Donnerstag, 20. März 2025

Great Women #411: Helen Wolff

Und schon wieder eine "Schattenfrau", die sich nach eigener Aussage aber nicht als solche gefühlt hat! Das wollte ich genauer wissen, und so ist das Porträt von Helen Wolff für meinen Blog entstanden. Anstoß gab ein Buch, in dem die von mir so geliebte Landschaft im Süden Frankreichs eine Rolle spielt.
 "I never saw myself in his shadow, 
I always saw myself in his light."

Helen Wolff erblickt am 27. Juli 1906 in Üsküb ( heute Skopje in Mazedonien ), damals noch zum Osmanischen Reich gehörend, als Helene Mosel das Licht der Welt. Ihre Mutter ist Josefa Fischhof, Tochter einer Ungarin und eines Österreichers, aufgewachsen in Wien. Der Vater hingegen, Ludwig Mosel, ein Ingenieur bei der Firma Siemens, stammt aus dem Rheinland. Siemens hat ihn ins Land geschickt, um dort die Elektrifizierung voranzubringen. Die Mutter arbeitet gelegentlich als Korrespondentin für deutsche Zeitungen. Im Gegensatz zu ihrem als gewalttätig beschriebenen Mann wird sie als schwach beschrieben, aber von einer "gottgleichen Autorität über die Kinder."

Üsküb  (1900)
Helen hat noch drei Geschwister, einen Bruder, Georg, und zwei Schwestern, Ena und Liesel. "Zuhause lernten wir Deutsch, aber ich sprach auch Türkisch und Serbisch", erzählt sie später einmal in einem Interview.  

Mutter Josefa hat zwar nur eine einfache Schulbildung erhalten, liebt es aber zu lernen und gibt diese Einstellung an ihre Kinder weiter. Sie sorgt auch dafür, dass die eine qualifiziertere Ausbildung bekommen, aber auch lernen, tolerant gegenüber anderen Menschen, Bräuchen und Religionen zu sein. So liest sie ihnen aus dem Koran vor, obwohl sie der katholischen Kirche angehören. 

Das Mädchen mit der leichten Gehbehinderung scheint eher ein tomboy gewesen zu sein, ganz im Kontrast zu ihrer Schwester, ganz im Kontrast zu ihrem Äußeren mit Pausbäckchen & Engelslocken. Es manipuliert seine Umwelt und die Mutter:
Es "tankt sich mit Kraft auf, weil es später selbst Schlachten schlagen will. Es weiß, dass der Schonraum, den die Mutter [... ]errichtet hat, brüchig ist, gefährdet durch die gewaltigen Unruhen auf dem Balkan und den heraufziehenden Krieg, aber vor allem durch den deutschen Vater und sein wüstes Gelächter. Die sich hier schon im Kind zeigende Illusionslosigkeit [... ] kann die herrschenden Geschlechterverhältnisse subversiv für sich nutzen."  ( Marion Detjen hier )
Als 1912 der 1. Balkankrieg ausbricht, geht die Mutter mit den Kindern zunächst nach Wien, dann Berlin, der Vater hingegen wird im Rahmen des deutschen Konsulardienstes in die Türkei geschickt. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges lässt er die Familie im Stich, hat er doch in Konstantinopel einen Zusammenbruch in jeder Hinsicht erfahren, von dem er sich nicht mehr erholt. Zurück in Berlin lebt er mit einer anderen Frau, probiert allerdings mit seinen Briefen, von seiner ehemaligen Frau Geld zu erpressen.

Die Mutter versucht, für ihre Kinder in Deutschland trotz widrigster Umstände ihre Träume von einer besseren Schulbildung zu verwirklichen. Helen kann zwar kein Abitur machen, ab 1920 im Landschulheim Schondorf am Ammersee aber als erstes Mädchen und Externe lernen. Sie ist hoch-, besonders sprachbegabt, und eine leidenschaftliche Leserin: Es wird erzählt, dass Helen während der Hungerjahre nach dem Krieg in Oberammergau in der Wohnung eine von einem US-amerikanischen Ehepaar zurückgelassene Bibliothek vorgefunden hat, die ihr der Zugang zur englischsprachigen Literatur ermöglicht. In dieser Zeit, so sie selber, entwickelt sich der Wunsch, in einem Verlag zu arbeiten.

