Immer wieder ein Ärgernis für mich: Die Vorrangstellung der Widerstandskämper des 20. Juli bei der Geschichtsbewältigung der Bundesrepublik. Dabei gab es durchaus andere Gruppierungen, in denen auch viele Frauen subversiv tätig waren und teilweise mit ihrem Leben bezahlt haben. Über Elisabeth Schumacher und Cato Bontjes van Beek von der "Roten Kapelle" habe ich im Blog schon berichtet, auch von Ruth Andreas Friedrich von der Gruppe "Emil" und Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Sophie Scholl, und von Judith Auer, einer kommunistischen Widerstandskämpferin. Heute eine weitere Frau: Mildred Harnack - Fish.
Die Fish- Familie 1903 |
ca. 1920 |
Arvid ist nach dem Suizid des Vaters schon mit dreizehn Jahren Halbwaise geworden und wächst in der "kulturdurchtränkten" Atmosphäre der Großfamilie auf und wird & bleibt ein Goethe-Verehrer. Für seine Familie ist der enorme Zusammenhalt charakteristisch.Ab 1926 studiert Arvid mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums Nationalökonomie an der University of Wisconsin–Madison. 1924 hat er bereits in Deutschland zum Dr. jur. promoviert. Zeitzeugen, die ihn in den Staaten kennengelernt haben, beschreiben ihn als sehr preußisch, gut erzogen und so umfassend gebildet, wie man es nur von Deutschen kennen würde.
Über ihre Begegnung gibt es ein Familien - Narrativ: Arvid, neu an der Universität, verwechselt auf dem Gelände zwei Gebäude und landet in der Vorlesung der jungen Dozentin Mildred Fish. Da ihre tiefe, angenehme Stimme ihn fasziniert, bleibt er und entschuldigt sich am Ende bei ihr für sein schlechtes Englisch und die Störung. Mildred gesteht sogleich, dass ihr Deutsch nicht besser sei. Daraufhin schlägt er vor, man könne die Sprachen doch gemeinsam studieren. Sie ist einverstanden, und beim nächsten Treffen bringt er ihr einen Strauß duftender weißer Blumen mit.
Blond, blauäugig und hochgewachsen passt der kluge, ausgeglichene, leicht spöttische, meisterhafte Debattenredner rein äußerlich zu der gut aussehenden schlanken Amerikanerin. Doch die mag sich nach einer unglücklichen Liebeserfahrung zunächst nicht auf starke Emotionen einlassen. Doch irgendwann sprechen sie davon, dass sie "eine Seele in zwei Körpern", analog wie in Goethes "Wahlverwandtschaften", seien. Den liest er mit ihr und sie führt ihn in das Werk Walt Whitmans ein.
Am 7. August 1926 heiraten sie schon nach kürzester Verlobungszeit auf der Farm von Mildreds Bruder in Brooklyn, Wisconsin in einer kurzen Zeremonie und mit einer Feier, die von der Frau des Bruders & ihrer Mutter organisiert worden ist. Anschließend reist man - ganz Klischee - zu den Niagarafällen.
Mildred ist noch eine sehr junge Frau, hat jedoch einen Mann gefunden, der ihr auch Autonomie zugesteht und respektiert, dass "ihre Seele noch in der Entwicklung" sei.
"Die Freunde bewunderten und respektierten Arvid, aber sie liebten Mildred. Arvid Harnack war außergewöhnlich, aber es war Mildred mit ihrem sonnigen Gemüt und ihrem kräftigen Lachen, die Menschen anzog und Bündnisse schmiedete", schreibt Shareen Blair Brysac in ihrer Biographie.
Greta Lorke - später verheiratete Kuckhoff, und noch später Präsidentin der Deutschen Notenbank der DDR - studiert ab 1927 Soziologie an der Universität von Wisconsin und lernt in einer "märchenhaften Winternacht" bei einer Art Picknick auf dem zugefrorenen Mendotasee Mildred & Arvid kennen und freundet sich mit ihnen an. Sie nimmt an Shakespeare - Lesungen in ihrem Haus teil und lernt über sie weitere linksliberale "Friday Niters" rund um den Ökonomen John Rogers Commons kennen, der auch ein Mentor Arvids ist. Die "Friday Niters" radikalisieren sich während der Proteste um die Verurteilung der Anarchisten Sacco & Vanzetti, und man wendet sich der Betrachtung der ökonomischen Entwicklung in der Sowjetunion zu, auch Arvid.
