Donnerstag, 15. Februar 2024

Great Women #367: Mildred Harnack - Fish

Immer wieder ein Ärgernis für mich: Die Vorrangstellung der Widerstandskämper des 20. Juli bei der Geschichtsbewältigung der Bundesrepublik. Dabei gab es durchaus andere Gruppierungen, in denen auch viele Frauen subversiv tätig waren und teilweise mit ihrem Leben bezahlt haben. Über Elisabeth Schumacher und Cato Bontjes van Beek von der "Roten Kapelle" habe ich im Blog schon berichtet, auch von Ruth Andreas Friedrich von der Gruppe "Emil" und Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Sophie Scholl, und von Judith Auer, einer kommunistischen Widerstandskämpferin. Heute eine weitere Frau: Mildred Harnack - Fish.


"Die letzten Argumente sind Strang und Fallbeil nicht, 
und unsere heutigen Richter 
sind noch nicht das Weltgericht"
Harro Schulze-Boysen

Mildred Harnack - Fish erblickt am 16. September 1902 in Milwaukee, Wisconsin, als Mildred "Mili" Elizabeth Fish das Licht der Welt. 

Die Stadt am Ufer des Michigansees gilt im 19. Jahrhundert als "German Athens", als Deutsch-Athen, da sich hier verhältnismäßig viele deutsche Einwanderer nach der gescheiterten Revolution von 1848 angesiedelt haben und die deutsche Kultur intensiv gepflegt wird. Die Familie Fish führt allerdings ihren Ursprung auf die neuenglischen Siedler des 17. Jahrhunderts zurück und gehört teilweise zu den großen "Vierhundert" in New York. Mütterlicherseits sind es unkonventionelle Protestanten, die im 19. Jahrhundert den industriellen Norden Englands verlassen und sich in Hartford in der Nähe Milwaukees angesiedelt haben. Dort ist der Großvater als Lehrer & Posthalter tätig gewesen.

Die Fish- Familie 1903
Mildred ist das jüngste Kind von Georgina Hesketh, zum Zeitpunkt von Mildreds Geburt 38 Jahre alt, und William Cook Fish, acht Jahre älter als seine Frau. Sie hat drei Geschwister: Harriette (*1893) und die Zwillinge Marion und Marbeau "Bob" Davenport (*1895). 

Der Vater hat als Lehrer, Versicherungsvertreter, Büroangestellter und Pferdehändler gearbeitet, ist aber auch immer wieder arbeitslos gewesen. Mildred wird ihn später so charakterisieren: "Es fehlte ihm an Beständigkeit und Fleiß."

Die Mutter wiederum wird als ehrgeizig beschrieben, lernt Stenographie und Schreibmaschine schreiben und ist mit ihren Schwestern zum Arbeiten nach Milwaukee gezogen, wo sie ihren feschen späteren Mann - "kein Bauerntölpel" so die älteste Tochter - kennenlernt. 

Georgina ist zudem eine überzeugte Anhängerin der "Christian Science", die 1875 von Mary Baker Eddy begründet worden ist. Die "Christliche Wissenschaft" sieht die Überlegenheit der geistigen Kraft über die physische Kraft als zentrale Tatsache der Bibel an und ist auch eine Verfechterin der Gleichheit der Geschlechter, weshalb sie in Milwaukee besonders viele weibliche Anhängerinnen findet. Aus Mildreds Mutter macht sie eine Persönlichkeit voller Kraft & Selbstvertrauen, die den Ablauf des Familienlebens zum Wohle ihrer Kinder im Sinne ihrer Anschauungen organisiert. Das ist nämlich nicht einfach mit einem Ehemann, dem es - auch verschärft durch die Wirtschaftskrise in den 1890er Jahren - nicht gelingt, ein Auskommen für die Familie zu sichern.