In dieser Schondorfer Institution, bevorzugt vom Großbürgertum südlich der Mainlinie, können Helen und ihre Geschwister soziale Kontakte knüpfen, die ihnen in Zukunft einen Aufstieg ermöglichen werden. Die Achtzehnjährige z.B. kann zunächst einmal als Kindermädchen in einer Frankfurter Industriellenfamilie ihren Lebensunterhalt verdienen, während die - immer kränkliche - Mutter mit den Geschwistern in München mehr recht als schlecht von ihren Einkünften als Verkäuferin lebt. Helen versucht zum Unterhalt beizutragen, indem sie Zeitungen ihre Texte anbietet. In dieser Zeit verlobt sie sich auch mit dem Musikstudenten Alfred von Beckerath, später Dirigent & Komponist.

Eine ihrer Freundinnen aus dem Schondorfer Netzwerk vermittelt ihr 1928 einen Praktikumsplatz beim Kurt Wolff Verlag am Königsplatz in München. Die Chance bekommt Helen vor allem wegen ihrer sprachlichen Fähigkeiten, denn sie soll Übersetzungen anfertigen. Sie arbeitet sich allerdings in allen Sparten des Verlages ein.

Kurt Wolff
Dieser hat zu diesem Zeitpunkt seine besten Zeiten in Deutschland hinter sich: Die lag in den 1910er Jahren, als die jungen, expressionistischen Autoren von ihm herausgebracht worden sind wie Franz Kafka, Georg Trakl, Franz Werfel, Walter Hasenclever sowie Heinrich Mann, dessen Buch "Der Untertan" allein binnen sechs Wochen eine Auflage von 100 000 Exemplaren erzielt hat. 

1928 hat der Verlag nur noch zehn Bücher im Programm, darunter Kunst- & Feinschmeckerbücher und einen einzigen Roman ( von Joseph Roth ). Schon 1924 hat der Verleger den ersten internationalen Kunstverlag Pantheon in Florenz gegründet, dessen Ausgaben der Casa Editrice die gesamte künstlerische Bandbreite von der Plastik bis zur islamischen Buchkunst umfassen sowie kunstwissenschaftliche Arbeiten. Die äußerst anspruchsvoll gestalten Bücher sollen vor allem ein wohlhabendes europäisches & amerikanisches Publikum ansprechen.
 
Der knapp vierzigjährige Kurt Wolff, ein Bonvivant & womenizer, hat sich zu diesem Zeitpunkt nach der gescheiterten Revolution von 1919 innerlich von Deutschland distanziert und widmet sich mit seiner Ehefrau aus der sehr reichen Pharmaunternehmer - Familie Merck hauptsächlich dem Leben in der Münchner High Society. Die tägliche Verlagsarbeit wird von ihm treu ergebenen Frauen gemanagt. In einem Text von Anfang der 1930er Jahre lässt Helen ihre Verachtung für die im Hause Wolff gepflegte Lebensform erkennen, sieht sie doch in deren Reichtum den Grund für den Mangel an "inneren Entwicklungsmöglichkeiten" - für Helen eine geistige & spirituelle Sackgasse, so Marion Detjen.

Die junge Frau erlebt in dieser Zeit hautnah den Aufstieg Adolf Hitlers und der nationalsozialistischen Partei in München mit. Neugierig, weil sie sich von dem hochgepriesenen "Volksredner" Hitler ein Bild machen will, besucht sie 1928 auch einen seiner Auftritte in einem Bräuhaus und ist erstaunt über Hitlers sprachliche & thematische Beschränktheit, seine Vulgarität und die ständige Wiederholung der immer gleichen dürftigen verbalen Versatzstücke, so dass sie sich vor lauter Langeweile einem mitgenommenen Buch widmet, weil man erst am Ende der Veranstaltung aus dem Saal gelassen wird. Leider nimmt sie wie viele Mitbürger damals den menschenverachtenden Demagogen nicht ernst. Im nachhinein meint sie, Hitler habe einen "Instinkt für das Morsche" gehabt.

1930/31
Als der Pantheon - Verlag infolge der Weltwirtschaftskrise finanziell immer mehr ins Schlingern gerät, wird er dem Miteigner der Pantheon Casa Editrice, John Holroyd Reece, ein angeblich englischer Kunstbuchhändler & Verleger in Paris ( in Wahrheit ein Deutscher eher zwielichtigen Charakters ) überlassen, und die junge Helen wird quasi mitverkauft. 