1928 |
Mildred bleibt nämlich in den Staaten und nimmt eine Stelle als Englischlehrerin in Goucher, einem Frauen-College in Baltimore, Maryland an. Wohl fühlt sie sich in der "schmutzigsten, langsamsten, gemeinsten, engsten und jämmerlichsten Stadt in Amerika" nicht. Sie klagt in einem Brief, dass sie neun Monate lang niemandem habe, an den sie sich anlehnen könne. Aber sie wolle auch lernen, allein mit dem Leben zurechtzukommen. Schließlich bewirbt sie sich für ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ( DAAD ), um in Deutschland weiter ihre Promotion zu verfolgen. Im Empfehlungsschreiben heißt es, sie sei "eine außergewöhnliche Persönlichkeit: eine reife, originelle Denkerin, unkonventionell und vielversprechend."
Die Harnack - Familie in Jena, Mildred vierte von rechts ( ca. 1930 ) |
1930 |
Ab Februar 1931 setzt sie mit einem Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung ihr Studium schließlich an der Universität Berlin fort. Während dieser Zeit wird sie Mitglied der "Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetrussischen Planwirtschaft", die von Arvid Harnack und Professor Friedrich Lenz 1930/31 ins Leben gerufen worden ist. Wie so viele Angehörige ihrer Generation in der Weimarer Republik wenden die Harnacks also ihren Blick gen Osten Richtung Sowjetunion mit ihrem revolutionären Wirtschaftsexperiment und einem ersten Fünfjahresplan.
Mildred arbeitet außerdem als Hilfsdozentin und Lektorin für englische und amerikanische Literatur an der Friedrich-Wilhelms-Universität. In ihren Kursen referiert sie über junge amerikanische Literatur. Bei ihren Studenten erfreut sie sich großer Beliebtheit und verdreifacht innerhalb von drei Semestern die Zahl der Einschreibungen für ihren Kurs. Dennoch wird sie 1932 wegen ihrer offen ausgesprochenen Anschauungen, aber auch der Tatsache, dass sie eine Frau und dazu Ausländerin ist, entlassen und beginnt als Lehrerin für englische Literatur und Literaturgeschichte am Berliner Abendgymnasium zu unterrichten. Die Harnacks müssen aus finanziellen Gründen aus ihrer bequemen Wohnung in Zehlendorf nach Neukölln, Hasenheide 61, umziehen und Untermieter aufnehmen. Arvid arbeitet zeitlich befristet als Jurist in der Stadtverwaltung des thüringischen Saalfeld, später dann an seiner Habilitation in Marburg. Unterstützt werden sie von ihrer Mutter in den Staaten immer wieder mit kleineren Geldbeträgen.
Obwohl Mildred sich wie eine Deutsche in den Kreisen um die Harnack-Familie bzw. Mitglieder des Lehrkörpers ihrer Universität bewegt & fühlt und das vielfältige kulturelle Angebot der Metropole Berlin sie anregt und begeistert, lässt sie sich auch in der amerikanischen Szene blicken und nimmt u.a. an den Diskussionsforen der "American Church" über gesellschaftliche & politische Probleme Deutschlands teil.
Die Harnacks sind der Überzeugung, dass die Weltwirtschaftskrise und nun der Aufstieg Hitlers das Ende des Kapitalismus ankündigen. Im sowjetischen Modell sehen sie die Lösung für die grassierende Armut und Arbeitslosigkeit, unter der Deutschland leidet. Mildreds Ansichten, in Briefen dargelegt, können ihre amerikanischen Angehörigen aber nicht nachvollziehen, schon gar nicht gut heißen. Der Wandel in Mildreds Anschauungen behindert auch ihr Vorankommen mit ihrer Dissertation, ist sie doch inzwischen mehr von dem linken Philosophen George Lukács beeinflusst als von Wilhelm Dilthey, dem großen Vater der Ideengeschichte, mit dessen Maßstäben sie zunächst die von ihr untersuchte amerikanische Literatur beurteilt hat.
