Donnerstag, 10. März 2022

Great Women #292: Nancy Cunard

Als 1998 Andrea Weiss Buch "Paris ist eine Frau. Die Frauen von der Left Bank" heraus kam, musste ich das als Parisliebhaberin unbedingt haben. Die heutige "Great Women" hatte auch ihren Platz darin und anschließend in meinem Kopf. Heute lasse ich mal all mein Wissen raus, denn heute wäre ihr 126. Geburtstag: Nancy Cunard.

"Mehr als alle anderen müssen 
Autoren und Intellektuelle Partei ergreifen. 
Ihr Platz ist bei den Menschen, 
die gegen den Faschismus sind, ihre Pflicht, 
gegen den derzeitigen Verfall der Demokratien zu protestieren."

Lady Nancy Clare Cunard  erblickt also am 10. März 1896 im aus dem 13. Jahrhundert stammenden Schloss der Cunards "Nevill Holt" in Leicestershire, England das Licht der Welt. Ihr Vater Sir Bache Cunard ist der Enkel des Gründers der Cunard-Schifffahrtslinie, Samuel Cunard. Die Familie stammt ursprünglich aus Deutschland, Samuel Cunard ist aber in Halifax, Nova Scotia, Kanada, geboren und 1859 von Queen Victoria zum Baronet erhoben worden.

Samuels Bruder Edward hat 1876 "Nevill Holt" gekauft und nach seinem Tod Nancys Vater vererbt. Als der sich 1886 in einer angespannten finanziellen Situation befunden hat, hat er das Anwesen verpfändet, kann sich durch seine Heirat mit Maud Burke, Tochter aus sehr wohlhabenden Hause, aber wieder konsolidieren und das Schloss auslösen. 

Nevill Holt
Source

Nancys Mutter Maud Alice Burke - später nennt sie sich Lady Emerald - stammt also aus einer vermögenden kalifornischen Familie mit teils amerikanisch-irischem, teils französischen Hintergrund. Sie  erreicht durch ihre Heirat 1895 mit dem um über zwanzig Jahre älteren Baronet den von hier heiß ersehnten Aufstieg in die englische Aristokratie. Allerdings hat sie schon vorher gehofft, diesen Schritt durch eine Eheschließung mit Prinz André Poniatowski, dem Enkel des letzten Königs von Polen, zu schaffen. Aber der hat sie sitzen gelassen. 

Die Eheleute haben wenig gemeinsam. Sir Bache Cunard zieht es vor, seine Zeit in seinem Landhaus als begeisterter Jäger, Golfer und Hersteller von Objekten aus Gold, Silber und Schmiedeeisen zu verbringen. Seine Frau möchte lieber ihren Traum umsetzen, sich als Gastgeberin mit Geschmack für Kunst & Künstler, insbesondere für Musiker, einen Namen zu machen. 

Die ein Jahr nach der Heirat geborene Nancy bleibt also nach der Geburt Kinderschwestern, Gouvernanten und einem Stab von vierzig Bediensteten überlassen. Ihre Eltern sieht das kleine Mädchen wenig, und wenn, dann wird sie ihnen in Kleidern, die sie hasst, präsentiert ( vergleiche auch dieser Post zu Umgang mit Kindern in der englischen Oberschicht ). Kinder zum Spielen findet sie nur in ihren Cousins Edward und Gordon, die auch ihre Freunde fürs Leben bleiben werden. Ihre wichtigste erwachsene Bezugsperson, ihre erste Gouvernante, eine Französin aus Toulon, verschwindet plötzlich nach zwei Jahren und hinterlässt in dem Kind für lange Zeit Verlustängste ( die sie in ihrem Gedicht "Sublunary" später verarbeiten wird ). 

Die zweite Gouvernante, Miss Scarth, ist die ehemalige Lehrerin von Vita Sackville-West ( siehe dieser Post ), und die erwartet strengste Disziplin und bestraft jegliches Vergehen. Nancys Mutter interessiert sich nur für die exzellente Reputation der Erzieherin, sonst für gar nichts. Sie glaubt, damit das Richtige für ihre Tochter zu tun. 