Als sie für Reece arbeitet, entwickelt sich die persönliche Beziehung zu Kurt Wolff, der immer wieder in Paris nach dem Rechten schaut ( und mit Hilfe von Helen und einem Privatdetektiv herausbekommt, dass er einem Hochstapler aufgesessen ist ). Die Ehe der Wolffs ist damals schon im Begriff, geschieden zu werden, Helens Verlobung mit "Alfi, dem Guten", der ihre Familie trotz eigener Mittellosigkeit immer wieder unterstützt hat, hingegen besteht noch.

Sie erhält damals ihren ersten großen Übersetzungsauftrag ins Französische, eine kunsthistorische Schrift, basierend auf einem mangelhaften Manuskript. Sie arbeitet "wie besessen [... ]ohne Rücksicht auf Schlaf, Ernährung und Gesundheit und unter Einbeziehung ihrer Angehörigen, die Vokabellisten erstellten und beim Tippen halfen..." Dafür bekommt sie hundert Mark extra und ihr Gehalt wird auf 200 Mark heraufgesetzt.

1929 plant Helen zusammen mit Kurt Wolff eine sechs Wochen lange Reise an die Côte d'Azur, die sie vor ihrer Familie nicht mehr als Geschäftsreise maskieren kann. Am 13. September brechen sie mit dem Wagen des Verlegers auf, zunächst nach Nizza, dann Menton, bleiben dort bis zum 26. Oktober, bis sie die Heimreise über all die in meinen Ohren wohlklingenden & optisch präsenten Städte wie Cannes, Antibes, Avignon, Orange, Lyon und schließlich Paris antreten. Von dort geht es zurück nach München. Helen hält im Rückblick ein Jahr später diese Zeit "für eine flüchtige Laune einer günstigen Minute unter günstigem Himmelsstück". Das schreibt sie zumindest an ihren Bruder. 

Während das Paar in Frankreich urlaubt, erleidet der deutsche Außenminister Gustav Stresemann einen tödlichen Herzinfarkt. Die deutsch-französische Verständigung ist damit unterbrochen. Und als Aristide Briand, sein französischer Kollege, 1932 aus seinem Amt ausscheidet, ist die europäische Verständigungspolitik endgültig gescheitert, auf die der Verleger Wolff gesetzt hat. Er stellt die Neuproduktion von Büchern völlig ein. Helens berufliche Perspektive ist düster.

Sie hat ihre Verlobung aufgelöst, muss die Mutter & die ältere Schwester finanziell unterstützen, denn die können von den Einkünften des Bruders als Lehrling bei IG Farben nicht leben. Sie nimmt gelegentliche Geldgeschenke von Kurt Wolff an, um ihrer Familie zu helfen, die Liebesbeziehung muss sie aber geheim halten. Nur eine seiner ehemaligen Geliebten, Mutter seines unehelichen Sohnes, wird von ihm eingeweiht, mit der Helen sich gut versteht. Letztendlich hat sie nur eine Möglichkeit der Weiterbeschäftigung, indem sie in Paris endgültig für Reece und seine Pegasus Press arbeitet. Die Beziehung zu dem fast zwanzig Jahre älteren Kurt Wolff ist für sie "noch ziemlich viel zweifelhaft, problematisch u. vor allem in Bezug auf Echtheit u. Dauer ungewiß".

Ab 9. April 1930 arbeitet Helen dann direkt in Paris für Pegasus. Ihr Geliebter verabschiedet sich von seiner Existenz als Verleger und versucht, sich aus seinen widersprüchlichen, persönlichen Bindungen & Verwicklungen zu lösen und sich von München abzusetzen. Damit das gelingt, kommt Helen kurzfristig in die bayrische Metropole zurück bzw. besucht Wolff in einem Sanatorium an der Havel: "er ist doch nun an dem Punkt angelangt, wo andere Leute Nervenzusammenbrüche haben." So nagt an ihm, dass er nun nicht mehr zur "Sphäre der Einflußreichen, Berühmten und Besonderen" gehört. 