Am 24. Juli 1932 schreibt Mildred dann: "Die Diktatur der Rechtsparteien hat über Nacht begonnen", doch sie sieht auch immer noch Grund zum Optimismus, trotz der zunehmenden Straßenkämpfe. Allerdings können bei der Wahl vom 31. Juli die Nationalsozialisten ihre Stimmen mehr als verdoppeln.
Arvid unternimmt ab Mitte August des Jahres eine einmonatige Studienreise in die Sowjetunion, Mildred ist gleichzeitig mit einer anderen Gruppe dort unterwegs, weil sie schon am 1. September am Abendgymnasium antreten muss. Es wird immer wieder behauptet, dass Arvid auf dieser Reise als KGB-Agent angeworben worden sei. In den inzwischen zugänglich gemachten Aktenbeständen des KGB ist keine Bestätigung dafür zu finden. Es ist aber auch so, dass der sonst so gescheite & sorgfältige Beobachter vom zur Zeit seines Besuchs in Charkiw wütenden Holodomor nichts mitbekommen haben will. Der innere Zensor scheint wie bei allen "wahren Gläubigen" funktioniert zu haben.
Neben ihrer Arbeit am Abendgymnasium mit einem Deputat von 15 Stunden leitet seine Frau dort auch gesellige Zusammenkünfte - den "Englisch-Klub" - mit ihren Schülern neben dem Unterricht. "Mildreds Offenheit und ihr echtes Interesse am Menschen waren wichtige Elemente", erinnert sich ein Teilnehmer später.
Nachdem die Nationalsozialisten bei der Wahl im November 1932 einen unerwarteten Rückschlag erlitten haben, schreibt Mildred an ihre Mutter einen optimistischen Weihnachtsbrief. Und selbst einen Tag vor der Machtergreifung schickt sie noch eine Postkarte folgenden Inhalts los: "Nie waren die Perspektiven besser. [....]Es ist ein gutes Leben."
Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler marschieren Mitglieder der SA in einem Fackelzug durch das Brandenburger Tor ( 30. Januar 1933 ) |
Im Unterschied zu anderen Angehörigen der Bildungselite nehmen die Harnacks, Bonhoeffers, Dohnanyis & Delbrücks Hitlers Aufstieg allerdings mehr als ernst. Arvid: "... es ist keine Komödie, die sich vorbereitet, sondern eine Riesentragödie, und nicht nur eine deutsche, sondern eine Menschheitstragödie." Mildred hingegen beruhigt nach wie vor ihre Mutter in einem Brief:
"Wir sind politisch nicht aktiv. Wir leben in Sicherheit, es geht uns gut, wir sind glücklich. Wer interessiert sich schon für Akademiker, die in ihrer Ecke sitzen und über die Zukunft der Welt nachdenken? So mach dir also unseretwegen keine Sorgen. Und bleibe am besten ganz ruhig. Wenn jemand nach uns fragt, so antworte: Die Welt interessiert uns nicht unter politischen, sondern unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Mehr brauchst du nicht zu sagen, du siehst also, wir sind harmlose und ruhige Leute."
Martha Dodd |
In diese Zeit fällt die Bekanntschaft mit der Tochter des neuen amerikanischen Botschafters in Berlin, der 24jährigen Martha Dodd, mit der Mildred bald eine langlebige Kolumne in den "Berlin Topics" verfassen und mit der sie als Leiterin des Frauenclubs an der amerikanischen Botschaft viel Kontakt haben wird. In diesem Club hält Mildred oft Vorträge ( wie auch an den Universitäten in Gießen & Marburg ). Durch ihr selbstsicheres Auftreten und ihre charmante Art wird sie ein ständiger und gern gesehener Gast des Botschafters. Sie nutzt dies, um an Informationen zu kommen. Mit Martha, die zunächst den deutschen Machthabern unkritisch gegenüber steht, tauscht sie "sensationelle Neuigkeiten" aus, mit der Absicht und auch dem notwendigen Erfolg, dass diese in telegrafischen Mitteilungen der amerikanischen Botschaft nach Washington Verwendung finden.