Die muss immer wieder die Wohnungen wegen Mietschulden wechseln. Georgina versucht, durch Untervermietungen Geld zu verdienen, auch zusammen mit ihrer Tochter Marion durch Arbeit in fremden Haushalten. Zwischendurch trennt sie sich auch von ihrem Mann, lebt bei ihrer Schwester in Madison, kehrt aber auch wieder zu ihm zurück. 

Mildred wird von ihrem Vater als "seltsam und verschlossen" erlebt. Die Mutter hingegen ermutigt das Mädchen wie auch ihre anderen Kinder in ihrem Ehrgeiz, sorgt für eine gute Bildung und lehrt sie, sich nicht zu fürchten, was Mildred nachhaltig prägen wird. Die Religiosität ihrer Mutter wird ihr allerdings fremd bleiben und sie wird sich später als "instinktiv Ungläubige" bezeichnen. Sie wird aber immer dazu neigen, ihre Mitmenschen optimistisch zu betrachten, auch trotz gegenläufiger Anzeichen.

Im Januar 1918, als es in Milwaukee den schlimmsten Schneefall samt Wirbelsturm seit zwanzig Jahren gegeben hat, wird Mildreds Vater unter einer meterhohen Schneeverwehung tot in dem Stall aufgefunden, in dem er einst seine Pferde untergebracht hatte und wo er getrennt von seiner Familie gelebt hat. "Akute Herzmuskelentzündung" heißt es in der Sterbeurkunde, "61 Jahre, 10 Monate und 26 Tage alt". Mildred wird nie nachhaltig gegenüber anderen von ihrem Vater reden.

ca. 1920
Ihre Schwestern sind bereits verheiratet, der Bruder lebt als Farmer in der Nähe von Madison. Und so nutzt Mildreds Mutter die Chance, in Washington als Stenografin im Amt für Kriegsveteranen ihr Auskommen für sich und ihre Jüngste zu finden. Sie übersiedelt mit ihr nach Chevy Chase in Maryland, wo die älteste Tochter inzwischen lebt. 

Mildred verbringt ihr letztes High - School-Jahr auf der Western High School in Georgetown/Washington, die als beste öffentliche Institution in der Hauptstadt gilt, in der nicht nur Wert auf wissenschaftlich fundierte Ausbildung gelegt wird, sondern auch ein gepflegtes Miteinander. Sie arbeitet an der Schulzeitung mit, spielt Theater, wird Klassendichterin, interessiert sich für soziale Fragen, gilt als sportlich und ihr wird spätere Berühmtheit prognostiziert. 1919 macht sie ihren Abschluss.

Es ist offen, wie Mildred die nächsten beiden Jahre verbringt: Möglicherweise hat sie ein Jahr im Amt ihrer Mutter gearbeitet und das nächste auf der George-Washington-Universität verbracht, wo es ihr nicht gefallen hat, auch vor lauter Heimweh nach ihrem Heimatstaat.

Im Herbst 1921 kehrt sie schließlich mit ihrem Ersparten & Geld von der Mutter zurück nach Wisconsin auf die gleichnamige Universität in Madison. Sie ist jetzt 19 Jahre alt und finanziert sich ihren Lebensunterhalt, indem sie für das "Wisconsin State Journal" Theater- & Filmkritiken schreibt, was ihr Zutritt zu recht exklusiven kulturellen Ereignissen verschafft, z. B. den Auftritt der berühmten Ballerina Anna Pawlowna Pawlowa

Sie lebt zunächst in einem Genossenschaftsheim für Frauen, die eine journalistische Laufbahn anvisieren. Doch offensichtlich stößt ihr die Ansicht ihrer männlichen Berufsgenossen unangenehm auf, dass weibliche Journalisten im Allgemeinen den männlichen unterlegen seien, besonders als Reporter, und sie wechselt  nach einem Jahr vom Hauptfach Journalismus zu dem der Geisteswissenschaften neben dem Studium der englischen Literatur. 1922 wird sie Mitarbeiterin des "Wisconsin Literary Magazine", damals hoch geschätzt und selbst an New Yorker Kiosken erhältlich. 