In dieser Welt ohne Wärme und Erbarmen gibt es einen einzigen Erwachsenen, der Nancy zu verstehen scheint und sich für sie interessiert: George Moore. Sie erinnert sich später an ihn, dass der ihr seit ihrem 4. Lebensjahr ein Freund ist und gilt ihr als Hauptperson ihrer Kindheit. Moore hält sich viel in "Nevill Holt" auf, was kein Wunder ist, ist der irische Dichter doch ein enger Freund von Nancys Mutter ( es wird auch immer das Gerücht umgehen, er sei auch ihr richtiger Vater. Doch ist nicht klar, ob die Beziehung nicht doch rein platonisch gewesen ist ).

Von links nach rechts:
Der Vater Sir Bache, die Mutter Lady Maud, George Moore

Was Nancy fasziniert an dem so viel älteren Mann, "war sein Aussehen, seine Art zu sprechen, so anders als bei den anderen. Er hatte so einen Klang in seiner Stimme und diese Art, mit seinen Händen zu spielen. Es war alles außergewöhnlich. Ich liebte es, ihn zu sehen, ihn zu hören."

Von Moore wird ihr die Welt der Literatur eröffnet: Bereits als Vierzehnjährige stehen u. a. Corneille, Daudet, Dickens, Moliere, Schiller, Scott, Shakespeare und Shelley auf ihrer Leseliste. Ihr intellektueller Mentor wird ihre eigene, spätere Schreibkarriere inspirieren. Mit zwölf beginnt sie, ein Tagebuch zu führen.

Dennoch überwiegt die Isolation in der Kindheit und bewirkt bei Nancy unauslöschliche Wunden und Traumata und eventuell auch ihre Unfähigkeit, Liebesbeziehungen aufrechtzuerhalten. Ihr Verhältnis zu ihren Eltern ist jedenfalls sehr schwierig. Sie "wuchs [...] auf, um alles zu verachten, was ihre Eltern und ihre Klasse repräsentierten". Die wenigen Reisen mit ihren Eltern in die Hauptstädte Europas erwecken in Nancy allerdings ein lebenslanges Interesse für Kunst. 

1911 trennt sich Maud Cunard von ihrem Mann und zieht mit ihrer Tochter nach London. Die Mutter führt dort einen Salon, der durchaus mit den anderen, zu dieser Zeit gerühmten Salons konkurrieren kann und unterhält eine Beziehung mit dem Komponisten Thomas Beecham. Ihren Mann bringt die Entscheidung seiner Frau, Nevill Holt zu verlassen, erneut in finanzielle Schwierigkeiten, und die Hypothek wird 1912 zwangsvollstreckt.

1915
Nancy besucht in London Miss Woolf’s Nobelschule für Mädchen, wird auch von ihren Lehrerinnen wegen ihrer Intelligenz und Freundlichkeit gelobt & erhält Preise, ist aber vom Unterricht so gar nicht angetan. Nach wie vor besucht sie, wann sie kann, George Moore. Ab ihrem 17. Lebensjahr wird sie dann durch Schulen in Deutschland und Frankreich geschleust: So geht sie 1913 mit ihrer Gouvernante nach München, wo sie erstmals so etwas wie Freiheit erlebt. Im Jahr darauf steht Paris auf dem Plan. Die Schule der Demoiselles Ozanne empfindet sie aber als kindisch, nur die Stunden in skandinavischer und russischer Literatur interessieren sie. 

Schließlich befindet ihre Mutter, es sei angebracht, die Tochter in die Gesellschaft einzuführen und standesgemäß zu verheiraten. Am liebsten wäre Lady Maud der Prinz von Wales, den Nancy, oft seine Tanzpartnerin, aber "boring" findet.

Das junge Mädchen ist auffallend schön: Groß und schlank und blond, mit langen Beinen, weißer Haut und großen, durchscheinenden blaugrünen Augen, funkelnd wie das Meer, so werden sie immer wieder beschrieben. Frühe Fotografien von ihr als Mädchen und sogar als Braut – sie geht 1916, zum Ärger ihrer Mutter, im Alter von 20 Jahren eine kurze konventionelle Ehe mit dem australischen Offizier Sydney Fairbairn ein, die nach zwei Jahren schon wieder "aus" ist und die Nancy als die "verabscheuungswürdigste" Zeit ihres Lebens erinnern wird – zeigen ein süßes, rundes Gesicht, weiche Haarranken und hübsche, knöchellange Kleider.