Neben ihrer Arbeit an der Abendschule übersetzt Mildred weiterhin englischsprachige Literatur und ist als Verlagslektorin für amerikanische Literatur bei Potsdamer Verlag Rütten & Loening tätig, während Arvid zunächst ab 1933 als wissenschaftliche Hilfskraft im Reichswirtschaftsministerium angestellt wird, später aber sogar zum Regierungs- und Oberregierungsrat befördert werden wird.
Im Privaten versuchen Arvid und Mildred Harnack das nationalsozialistische Regime nun von innen heraus zu bekämpfen:
Schon immer haben sie interessante Menschen zu samstäglichen Teegesellschaften um sich geschart, mit Tabletts mit belegten Butterbroten, Keksen & Früchten, im Hintergrund gerne eine brennende Kerze und eine Vase mit Zweigen oder Blumen - "sehr ärmlich und anständig", wie Martha Dodd schreibt. Sie haben dann neben der neuesten Literatur Grundfragen der Politik und wissenschaftliche Probleme diskutiert und es ist vorrangig um die Anbahnung von Verleger-Kontakten gegangen. Doch nun, kurz nach der Machtübernahme, verändert sich der Kreis durch Freunde, die ebenfalls gegen die Nazis opponieren. Ab 1934 empfangen sie diese in ihrer neuen Wohnung in der Schöneberger Woyrschstraße 16. Der Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt wird später zu den Treffen sagen: "Man hatte das Gefühl, hier waren intellektuelle Gegner Hitlers versammelt, aber es gab keine Geheimnisse."
Von links nach rechts: Obere Reihe: Adolf Grimme, Greta Kuckhoff, Adam Kuckhoff Untere Reihe: Karl Behrens, Bodo Schlösinger, Harro Schulze-Boysen |
1934 erweitert sich der Kreis der oppositionell Gesinnten um den Freundeskreis um Libertas und Harro Schulze-Boysen. Am Ende wird die Gruppe über 150 Mitglieder verschiedenster Berufsgruppen, unterschiedlicher parteipolitischer Einstellungen und Konfessionen umfassen. Acht Jahre lang verhelfen die Menschen, die hier zusammengefunden haben, Juden und politisch Verfolgten zur Flucht, vernetzen Gleichgesinnte und kämpfen gegen die Legende vom siegreichen Ende des Krieges.
Über die Arvid im Reichswirtschaftsministerium bekannt gewordenen Aufrüstungspläne und die Kriegsvorbereitungen der Nazis kann er 1935/1936 Vertreter der amerikanischen und sowjetischen Botschaft informieren. Mildred kann dem Kreis wiederum ihre über ihre Botschaftskontakte erworbenen, nicht allgemein zugänglichen Informationen übermitteln wie die amerikanischen Kommentare zur nationalsozialistischen Politik oder Reden von Franklin D. Roosevelt sowie Kenntnisse über die Vorkommnisse im Spanischen Bürgerkrieg.
Mildred, die Netzwerkerin, unterstützt die illegale Arbeit auch und vor allem, indem sie Kontakte zu Menschen anbahnt, von denen bekannt ist, dass sie gegenüber dem Naziregime kritisch Stellung bezogen haben. 1936 hat sie bereits das Berliner Abendgymnasium verlassen und eine Unterrichtstätigkeit an der Volkshochschule Berlin aufgenommen. Auch dort akquiriert sie aktive Widerständler.