Helen liegend rechts
Eine pikante Situation entsteht: Helen fühlt sich dem Geliebten gegenüber loyal verbunden, der sich mit Reece verkracht hat, von dem sie wiederum als ihrem Arbeitgeber materiell abhängig ist. Schließlich kann sie beim Völkerbund, genauer dem "Institut International de Coopération Intellectuelle", eine Beschäftigung finden, die sie etwas stupide findet, ihr Selbstvertrauen aber fördert, macht sie sich doch unabhängig vom Einfluss ihres Geliebten. Mit dem verbringt sie allerdings wieder zwei Monate im Frühjahr 1931 in Südfrankreich. Danach trifft sie eine Entscheidung:
"Daß sie Arbeit haben konnte und nicht wollte, während Kurt Wolff Arbeit wollte und nicht hatte, half einmal mehr, die Asymmetrie und Ungleichheit in ihrer Beziehung abzubauen", so ihre Großnichte.

Die Auszeit nutzt sie, um zu erproben, ob sie ihren Traum von der Schriftstellerei umsetzen kann und schreibt ein Theaterstück. Das tut ihr gut; weniger gut die Tatsache, dass Wolff eine neue Geliebte hat, die 35jährige, verheiratete Manon von Neven Dumont. 

Er schlägt Helen eine ménage à ­trois vor, nicht die erste in ihrer Beziehung. Die junge Frau versucht es, hält es aber nicht lange aus und zieht in das cabanon, das sich in "Hintergrund für Liebe" wiederfinden wird. 

"Manon gehört zu den Frauen, die man heiratet, u. Kurt zu den Männern, die man nicht heiratet – das hält die Manon auf die Dauer nicht aus," stellt sie in einem Brief ihrem Bruder gegenüber fest. Ab September 1931 gilt Helene Mosel dann auch offiziell als Partnerin des Verlegers. 

Ein Jahr später verarbeitet sie die Konstellation literarisch, erst einmal in einem Bühnenstück, dann in der erwähnten Erzählung. Später wird Manon, in Garmisch-Partenkirchen lebend, sogar Helens darbender Familie helfend unter die Arme greifen wie auch andere Menschen aus dem Wolffschen Dunstkreis.

Während er versucht, sein noch verbliebenes Vermögen zu retten, übernimmt Helen es, in Saint-Tropez den gemeinsamen Haushalt zu konsolidieren. Nach Deutschland will man wegen der politischen Entwicklung nicht mehr zurück; ein Zwischenspiel im faschistischen Italien wird Ende 1931 wieder abgebrochen und in Cagnes-sur-Mer eine neue Bleibe bezogen, in der sie eine Ferienpension aufziehen. Ihrem Gefährten fehlt allerdings das "eigentliche Lebenselement". Auch bleibt er isoliert von seinen früheren Autoren und der Literatur- & Künstlerszene, die sich nach und nach im zwei Stunden mit dem Auto entfernten Sanary-sur-Mer angesichts der sich entwickelnden Verhältnisse in Deutschland sammelt. Dem Bruder, der sich immer mehr dem Nationalsozialismus zuwendet, schreibt sie:
"Hier lebe ich in einem Land, dessen Bewohner zum größten Teil - wie es sich auch in den Wahlen manifestiert - für Mäßigung sind. Dort lebst du in einem Land, das sich leidenschaftlich patriotischer Hetze in die Arme wirft. Es hat keinen Sinn, über diese Dinge zu schreiben, ich habe nur die Hoffnung, daß du [... ] nicht nach dem ersten Besten greifst."

Auch Helen wie ihr Geliebter nehmen den wachsenden Einfluss der Nazis auf ihre Zukunftschancen als Schriftstellerin bzw. Verleger wahr. Noch reisen sie nach Berlin und Helen verbringt Weihnachten 1932 bei ihrer Familie in München. Wolff hegt einige Hoffnungen aufgrund von Abmachungen mit dem Auswärtigen Amt, Helen bekommt einen Übersetzungsauftrag von Reece. Dann kommt der 30. Januar 1933. Die Hoffnungen sind dahin:

"Kulturpropaganda ist ja auch eine Lächerlichkeit geworden zu einem Zeitpunkt, wo Regierungsmitgliedern der blutige Schaum vor dem Munde steht, sobald sie denselben auftun," schreibt sie an den Bruder.