Aber da sie keine klassische Schönheit wie ihre Freundin Lady Diana Manners ( "Queen of Beauty" ) ist, beginnt Nancy, ihr Aussehen bald zu dramatisieren mit schwarz umrandeten Augen und ihren eigenen High-Bohème-Stil zu kreieren mit den breiten Armreifen aus Horn und Elfenbein, die ihr Markenzeichen werden. Vor allem unter dem Einfluss ihrer Freundin Iris Tree, einer Kunststudentin, mit der sie sich eine gemeinsame Wohnung nimmt, vollzieht sich dieser Prozess. Nancy hat sich zu diesem Zeitpunkt auch der Clique der um drei Jahre älteren Lady Diana angeschlossen, die sich "Corrupt Coterie" nennt und aus englischen Aristokraten und Intellektuellen besteht, die in Zeitschriften und Zeitungen dieser Zeit weithin zitiert und profiliert werden. Sie verstehen sich als höfliche Rebellen, die sich gegen Konventionen auflehnen, nächtelang feiern, im Mondlicht nackt baden, Stücke schreiben und sie aufführen. Mit dem 1. Weltkrieg löst sich diese modische Gruppe auf, da ihre männlichen Mitglieder an die Front müssen. Auch Nancy ist der Oberflächlichkeit ihres Kreises bald überdrüssig und nimmt ein äußerst anspruchsvolles Bohème-Leben auf. 

1919 infiziert sich die junge Frau mit der Spanischen Grippe, die nach dem Krieg durch Europa fegt. Sie wird danach jahrelang unter den Auswirkungen der Influenza leiden. Im Jahr darauf muss sie sich einer Notfall-Hysterektomie und Appendektomie unterziehen mit anschließendem Wundbrand - ein Eingriff, der sie fast das Leben kostet und zur Unfruchtbarkeit führt. Das traumatische Erlebnis, so wird später spekuliert werden, habe zur Nancys lebenslangen Drogen- und Alkoholmissbrauch  geführt. Michael Arlen, mit dem sie eine Affäre hat, verarbeitet in seinem Roman "The Green Hat" schamlos diese, ihre ganz private Tragödie. (  1929 mit Greta Garbo in der Hauptrolle verfilmt. )

Wyndham Lewis:Nancy Cunard, Venice
(1922)
Einem weiterer Liebhaber, Aldous Huxley, ist sie Vorbild einmal für die Myra Viveash in "Antic Hay" ( auf deutsch "Narrenreigen"), einer Satire über die 1920er Jahre, und zum anderen für die reiche, unabhängige und sexuell freizügige Lucy Tantamount in "Point Counter Point" ( auf deutsch "Kontrapunkt des Lebens"). Mit dem Maler und Schriftsteller Wyndham Lewis verbindet sie zunächst ihr gemeinsames Interesse an zeitgenössischer Philosophie. Nancy bewundert seine Intelligenz, aber auch sein Aussehen und seine Exzentrik. Doch während ihrer Beziehung muss sie seinen manipulativen Charakter erkennen und seine Verhältnisse mit zwei ihrer besten Freundinnen. Vorher hat sie eine romantische Beziehung mit Ezra Pound gehabt ( die über fünf Jahre andauern wird ). Nach Wyndham Lewis verliebt sie sich in T.S. Eliot - eine kurze Affäre, denn der Rassismus und politische Konservatismus des Dichters stößt Nancy ab.

Nancy lebt zu dieser Zeit bereits in Paris auf der Ile St. Louis ( Rue Regrattier 2 ) und verfasst Gedichte, die von der berühmten Hogarth Press des Ehepaares Woolf veröffentlicht werden. Ihre wichtigste Bezugsperson in Paris wird die amerikanischen Journalistin & Schriftstellerin Janet Flanner, die mit ihrer Lebensgefährtin Solita Solano seit 1921 an der Seine lebt und Nancy den Zugang zu den intellektuell - lesbischen Kreisen, den "Frauen von der Left Bank", verschafft. Diese beiden Frauen werden für den Rest ihres Lebens Cunards Wahlfamilie bleiben.

Nancy beginnt, was sie immer als ihr wirkliches Leben als unabhängige Frau ansehen wird. Sie lässt ihr Haar zu einem schicken Bob schneiden, streicht es sich flach über die Stirn, klebt Kusslocken auf ihre Wangen und schafft so das Aussehen, das frau bis heute von ihr kennt und das sie zur Ikone des Jazz-Zeitalters macht. Sie inspiriert den rumänischen Bildhauer Constantin Brâncuși zu einer goldenen Skulptur, ( 2018 für 71.000.000 US-Dollar verkauft! ), Oskar Kokoschka zu einer rätselhaften Studie, Wyndham Lewis & John Banting zu Zeichnungen und Alvaro Guevara zu einem großen Porträt, das heute in Melbourne aufbewahrt wird. Darüberhinaus inspiriert Nancy die Hälfte der Dichter und Romanschreiber der Zwanziger Jahre. "Für sie war sie die Gioconda ihrer Zeit", so Harold Acton, ein britischer Autor.