Die Dienst- und Urlaubsreisen der Harnacks nach Norwegen, Kopenhagen, London und Paris dienen ebenfalls immer mehr auch konspirativen Zwecken. Da Mildred bei Rütten & Loening für die Übersetzung von Büchern aus dem Englischen zuständig ist, kann sie ihre Aufenthalte im Ausland glaubhaft machen. Auch verfügt sie über einen deutschen und amerikanischen Pass und ist durch ihre Verlagstätigkeit in der Lage, Materialien wie Papier und Tinte für geheime Publikationen zu bekommen, die in Deutschland rationiert sind
"Schritt für Schritt gingen Mildred und Arvid von einer Neugier am Marxismus, der von Sympathie geprägt war, zu direktem Engagement über. In Opposition zur 'Neuen Weltordnung' der Nationalsozialisten gelangten sie schließlich zum heimlichen Widerstand." So Shareen Blair Brysac in ihrem Buch.
Zur Tarnung seiner illegalen Aktivitäten wird Arvid Harnack 1937 Mitglied der NSDAP.
Inzwischen ist der amerikanische Botschafter ausgetauscht worden, und Mildred freundet sich mit der Frau des 1. Botschaftssekretärs an. Deren Sohn Donald Heath jr. erteilt Mildred Nachhilfe in amerikanischer Literatur. Der elfjährige Junge wird ihr Kurier. Zur Tarnung trägt er eine geliehene Uniform der Hitlerjugend, wenn er verschlüsselte Notizen in seinem Rucksack zwischen der Botschaft und der Widerstandsgruppe hin und her transportiert.
1930er Jahre |
Neben ihrer geschäftigen Routine & den politischen Aktivitäten treibt Mildred weiter ihre Dissertation in Amerikanistik an der Universität Gießen voran - am 30. November 1941 wird sie promoviert - und publiziert über Nathaniel Hawthorne, Thornton Wilder, Thomas Wolfe und William Faulkner. Schließlich wird sie sogar vom Wintersemester 1941/42 bis Sommersemester 1942 an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität lehren.
Im Sommer 1941 hat die sowjetische Botschaft der Gruppe um Harnack & Schulze-Boysen u.a. über das Ehepaar Schumacher ( siehe auch dieser Post ) zwei Funkgeräte zur Verfügung gestellt. Allerdings kommt es auf Grund technischer Probleme zu keiner dauerhaften Verbindung nach Moskau. Ein Funkspruch vom August 1941 eines sowjetischen Agenten in Brüssel mit losen Verbindungen nach Berlin wird im Juli 1942 von der Auslandsaufklärung des Oberkommandos der Wehrmacht dechiffriert und liefert der Gestapo erste Namen der Widerstandsgruppe, darunter den von Harro Schulze-Boysen.
Aufgrund der Funkerei betitelt die Gestapo die aufgedeckte Widerstandsgruppe "Rote Kapelle": "Kapelle" bezeichnete im Jargon eine Gruppe von Funkern, "rot" bezieht sich auf die linke Haltung der Mitglieder.
Am 31. August 1942 greift die Gestapo erstmals zu, obwohl die Ermittlungen noch längst nicht abgeschlossen sind. Ein paar Tage später als ihr Mann wird auch Libertas Schulze -Boysen verhaftet.
Noch während die ersten Mitglieder ihres Kreises festgenommen werden, fahren die Harnacks in den Urlaub an die Kurische Nehrung nach Preila ( im heutigen Litauen ) in ein kleines Haus am Meer. Schweden ist nur noch ein paar Stunden mit dem Fischerboot entfernt. Am 7. September klopft die Gestapo frühmorgens an die Tür. Der Oberregierungsrat werde in Berlin gebraucht. Mildred macht das Bett und packt die Koffer. Ihr Gastgeber in Preila erzählt später Mildreds Großnichte Rebecca Donner, "dass auf dem Küchentisch eine Vase mit Blumen stand, die Arvid Mildred geschenkt hatte, und dass sie, kurz bevor sie sie packten, auf die Blumen starrte und die Tischdecke darunter glatt strich."
Man bringt die beiden geradewegs in die Folterkeller der Prinz-Albrecht-Straße. Dort werden sie getrennt. Es dauert drei Monate, bis sie sich vor Gericht wiedersehen werden.
Am 19. Dezember erfolgt schon das Urteil: Zehn von ihnen sollen hingerichtet werden, darunter Arvid Harnack. Mildred soll für sechs Jahre ins Zuchthaus kommen.