Im März 1933 verlassen sie Deutschland, reisen über Paris nach London, wo sie am 27. März heiraten. Geplant ist, sich im Tessin in der Nähe Hermann Hesses niederzulassen. Doch die ungastliche Schweizer Atmosphäre treibt sie wieder zurück an die französische Riviera. Helen wird nur noch einmal ihre Familie in Deutschland aufsuchen. Ausgebürgert werden sie nicht - sie sind sozusagen Gesinnungsemigranten. Ihren Sohn Christian, der am 8. März 1934 in Nizza zur Welt kommt, lassen sie aber als Franzosen eintragen. Im Jahr darauf ziehen sie nach Italien, wo sie eine Pension, vorrangig für jüdische Gäste, in Florenz betreiben. Die Achse Berlin–Rom macht jedoch der Idylle ein Ende, denn nun wird auch dort den deutschen Juden das Leben schwer gemacht und den Wolffs die ökonomische Grundlage entzogen. Sie kehren zunächst nach Nizza, ab 1939 nach Paris zurück. Dort verfassen sie u.a.  Propaganda, z. B. Helen Flugblätter an deutsche Mütter.

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen bzw. der Niederlage Frankreichs, sind beide ohne voneinander zu wissen interniert. Wolff kommt ins Lager Chambaran im französischen Département Isère, Helen nach Gurs ( siehe auch dieser und dieser Post ) in den Pyrenäen. Beiden gelingt es zu fliehen und sich nach Nizza durchzuschlagen, wo es ihnen glückt, sich auf die Liste des "Emergency Rescue Comittee" des Amerikaners Varian Fry setzen zu lassen ( siehe auch dieser und dieser Post ).   

Im Februar 1941 haben sie alle erforderlichen Papiere zusammen und machen sich mit dem an Keuchhusten erkrankten 7jährigen Sohn auf den Weg durch Spanien und Portugal. In Lissabon müssen sie sich das Geld für die Schiffsreise von Schweizer Freunden zusammenbetteln. Am Tag des Frühlingsanfanges 1941 läuft das Schiff in New York ein. Geld haben sie, um ein Jahr lang bescheiden leben zu können.  

Familie Wolff in New York
Den Flüchtlingen zu ermöglichen "to make a living" - diese Haltung der Amerikaner  macht es den Immigranten leicht, auch wenn die Wolfs ihren Schritt zunächst als "Tritt des Himmels" empfinden. Innerhalb eines Jahres nach ihrer Ankunft in New York gründet das Ehepaar, inzwischen 35 & 55 Jahre alt, Pantheon Books, mit einem Kapital von 16.000 Dollar von Freunden, zunächst von ihrer Einzimmerwohnung am Washington Square aus. Sie starten mit Neuausgaben von Dante, Goethe und anderen gemeinfreien Schriftstellern, bauen jedoch bald schon ein Repertoire an zeitgenössischen Autoren wie Hermann Broch, Robert Musil und Mary Renault auf. Der Durchbruch erfolgt 1944 mit einer Neuauflage von Grimms Märchen, was mit einer großen Besprechung in der "New York Times" ermöglicht worden ist.

Die Verlagsphilosophie ist einfach: klein bleiben und groß denken, in Autoren statt in einzelne Bücher investieren, die Rentabilität langfristig im Blick behalten und so viele Details wie möglich – von Verträgen über Klappentexte bis hin zu Pressemitteilungen – persönlich behandeln. Kurt Wolff verfügt nicht über englische Sprachkenntnisse, aber über einen ausgezeichneten Spürsinn für verlegerischen Erfolg.

Unter dem Schutz der Siegermacht kann Helen mit ihrem amerikanischen Pass zum Zeitpunkt der Währungsreform 1948 das erste Mal nach Deutschland zurückkehren. Kurt Wolff besucht gleich die erste Frankfurter Buchmesse, noch in der Paulskirche, im Jahr darauf und kann dort die Kontakte zu deutschen Verlegerkollegen knüpfen, die ihn u.a. auf Günther Grass aufmerksam machen werden.

In den fünfziger und frühen sechziger Jahren stellen sich die größten Erfolge des Verlages ein: Anne Morrow Lindberghs "Gift from the Sea" ( dt. "Geschenk vom Meer", 1955) und vor allem Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" (1958) und Giuseppe di Lampedusas "Der Leopard" (1960) seien hier stellvertretend erwähnt. 