Man Ray: Nancy Cunard & Tristan Tzara
(1924)
1924 verliebt sie sich in Paris in den Dadaisten Tristan Tzara. Das Paar geht in die Fotogeschichte ein, dank eines Fotos von Man Ray ( siehe auch dieser Post ) von den beiden auf dem Ball des Grafen Etienne de Beaumont. Curtis Moffat, der Ehemann ihrer Freundin Iris Tree, erwischt sie mit dem Fotoapparat neben ihrem surrealistischen Liebhaber Louis Aragon, der Tzara ersetzt und mit dem Nancy eine besonders stürmische Beziehung haben wird. Gemeinsam bereisen sie Europa, und seine Surrealistenfreunde zeihen ihn der Untreue ihnen gegenüber. Letztendlich führen Nancys Unbeständigkeit und ihre zahllosen Affären, aber vor allem auch ihre finanziellen Diskrepanzen dazu, dass sie ihn 1928 in Venedig verlässt und er einen Suizidversuch unternimmt. Freunde werden sie fürs Leben bleiben.

1925 stirbt Nancys Vater, und sie wird seine Haupterbin. Reich und unabhängig geworden, will sie jetzt, inspiriert von Leonard und Virginia Woolf, sich einen langgehegten Traum erfüllen: die Herstellung von Büchern. 

1927 kaufte sie ein Haus in La Chapelle - Réanville - "Le Puits Carré"-  in der der Normandie, wo sie ihren kleinen,  erlesenen Verlag "The Hours Press" installiert. Vorher erlernt sie das Druckerhandwerk, erwirbt eine alte Handpresse und publiziert in kleinen, zum Teil in Handarbeit hergestellten Auflagen erste Texte ihrer ehemaligen Liebhaber T.S. Eliot und Ezra Pound sowie das erste Buch Samuel Becketts ( das Gedicht "Whoroscope"). Auch ihr väterlicher Freund George Moore übergibt ihr Texte, und Louis Aragon übersetzt ein Gedicht von Lewis Carroll, "The Hunting of the Snark"

Mit Crowder
Zu dieser Zeit verliebt sie sich in Henry Crowder, einen schwarzamerikanischen Jazzmusiker, sechs Jahre älter als sie. Sie hat ihn, der aus einer Arbeiterfamilie in Georgia stammte, 1928 in Venedig kennengelernt, wo er als Pianist in einer Jazz-Band gespielt hat. Eine intime Beziehung nehmen sie allerdings erst auf, als Crowder mit seiner Band in Paris auftritt. Als Skandal wird empfunden, als sie in aller Öffentlichkeit mit ihm eine gemeinsame Reise nach London und New York macht.

Die nächsten acht Jahre wird sie dann mit ihm zusammenleben und mit ihm gemeinsam die Druckerei betreiben. 

Nancy will vor allem experimentelle Poesie unterstützen und jungen Schriftstellern einen besser bezahlten Markt bieten. Ihr ererbter Reichtum ermöglicht es ihr, finanzielle Risiken einzugehen, die andere Verleger sich nicht leisten können. "Hours Press" wird bald bekannt für seine schöne Buchgestaltung und seine hochwertige Produktion. Künstler wie Man Ray und Yves Tanguy entwerfen zum Beispiel die Einbände.

Im Januar 1930 verlegt das Paar Cunard - Crowder wieder sein Zuhause wie die Druckerei/Verlag zurück nach Paris, damit Crowder auch mit seiner Jazzband auftreten kann. Sie finden dafür ein Lokal in der Rue Guénégaud 15, in unmittelbarer Nähe ihrer Freundinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach ( siehe dieser Post ), denen die bekannten Buchhandlungen "La Maison des Amis des Livres" und "Shakespeare and Company" gehören. Unter Crowders Anleitung arbeiten sie jetzt an einer Anthologie afroamerikanischer Literatur namens "Negro", die für Cunard bald zu einer Obsession wird. 