Doch Adolf Hitler will dieses Urteil nicht bestätigen und lässt den Prozess und die Verhandlungen gegen Mildred Harnack - Fish, eine amerikanische Staatsbürgerin, wiederholen. Sie muss also noch einmal vor Gericht, geschwächt von Tuberkulose & Unterernährung, längst ein Schatten ihrer selbst. Einige Zeugen meinen, sie sei auch gefoltert worden.
In einem Fragebogen der Justizbürokratie antwortet Mildred auf deren Frage: "Was gedenken Sie nach der Entlassung zu tun?" "Weiterhin die besten deutschen Dichtungen wie diejenigen Goethes für die englischsprachige Welt übersetzen."
Ihre Schwester Harriette schaltet, nachdem sie von der Verurteilung durch die Zeitung erfahren hat, noch den Vatikan ein, um sie zu retten. Der wird über die Berliner Nuntiatur der Familie Fish dann im September 1943 ein "herzliches Beileid" aussprechen.
Mildreds Ehemann wird am 22. Dezember 1942 um 19.10 Uhr als zweiter nach Schulze-Boysen in Berlin-Plötzensee gehängt. Er kann ihr noch einen letzten Brief schreiben:
"Erinnerst Du Dich noch an Picnic Point, als wir uns verlobten? Ich sang vor Freude frühmorgens im Club. Und noch vorher an unser erstes Gespräch beim Mittagessen im Restaurant in der State Street? Dieses Gespräch wurde mein Leitstern. Wie oft haben wir in den folgenden 16 Jahren den Kopf einander auf die Schulter gelegt, des Nachts, wenn das Leben uns müde gemacht hat..."
Mildred erhält ihr Todesurteil am 16. Januar 1943. Axel von Harnack sucht noch Richter Roeder auf, kann aber nichts für die Frau seines Cousins erreichen. Roeder warnt ihn und die Familie vor negativen Konsequenzen.
Einen Monat später wird sie von Pfarrer Harald Poelchau ( der mit der Gruppe "Emil" kooperiert & Kontakt zum Kreis um Helmuth James Graf von Moltke hat ) in der Zelle aufgesucht, als sie an einer Übersetzung ins Englische von Goethes "Vermächtnis" sitzt. Später wird sie von einem Gefängniswärter auf Goldplomben untersucht, ihr die Haare abgeschnitten und Holzpantinen statt ihrer Schuhe angetragen sowie die Hände auf dem Rücken gefesselt. So wird sie zum Exekutionsraum gebracht, wo sie um drei Minuten vor sieben am Abend des 16. Februars durch die Guillotine hingerichtet wird. Sie ist 40 Jahre alt. Ihre letzten Worte, so Poelchau, sollen gewesen sein:
"Und ich habe Deutschland so geliebt."
Mildreds sterbliche Überreste gelangen anschließend in die Hände einer Freundin, die sie auf dem Zehlendorfer Friedhof begraben lässt. Mildred ist das einzige Mitglied der Widerstandsgruppe, dessen Grabstätte bekannt ist.
Ich möchte dieses Porträt nicht abschließen, ohne noch einmal Informationen über die "Rote Kapelle" anzuhängen, denn viel zu lange wurden irrige Annahmen, Lügen und Verleumdungen in deutschen Publikationen verbreitet und im Geschichtsunterricht nur tendenziös thematisiert bzw. ganz unterlassen.
"Rote Kapelle" taufte die Widerstandsgruppe, der Mildred Harnack-Fish angehörte, wie schon geschrieben, die Gestapo. Der Romanist Werner Krauss, selbst dazugehörig, hat ihr in einem heimlich während der Haft geschriebenen Buch zwei sehr treffende Namen verliehen: "Katakombengesellschaft" und "Bund der unentwegten Lebensfreude".