Da leben die Eheleute schon wieder in Europa, in Locarno, obwohl Kurt Wolff nach New York jeden anderen Ort der Welt als provinziell empfindet. Doch eine schwere Herzerkrankung seinerseits sowie Meinungsverschiedenheit mit den Investoren des Verlages begünstigen die Rückkehr in die Alte Welt. 1960 verkaufen sie ihre Anteile am Verlag, der in den Besitz von Random House übergeht. Damit wollen sie ihre Zukunft in Europa finanzieren.

Der Verleger William Jovanovich tritt allerdings an sie heran mit einem Angebot, und so initiieren sie das Imprint "A Helen and Kurt Wolff Books" im Rahmen des Verlages Harcourt Brace Jovanovich, von Locarno aus betrieben. Im Rahmen dieses Unternehmens bringen sie zeitgenössische europäische Literatur den Amerikanern nahe, darunter die von Günter Grass, Uwe Johnson, Max Frisch und Jurek Becker. Sie verlegen unter anderem auch Julien Green, Georges Simenon, Italo Calvino, Umberto Eco, György Konrád und Stanislaw Lem. "A Helen and Kurt Wolff Book" gilt in den USA bald als eine Art "Gütesiegel" für europäische Literatur. 

Christian, Helen Wolff
1963, auf dem Weg zum Deutschen Literaturarchiv in Marbach, wird Kurt Wolff von einem Lastwagen erfasst und erliegt kurz darauf seinen Verletzungen. 76 Jahre ist er da, und Helen stehen noch weitere dreißig Jahre eigenes Leben bevor. Sie, die bis dato ihre ganze Tatkraft und Urteilsfähigkeit, ihr Sprachtalent und ihre Begabung für Freundschaften in den Dienst ihres Mannes gestellt hat, nutzt diese vielfältigen Talente nun für all die Autoren, die sie fördern wird.

Sie kehrt erst einmal nach New York zurück, wo ihr Sohn Christian seit seinem 16. Lebensjahr Kontakt zur New York School hat und ein namhafter Komponist und Altphilologie - Dozent am Dartmouth College in Hanover/New Hampshire ist.

Helens Vorteil bei der Auswahl von Büchern aus Europa: Sie kann die Frankfurter Buchmesse besuchen und Bücher auf Deutsch, Französisch, Italienisch oder Türkisch lesen. Und: Sie ist sich immer bewusst, dass es die Autoren sind, die die Substanz eines Verlages ausmachen. Also bringt sie sich ganz ein: 

Uwe Johnson, z. B. ermöglicht sie einen zweijährigen Aufenthalt in New York ab 1966, und er verdankt ihr wesentliche Hilfe bei der Entstehung der "Jahrestage", denn sie befasst sich dem jeweiligen Werk so intensiv wie der Schriftsteller selbst und arbeitet an allen Übersetzungen mit. Johnson wird ihr später sein Werk widmen. 

1970 macht sie die Bekanntschaft mit Max Frisch während dessen USA - Reise. Vier Jahre später bringt sie sein "Sketchbook 1966-1971" heraus. Mit Günther Grass, seit 1959 unter ihren Fittichen, führt sie über 35 Jahre einen Briefwechsel. Er feiert sie als "wunderbare Lady und hinreißende Botschafterin deutscher Literatur", vertraut ihrer Kompetenz. Sie treibt fast einen Geniekult um ihn und die übrigen Autoren. Dabei habe sie auch eine Art Mutterrolle für sie eingenommen und sich um die privaten Angelegenheiten der Schriftsteller gekümmert, so ihre Großnichte.

Mit Günther Grass
© dpa / Heinz Wieseler
Frauen gegenüber, besonders feministisch eingestellten, steht Helen hingegen mehr als kritisch gegenüber. Ihre eigene Rolle in ihrer Beziehung zu Kurt Wolff beschreibt sie, dass sie zusammen einen Zentaur gebildet hätten, jenes 
"Mischwesen zwischen Tier und Mensch und der Mann ist das animalische, triebgesteuerte Wesen, das in der Welt wirkt und und mächtig ist, und sie hat oben den Kopf drauf hat, der dieses Wesen lenkt und steuert", so Marion Detjen in einem Interview. 

Das lässt doch ein ganz emanzipiertes Selbstverständnis erkennen... 

Auch wenn ihr unternehmerischer Beitrag zum Verlagsmarkt in den Vereinigten Staaten, gemessen an wirtschaftlichen Zahlen, gering gewesen ist, erweitert und bereichert sie ihn mit Büchern, die zuvor keinen Zugang zum amerikanischen Markt gefunden hätten. Ausgezeichnet wird Helen 1977 mit dem Verlegerpreis des US-amerikanischen PEN, 1981 mit dem Inter Nationes Award for Literature and the Arts und 1985 mit der Goethe-Medaille des Goethe-Instituts. 