Nancy entwickelt sich regelrecht zu einer Aktivistin in Sachen Rassenpolitik und Bürgerrechte in den USA und besucht Harlem. 1931 veröffentlicht sie die Broschüre "Black Man and White Ladyship", einen Angriff auf rassistische Einstellungen. Damit reagiert sie auch auf ihre Mutter, die sie mit den Worten zitiert: "Ist es wahr, dass meine Tochter einen Neger kennt?"  Die Mutter versucht, Crowder zwingen zu lassen, in die USA zurückzukehren, was aber aufgrund der fehlenden Rechtsgrundlage nicht kklappt. Sie lässt die beiden von einem Detektiv beschatten und droht ihrer Tochter, sie zu enterben. 

Es kommt zum endgültigen Bruch einer schon länger brüchigen Beziehung zur Mutter. Zwischen den beiden Frauen - Lady Cunard stirbt 1948 - wird es es zu keiner Versöhnung mehr kommen. Nancy nimmt nicht einmal an ihrem Begräbnis teil.

Für ihre Anthologie - ein tausend Seiten starkes Werk - sammelt sie Gedichte, Belletristik und Sachbücher hauptsächlich von afroamerikanischen Schriftstellern, darunter Langston Hughes und Zora Neale Hurston. Es soll auch das Schreiben von George Padmore und Nancys eigenen Bericht über den Fall der Scottsboro Boys ( siehe auch dieser Post ) enthalten. Die Aufmerksamkeit der Presse für dieses Projekt im Mai 1932, zwei Jahre vor seiner Veröffentlichung, führt dazu, dass Nancy anonyme Drohungen und Hassmails bekommt, die sie wiederum im Buch veröffentlicht. Das Werk, das nicht nur die Kultur von Schwarzen auf allen Kontinenten dokumentiert, sondern auch die sozialen Missverhältnisse anprangert, bleibt nach seinem Erscheinen 1934 eher erfolglos, erreicht aber später in zahlreichen Neuauflagen Kult-Status.

Nancy Cunard fängt außerdem an, für die Associated Negro Press (ANP) als Journalistin zu arbeiten.

Nach einer Reise in die Sowjetunion im Jahr 1935, bei der sie alle Illusionen verliert, tritt die reiche Erbin aber in den Kampf gegen den Faschismus ein, schreibt über Mussolinis Annexion Äthiopiens und den Spanischen Bürgerkrieg. Sie sagt zutreffend voraus, dass die "Ereignisse in Spanien ein Vorspiel zu einem weiteren Weltkrieg" seien. Ihre Geschichten über das Leid spanischer Flüchtlinge werden zur Grundlage für einen Spendenaufruf im "Manchester Guardian". Nancy selbst beteiligt sich an der Lieferung von Hilfsgütern und der Organisation von Hilfsmaßnahmen, aber ihre schlechte Gesundheit – teilweise verursacht durch Erschöpfung und die Bedingungen in den Lagern – zwingt sie, nach Paris zurückzukehren, wo sie auf der Straße weiter Spenden für die Flüchtlinge sammelt.

Heimgekehrt & angeregt von Pablo Neruda, reaktiviert sie 1937 in Réanville  ihre alte Handpresse und stellt eine Reihe von Broschüren mit Kriegslyrik her, darunter Werke von W. H. Auden, Tristan Tzara und Pablo Neruda. Später im selben Jahr verteilt sie zusammen mit Auden und Stephen Spender einen Fragebogen über den Krieg an Schriftsteller in Europa. Die Ergebnisse werden von der "Left Review" unter dem Titel  "Authors Take Sides on the Spanish War" publiziert. Der Beitrag von George Orwell, inzwischen der berühmteste von allen, wird nicht zitiert:

"Will you please stop sending me this bloody rubbish. This is the second or third time I have had it. I am not one of your fashionable pansies like Auden or Spender, I was six months in Spain, most of the time fighting, I have a bullet hole in me at present and I am not going to write blah about defending democracy or gallant little anybody... ."

Der Erlös aus den Gedichten und den Statements kommt der Not leidenden spanischen Bevölkerung zugute.

Zusammen mit Sylvia Townsend Warner und Mary Valentine Ackland wird Nancy Teil der britischen Delegation zum zweiten Kongress der "International Association of Writers for the Defense of Culture" in Madrid im Jahr 1937.