Das Magazin bietet ihr über zwei Jahre ein Ventil für ihre Kreativität, denn sie steuert Gedichte, Aphorismen & Sketche bei, die ihr Anerkennung einbringen. Außerdem lässt es ihr die Möglichkeit, sich als Nonkonformistin zu empfinden. "Nichts ist heilig, außer der Integrität deines eigenen Geistes", ist der Grundsatz ihres exzentrischen Lieblings-Professors William Ellery Leonard. Starken Einfluss auf sie hat auch der aus Deutschland stammende Philosoph Max Otto, der die junge Frau darin bestärkt, dass moralisches Engagement in einer Welt ohne Gott notwendig sei.

Ihr Studium schließt sie im Sommer 1925 mit einer Arbeit in klassischer Philologie ab. Am 6. August 1925 erhält Mildred einen Master of Arts in Englisch, beginnt in der Folgezeit an der Universität zu unterrichten und arbeitet an einer Dissertation, als sie auf Arvid Harnack trifft. 
Arvid Harnack,
am 24. Mai 1901 in Darmstadt als Sohn eines Professors für Geschichte und Literatur an der dortigen TH geboren, stammt aus einer sehr angesehenen protestantischen baltendeutschen Akademikerfamilie. 
Arvid ist nach dem Suizid des Vaters schon mit dreizehn Jahren Halbwaise geworden und wächst in der "kulturdurchtränkten" Atmosphäre der Großfamilie auf und wird & bleibt ein Goethe-Verehrer. Für seine Familie ist der enorme Zusammenhalt charakteristisch. 
Ab 1926 studiert Arvid mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums Nationalökonomie an der University of Wisconsin–Madison. 1924 hat er bereits in Deutschland zum Dr. jur. promoviert. Zeitzeugen, die ihn in den Staaten kennengelernt haben, beschreiben ihn als sehr preußisch, gut erzogen und so umfassend gebildet, wie man es nur von Deutschen kennen würde.

Über ihre Begegnung gibt es ein Familien - Narrativ: Arvid, neu an der Universität, verwechselt auf dem Gelände zwei Gebäude und landet in der Vorlesung der jungen Dozentin Mildred Fish. Da ihre tiefe, angenehme Stimme ihn fasziniert, bleibt er und entschuldigt sich am Ende bei ihr für sein schlechtes Englisch und die Störung. Mildred gesteht sogleich, dass ihr Deutsch nicht besser sei. Daraufhin schlägt er vor, man könne die Sprachen doch gemeinsam studieren. Sie ist einverstanden, und beim nächsten Treffen bringt er ihr einen Strauß duftender weißer Blumen mit.

Blond, blauäugig und hochgewachsen passt der kluge, ausgeglichene, leicht spöttische, meisterhafte Debattenredner rein äußerlich zu der gut aussehenden schlanken Amerikanerin. Doch die mag sich nach einer unglücklichen Liebeserfahrung zunächst nicht auf starke Emotionen einlassen. Doch irgendwann sprechen sie davon, dass sie "eine Seele in zwei Körpern", analog wie in Goethes "Wahlverwandtschaften", seien. Den liest er mit ihr und sie führt ihn in das Werk Walt Whitmans ein.

Am 7. August 1926 heiraten sie schon nach kürzester Verlobungszeit auf der Farm von Mildreds Bruder in Brooklyn, Wisconsin in einer kurzen Zeremonie und mit einer Feier, die von der Frau des Bruders & ihrer Mutter organisiert worden ist. Anschließend reist man - ganz Klischee - zu den Niagarafällen. 

Mildred ist noch eine sehr junge Frau, hat jedoch einen Mann gefunden, der ihr auch Autonomie zugesteht und respektiert, dass "ihre Seele noch in der Entwicklung" sei. 