Bei den Regimegegnern handelte es sich keineswegs um kommunistische Kader, sondern um ein loses Netz von Privatleuten, die aus eigenem Antrieb und mit bewundernswertem Mut gegen Hitler kämpften. Der hohe Anteil von Frauen ( 40 Prozent der Mitglieder ) und Parteilosen deutet darauf hin, dass sich die Gruppe aus Alltagszusammenhängen heraus gebildet hatte und auf jahrelang gewachsenen freundschaftlichen, sozialen und verwandtschaftlichen Beziehungen basierte. Vor allem zwei Anliegen vereinte die heterogene Gruppe aus allen Schichten der Bevölkerung: Der Abscheu vor dem nationalsozialistischen Regime und der Wunsch, den Krieg schnellstens zu beenden. Sie hatten kein festes Programm und vertraten unterschiedliche Weltanschauungen. Arbeiter und Aristokraten, Kommunisten und Sozialdemokraten fanden sich genauso wie Katholiken oder bündisch-nationale Rechte, Künstler und Ärzte.
Durch den Begriff "Rote Kapelle" sollte die Gruppe als ein von Moskau gesteuerter Spionagering diffamiert werden. Der Agentenmythos verhinderte bis in die Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts bei deutschen Geschichtsschreibern die unangenehme Einsicht, dass man im Deutschen Reich eben nicht tatenlos bleiben musste, und die Verbrechen des Naziregimes sichtbar waren, wenn man sie nur sehen wollte.
In der DDR wurden die Widerstandskämpfer der "Roten Kapelle" hingegen von Anfang an geehrt, allerdings so, dass es in die verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft passte: Sie wurden als kommunistischer Kundschafterdienst und Vorläufer des Ministeriums für Staatssicherheit heroisiert.
In der Bundesrepublik verteufelte man sie hingegen als ideologisch verblendete Landesverräter und Spione der Sowjetunion, deren Verurteilung rechtens gewesen sei. So hintertrieben Richter und Staatsanwälte des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, die ihre Karriere im bundesrepublikanischen Rechtsstaat fortsetzen konnten, ihre eigene Rehabilitierung.
Und auch Reinhard Gehlen und seine „Organisation“, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst hervorging, trugen maßgeblich dazu bei, die "Rote Kapelle" im öffentlichen Bewusstsein auf eine Spionageorganisation, die mit „echtem“ Widerstand nichts zu tun gehabt habe, zu reduzieren. Der BND - Mitarbeiter Heinrich Reiser - seit 1933 bei der Gestapo und seit Ende 1950 in der "Organisation Gehlen" - arbeitete seine Gesamtdarstellung der "Roten Kapelle" zu einer veritablen Weltverschwörung aus. In seiner Beschreibung wuchs sich das Widerstandsnetz im Dritten Reich zu einer internationalen Agententruppe aus, die mit nahezu unbegrenzten Fähigkeiten den Westen bedrohte. Sein Narrativ rechtfertigte jahrelang auch, dass die lebenden Angehörige der Ermordeten geheimdienstlich überwacht wurden.
Ich kann zum Schluss wie in meinem Porträt von Elisabeth Schumacher nur noch den Historiker Jörn Rüsen zitieren: "Was wir benötigen, ist eine zukunftsweisende 'Idee' von Menschheit. Und dabei hilft uns Geschichte." Das ist mein Anliegen & meine Motivation gewesen, für dieses Porträt zu recherchieren und es zu veröffentlichen.
Danke für dieses wichtige Frauenportrait.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Andrea
Liebe Astrid,
AntwortenLöschenschwere Kost, die du uns heute servierst. Gerade deswegen lesens- und nachdenkenswert.
Ich könnte noch viele meiner Gedanken aufschreiben, aber irgendwie werde ich müde angesichts der Zeiten.
Danke für das erschütternde Porträt.
Herzliche Grüße,
Claudia
Ja liebe Astrid, das macht nachdenklich und ist wirklich schwere Kost, aber leider war es so wie es war.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Kerstin und Helga
Diese Zusammenhänge waren mir gar nicht so klar. Gut, dass Du diese Geschichtsstunde hier gegeben hast. Die zukunftsweisende Idee von Menschheit brauchen wir auch sehr.
AntwortenLöschenEine Frau wie Mildred Harnack-Fish verkörperte sie und wurde so bekämpft und in ihrem Ruf noch nachträglich beschädigt. Zum Schämen.
Herzlich,
Sieglinde