Als nach Francos Sieg 1939 schätzungsweise eine halbe  Million  Spanier die französische Grenze in der Hoffnung auf politisches Asyl überquert, werden sie in sogenannten "Flüchtlingslagern", die in Wirklichkeit Internierungslager mit unmenschlichen Bedingungen sind, untergebracht. Nancys Hilfe ist zu dieser Zeit besonders effektiv, denn sie rettet viele Republikaner, indem sie ihnen zur Flucht nach Mittelamerika verhilft,  damals ein sicherer Ort, der viele antifaschistische Schriftsteller und Künstler willkommen geheißen hat ( siehe auch dieser Post ).

Nach dem Hitler-Stalin Pakt verlässt Nancy, die fest an den Kommunismus als antifaschistisches Bollwerk geglaubt hat, Europa und reist nach Santiago de Chile zu ihrem Freund Pablo Neruda und anschließend in die Karibik, wo sie als die Herausgeberin von "Negro" herzlich aufgenommen wird. Doch sie sehnt sich zurück nach Europa und kommt schließlich - nach einem längeren Zwangsaufenthalt in Ellis Island, da sie mit ihrem britischen Pass nicht in die USA einreisen darf - im August 1941 wieder in England an. In London arbeitet sie als Übersetzerin für die französische Résistance. Die Gesundheit der inzwischen 45jährigen verschlechtert sich infolge des hektischen Arbeitstempos, das sie sich selbst auferlegt. Ihre Erschöpfung ertränkt sie im Alkohol. 

(1956)
Nach Kriegsende zurück in Frankreich findet sie ihr Haus in Réanville ausgeplündert vor, nicht nur durch die deutschen Besatzer, sondern auch durch die Dörfler, deren kollaborativer Bürgermeister den Menschen erlaubt hat, sich zu nehmen, was sie gebrauchen konnten. Sie findet ihr De-Chirico-Gemälde von elf Einschusslöchern durchbohrt, ihre beiden Gemälde von Miro und Picabia in zwei Hälften zerrissen und ihre Armreifen im Garten verstreut. Resigniert verkauft sie "Le Puits Carré" und siedelt sich schließlich in der Dordogne an, wo sie in La Mothe-Fénélon ein einfaches Haus kauft. 

Weiterhin will sie gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt kämpfen, stößt aber in den Zeiten des Wiederaufbaus auf wenig Interesse und Verständnis. Sie schreibt nach wie vor, reist viel, weiß aber nichts mehr mit ihrem Leben anzufangen, seit sie nichts mehr zu bekämpfen hat. Nancy fühlt sich einsam, trinkt übermäßig und hat auch nicht mehr genug Geld zum Leben. 

1960 hat sie einen Anfall von angeblichem Wahnsinn und wird in die Londoner Holloway Clinic eingeliefert. Freunde, die sie besuchen, können aber an ihr nichts Verrücktes feststellen: "Ihre Freundlichkeit ist grenzenlos, wenn sie gut behandelt wird." Psychisch erholt sie sich wieder, aber ihr körperlicher Zustand verschlechtert sich: Sie kämpft mit Asthma, Bronchitis und Gleichgewichtsstörungen, die sie daran hindern, Spaziergänge zu unternehmen, eine ihrer liebsten Freizeitbeschäftigungen. In ihrem Haus kann sie nur leben, wenn Besucher da sind. Allein kann sie sich nicht mehr versorgen, also lebt sie meist bei Freunden und Freundinnen. Während eines Aufenthalts bei einem befreundeten Maler in Antibes bricht sie sich Weihnachten 1963 den Oberschenkel und muss operiert werden. Doch vorzeitig kehrt sie wieder nach Paris zurück, gerät mit anderen Freunden in Streit deswegen, landet in einer Pension.

Nach einer weiteren "verrückten" Episode flüchtet Nancy aus ihrer Pension mit dem Ziel "London". Zwei Tage irrt sie alleine durch Paris, wo sie die Polizei bewusstlos und verletzt auf der Straße liegend findet und in ein Krankenhaus verbringt. Dort, im Hôpital Cochin, stirbt Nancy Cunard am 17. März 1965, eine Woche nach ihrem 69. Geburtstag. Sie hat zu diese Zeitpunkt ein Gewicht von nur noch 26 kg. Die einzigen Personen bei ihrer Beerdigung sind Janet Flanner & Solita Solano, der Kunstkritiker Douglas Cooper und ihr einstiger Liebhaber Raymond Michelet. Ihre Urne wird später im Kolombarium des Père Lachaise beigesetzt.