"Die Freunde bewunderten und respektierten Arvid, aber sie liebten Mildred. Arvid Harnack war außergewöhnlich, aber es war Mildred mit ihrem sonnigen Gemüt und ihrem kräftigen Lachen, die Menschen anzog und Bündnisse schmiedete", schreibt Shareen Blair Brysac in ihrer Biographie.

Greta Lorke - später verheiratete Kuckhoff, und noch später Präsidentin der Deutschen Notenbank der DDR - studiert ab 1927 Soziologie an der Universität von Wisconsin und lernt in einer "märchenhaften Winternacht" bei einer Art Picknick auf dem zugefrorenen Mendotasee Mildred & Arvid kennen und freundet sich mit ihnen an. Sie nimmt an Shakespeare - Lesungen in ihrem Haus teil und lernt über sie weitere linksliberale "Friday Niters" rund um den Ökonomen John Rogers Commons kennen, der auch ein Mentor Arvids ist. Die "Friday Niters" radikalisieren sich während der Proteste um die Verurteilung der Anarchisten Sacco & Vanzetti, und man wendet sich der Betrachtung der ökonomischen Entwicklung in der Sowjetunion zu, auch Arvid. 

1928
Dessen Stipendium läuft nach dem Frühjahrssemester 1928 aus, seine zweite Promotion ist aber noch nicht abgeschlossen, als er aus finanziellen Gründen nach Deutschland heimkehren muss. Es sind die zwei besten Jahre ihres gemeinsamen Lebens gewesen, werden sie später sagen, die nun zu Ende gehen. 

Mildred bleibt nämlich in den Staaten und nimmt eine Stelle als Englischlehrerin in Goucher, einem Frauen-College in Baltimore, Maryland an. Wohl fühlt sie sich in der "schmutzigsten, langsamsten, gemeinsten, engsten und jämmerlichsten Stadt in Amerika" nicht. Sie klagt in einem Brief, dass sie neun Monate lang niemandem habe, an den sie sich anlehnen könne. Aber sie wolle auch lernen, allein mit dem Leben zurechtzukommen. Schließlich bewirbt sie sich für ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ( DAAD ), um in Deutschland weiter ihre Promotion zu verfolgen. Im Empfehlungsschreiben heißt es, sie sei "eine außergewöhnliche Persönlichkeit: eine reife, originelle Denkerin, unkonventionell und vielversprechend."

Die Harnack - Familie in Jena,
Mildred vierte von rechts
( ca. 1930 )
Am 22. Juni 1929 verlässt die Sechsundzwanzigjährige in New York an Bord der SS Berlin ihr Heimatland, ob mit Schwermut, weiß man nicht. Von Bremerhaven aus reist sie mit Arvid zur Familie nach Jena. 

Die ist erstaunt, dass Arvid, "ein armer Student, ein so fabelhaftes Mädchen geheiratet hatte." Ihre Schwiegermutter, Clara Harnack, geborene Reichau, Enkelin von Justus von Liebig, eine ausgebildete Lehrerin & Malerin, liebt ihre Schwiegertochter vom ersten Blick an und schätzt ihre "Herzensgüte und Menschenliebe". Arvids Schwester Ingeborg wird eine lebenslange Freundin werden. Den berühmten Onkel  Adolf von Harnack, Theologe und Wissenschaftsorganisator in Preußen, von Kaiser Wilhelm II. geadelt und Mitbegründer der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, lernt Mildred 1930 in Berlin kennen. Sie empfindet es bald als Privileg, dass sie zu dieser deutschen Bildungselite gehört, der auch die befreundeten bzw. verwandten BonhoeffersDohnanyis und Delbrücks  ( von denen später einige von den Nazis ja auch hingerichtet werden ) angehören.  