1986, mit 75 Jahren, zieht sie sich aus dem Verlag zurück und lebt von da an in Hanover/ New Hampshire. Sie pflegt weiterhin die Kontakte zu Autoren und dem Verleger Jovanovich. Das Arbeiten empfindet sie nach wie vor nicht als Arbeiten, weil es sie so fasziniert.

Am 28. März 1994 stirbt Helen Wolf mit 87 Jahren in ihrer Wohnung in Hanover. Ihre letzte Ruhestätte findet sie im Grab ihres Mannes in Marbach. 
"Welch eine Verlegerin! Wo hat es das jemals gegeben: So viel episch andauernde Liebe zu Autoren, so viel Nachsicht mit chronisch egozentrischen Urhebern, so viel verläßliche Kritik, die nichts besser, aber manches genauer wissen wollte, so viel Gastlichkeit und wohnlich einladender Hintergrund, der den oft genug an der Bühnenrampe turnenden, sich selbst erschöpfenden Schriftstellern Zuflucht und mehr als einen Drink geboten hat." Günther Grass in seinem Nachruf ( Quelle hier )
Im Nachruf der "Zeit" liest man damals: "Im Alter von 88 Jahren ist in Amerika eine Frau gestorben, die außer Briefen und ermunternden Notizen keine Zeile Poesie oder Prosa geschrieben hat." Welch ein Irrtum! 2007 entdeckt ihre Großnichte den Umschlag mit den frühen Manuskripten. "At my death, burn or throw away unread!", steht darauf. Warum diese Haltung gegenüber der eigenen schriftstellerischen Kreativität? Marion Detjen hat eine Erklärung:
"Es gehörte zum 'Credo' Helen und Kurt Wolffs, dass die Hingabe an die Autoren und deren Bücher, die der Verlegerberuf verlangt, eine eigene schöpferische Tätigkeit verbiete."

Mir hat die wunderbar leichte Sommererzählung im tristen & beunruhigenden Januar 2025 einen ganz besonderen Lesegenuss beschert, da mit vielen Assoziationen & Erinnerungen gespickt,.

                                                                


Auch heute wieder die Sammlung der von mir bereits porträtierten Frauen,
die in dieser Kalenderwoche einen Gedenktag hatten:

4 Kommentare:

  1. Wieder mal so eine weitgereiste Frau mit vielen Wohnsitzen und für mich unfassbar viel Energie... Die muss sie gehabt haben, um allein so oft den Wohnort und Kontinent zu wechseln.
    Dass sie ein Segen für die Autoren (Autorinnen habe ich weniger gesehen...) war, glaube ich sofort. Sie selbst zurücknehmen und andere fördern, das ist ein Geschenk für die anderen. Aber vielleicht ihre Berufung?
    Ihr emanzipatorisches Verständnis habe ich nicht so ganz verstanden, aber die Zeitläufte waren auch andere...
    Ein wunderbares Portrait, liebe Astrid und noch dazu mit einem Roman für Dich persönlich, wie schön!
    Herzlichst,
    Sieglinde

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  2. Liebe Astrid, durch deine Reihe „Great Woman“ habe ich schon so viele tolle Frauen entdecken dürfen. Du bringst sie einem immer toll recherchiert, aber kompakt nahe. Ich lese immer gern, gebe aber viel zu selten bis nie ein Feedback. Darum hier mal ein dickes Lob und Dankeschön.
    ♥️liche Grüße, Monika

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  3. liebe astrid, danke für deine umfangreiche recherche. ich kannte helen wolff nur durch ihren kurzen roman "hintergrund für liebe", den ich voriges jahr las. was für ein aufregendes leben in einer atemberaubenden zeit. und wie sehr gestaltet das zeitgeschehen oft die lebenswege. dir ein angenehmes wochenende, herzlichen gruß, roswitha

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  4. Ein sehr bewegtes literarisches und verlegerisches Leben, das mit einer Menge von Wendungen aufgewartet hat. Deine Portraits sind immer wieder eine Bereicherung!
    Liebe Grüße
    Andrea

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- oder sonstigem Blog -Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

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