Vielleicht kommt das passende Epitaph von Nancy Cunard selbst: "Alles, was bleibt, ist eine wütende Empörung." Mit ihrem leidenschaftlichen Einsatz für Minderheiten und Menschenrechte war sie also nicht nur eine optisch beeindruckende Lichtgestalt der Avantgarde, sondern auch eine Vorreiterin von Black Lives Matter, das sehen wir heutzutage erst wieder.


  


7 Kommentare:

  1. Sie war mir gar kein Begriff.
    Ich bin überrascht, was sie alles gemacht und gedacht hat und wen sie alles gekannt hat. Als Kind hatte sie eine ungute Zeit, die ihr weiteres Leben wohl mitbestimmt hat. Auch das viele Geld war wohl Segen und Fluch gleichzeitig.
    Sehr schade, dass sie so einsam und irgendwie anscheinend ohne stimmigen Lebenssinn gestorben ist.
    Wieder einmal hast Du mir eine Great Woman vorgestellt, die ich nicht kannte, die aber viel bewirkt hat. Toll recherchiert, wie immer!
    Herzlichst, Sieglinde

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  2. Wie traurig, dass Nancy Cunards Leben so dunkel zu ende gehen musste. Eine faszinierende Persönlichkeit, die du uns wieder auf spannende Weise bekannt gemacht hast.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. Liebe Astrid,
    abermals hast du uns eine faszinierende Persönlichkeit vorgestellt. Und wie immer war es eine Frau, die kein einfaches Leben geführt hat - obwohl sie es sich spätestens ab da, wo sie reich war, einfach hätte machen können. Aber dafür hatte sie wohl einen zu ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Und "gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt kämpfen, stößt" nicht nur "in den Zeiten des Wiederaufbaus auf wenig Interesse und Verständnis." Überhaupt dürften die Zeiten damals durchaus Ähnlichkeit mit den heutigen gehabt haben - die ewige Wiederholung der Geschichte - siehe die Stichworte im Zitat von oben "Faschismus" und "Verfall der Demokratien". Ich fürchte, es ist generell so, dass ausgerechnet diejenigen, die die Welt besser und gerechter machen wollen, letztendlich nur ihre Energie verschwenden - oder erst angehört werden, wenn sie die Zeiten und Sichtweisen nach langen, problematischen Phasen (vorübergehend) umkehren. Dann werden sie eine Weile zitiert... und danach wieder vergessen. Perlen vor die Säue also. Aber man bzw. "frau" kann nicht aus seiner / ihrer Haut, das sehen wir ja immer wieder selbst.
    Ganz herzliche Rostrosengrüße,
    Traude
    https://rostrose.blogspot.com/2022/03/kleine-auszeit-mit-hindernissen-in.html

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  4. Liebe Astrid,

    wieder mal eine interessante, unglückliche, kämpferische Frau, die du vorstellst.
    Manchmal frage ich mich, ob gerade die Frauen, die schon in ihrer Kindheit kämpfen mussten, dies als eine Zwangsläufigkeit in ihrem Dasein sehen?

    Ein trauriges Lebensende und die letzten Jahre auch. Wie kann man mit 26 kg überhaupt noch leben als Erwachsene? Eine interessante Frau, die mir unbekannt war.

    Viele Grüße
    Claudia

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  5. wow
    was für ein Leben
    da kann einem ja fast schwindelig werden
    das hätte wieder für mindestens 5 Leben ausgereicht
    aber es ist wohl wirklich so..
    ein glücklicher Mensch der behütet aufwächst is wohl mit seinem Leben zufreieden
    und hat wenig Ambitionen etwas zu ändern
    es sind meist die "gebrochenen " Charaktere die etwas bewirken und ändern wollen
    nicht nur im eigenen Leben

    danke für das spannende Portrait

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  6. deinen bericht habe ich fast atemlos gelesen. so war wohl auch fast ihr leben - ohne pause, immer mittendrin, immer aktiv und kämpferisch trotz krankheiten und vieler unbillen. zum schluss leider sooo traurig!
    liebe grüße
    mano

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  7. Liebe Astrid,
    was für ein Frauenschicksal!
    Und schon das 292. Wahnsinn diese tolle Arbeit von dir!
    Diese Sammlung müsstest du wirklich veröffentlichen!
    Ganz viele liebe Grüße von Urte

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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