1995 publiziert. Darin beschreibt Marguerite das Leben der letzten Jahre zwischen ihrer Pariser Wohnung und dem Haus in der Normandie, ihre Schreibblockaden, ihre Alkoholexzesse, ihre Klinikaufenthalte, auch ihre Liebesbeziehung zu Yann, der sie in ihren letzten Jahren auch pflegt.

Einen Monat vor ihrem 82. Geburtstag stirbt Marguerite Duras an einem Sonntagmorgen gegen acht Uhr, dem 3. März 1996, in ihrer Wohnung in der Rue Saint-Benoît. Ihrem Wunsch gemäß bestattet man sie vier Tage später neben ihrem Bruder Pierre auf dem cimetière Montparnasse.

Auf einem losen Zettel hat die Duras festgehalten: "Ich sage nichts. (...) Vom Wesentlichen nichts. Es ist da, unbenannt, unversehrt."

In ihrem Testament hat die Schriftstellerin Yann Andréa die Rolle des "literarischen Testamentsvollstreckers" zugedacht, während ihr Sohn die Eigentumsrechte erben soll. Da der Begriff des literarischen Testamentsvollstreckers im französischen Recht nicht existiert, hat das Gericht entschieden, dass sie Yann Andréa die Urheberpersönlichkeitsrechte an ihrem Werk anvertraut hat.  

Mit der Unterstützung seines Verlegers verfasst dieser 1999 "Cet amour-là", in dem er selbst Zeugnis ablegt von seinen Lebensjahren an der Seite der berühmten Autorin. 2001 wird es von Josée Dayan mit Jeanne Moreau in der Rolle der Marguerite Duras verfilmt. Nach einem zweiten, erfolglosen Buch über das gemeinsame Leben zieht er sich aus der Öffentlichkeit zurück und gerät erst wieder ins Rampenlicht, als er 2014 tot in seiner Wohnung aufgefunden wird. Er findet seine letzte Ruhe im Grab von Marguerite.

Bleiben ihre 54 Bücher, ihre 25 Filme, die zahlreichen Bühnenstücke, über die Björn Hayer 2014 in der "Neuen Züricher Zeitung"  urteilt:
"Überhaupt sind es die Widersprüche, Spannungen und Obsessionen, die Marguerite Duras' Werk durchziehen, Blickkonstellationen, die in Bann ziehen und zugleich ins Verderben stürzen. Diese Meisterin subtiler Regungen weiss es, den Leser für das Verwegene zu gewinnen."

Wenn sich da nicht Lesestoff anbietet...

6 Kommentare:

  1. Manchmal fängt man schon früh an, den Kopf zu dvhützel (sozusagen) ob des "komplizierten" Lebens. Bei M. Duras wundert es einen eigentlich, dass sie so schöpferisch sein konnte und auch ein hohes Alter erreicht hat.
    Meins sind sind ihre Bücher nicht, aber wie immer ist das Geschmackssache
    Danke Dir und sende liebe Grüße
    Nina

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  2. in einem so furchtbaren Leben so alt zu werden empfinde ich fast wie einen Fluch - eine in sich zerstrittene Persönlichkeit voller innerer Widersprüche ohne Frieden zu finden. Irgendwie liest sich ihre GESCHICHTE fast wie ein Horrorroman - sie ist sehr durch den Alkoholismus gezeichnet - von Liebe in ihrem Leben kaum gestreift worden, welch ein einsames unruhiges Leben...
    was nützt einem die Berühmtheit die sie erlangt hat..?....
    dennoch hatte sie die Kraft das Leben so lange durchzustehen...
    ...die Biographie lässt mich nachdenklich zurück...

    herzlich angel

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  3. Ein kompliziertes Leben von Anfang an, das die Duras sehr folgerichtig durchgezogen hat. Ein sehr spannendes Portrait, denn bislang wusste ich noch nicht viel von dieser Autorin.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. puuuh ..
    was für ein Leben
    da wird einem ja schwindelig
    äußere Gewalt (von der Familie) eigene gegen sich selbst (Alkohol )
    zerstörerisch und trotzdem schaffensreich
    wie angel schreibt.. fast ein Fluch dann so alt zu werden
    danke für das Portrait
    auch wenn sie mir unbekannt ist
    Rosi

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  5. merci pour cette biographie très précise de Marguerite Duras * coïncidence ? au lycée nous devions lire moderato cantabile et c'est ainsi qu'elle a fait irruption dans ma vie et plus tard j'étais plusieurs fois à Duras et aussi à Hô Chi Minh-Ville (anciennement Saïgon) où j'ai pu ressentir un certain air de sa personnalité littéraire
    mo
    merlecolibri

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  6. Hm, ich hatte bisher nicht viel von ihr gelesen. Der Alkoholmissbrauch war ja exorbitant. Ein tolles Portrait, das wie immer hinter die Fassaden blicken lässt. Bedankt bedankt!

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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