1930
Zunächst in Jena, dann ab 1930 an der Universität in Gießen arbeitet sie weiter an ihrer Dissertation. Die Stimmung unter den Studenten dort ist schon stark nationalsozialistisch geprägt und richtet sich auch gegen Mildreds pazifistischen und marxistisch beeinflussten Philosophieprofessor. 

Ab Februar 1931 setzt sie mit einem Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung ihr Studium schließlich an der Universität Berlin fort. Während dieser Zeit wird sie Mitglied der "Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetrussischen Planwirtschaft", die von Arvid Harnack und Professor Friedrich Lenz 1930/31 ins Leben gerufen worden ist. Wie so viele Angehörige ihrer Generation in der Weimarer Republik wenden die Harnacks also ihren Blick gen Osten Richtung Sowjetunion mit ihrem revolutionären Wirtschaftsexperiment und einem ersten Fünfjahresplan.

Mildred arbeitet außerdem als Hilfsdozentin und Lektorin für englische und amerikanische Literatur an der Friedrich-Wilhelms-Universität. In ihren Kursen referiert sie über junge amerikanische Literatur. Bei ihren Studenten erfreut sie sich großer Beliebtheit und verdreifacht innerhalb von drei Semestern die Zahl der Einschreibungen für ihren Kurs. Dennoch wird sie 1932 wegen ihrer offen ausgesprochenen Anschauungen, aber auch der Tatsache, dass sie eine Frau und dazu Ausländerin ist, entlassen und beginnt als Lehrerin für englische Literatur und Literaturgeschichte am Berliner Abendgymnasium zu unterrichten. Die Harnacks müssen aus finanziellen Gründen aus ihrer bequemen Wohnung in Zehlendorf nach Neukölln, Hasenheide 61, umziehen und Untermieter aufnehmen. Arvid arbeitet zeitlich befristet als Jurist in der Stadtverwaltung des thüringischen Saalfeld, später dann an seiner Habilitation in Marburg. Unterstützt werden sie von ihrer Mutter in den Staaten immer wieder mit kleineren Geldbeträgen.

Obwohl Mildred sich wie eine Deutsche in den Kreisen um die Harnack-Familie bzw. Mitglieder des Lehrkörpers ihrer Universität bewegt & fühlt und das vielfältige kulturelle Angebot der Metropole Berlin sie anregt und begeistert, lässt sie sich auch in der amerikanischen Szene blicken und nimmt u.a. an den Diskussionsforen der "American Church" über gesellschaftliche  & politische Probleme Deutschlands teil. 

Die Harnacks sind der Überzeugung, dass die Weltwirtschaftskrise und nun der Aufstieg Hitlers das Ende des Kapitalismus ankündigen. Im sowjetischen Modell sehen sie die Lösung für die grassierende Armut und Arbeitslosigkeit, unter der Deutschland leidet. Mildreds Ansichten, in Briefen dargelegt, können ihre amerikanischen Angehörigen aber nicht nachvollziehen, schon gar nicht gut heißen. Der Wandel in Mildreds Anschauungen behindert auch ihr Vorankommen mit ihrer Dissertation, ist sie doch inzwischen mehr von dem linken Philosophen George Lukács beeinflusst als von Wilhelm Dilthey, dem großen Vater der Ideengeschichte, mit dessen Maßstäben sie zunächst die von ihr untersuchte amerikanische Literatur beurteilt hat.

Am 24. Juli 1932 schreibt Mildred dann: "Die Diktatur der Rechtsparteien hat über Nacht begonnen", doch sie sieht auch immer noch Grund zum Optimismus, trotz der zunehmenden Straßenkämpfe. Allerdings können bei der Wahl vom 31. Juli die Nationalsozialisten ihre Stimmen mehr als verdoppeln. 

Arvid unternimmt ab Mitte August des Jahres eine einmonatige Studienreise in die Sowjetunion, Mildred ist gleichzeitig mit einer anderen Gruppe dort unterwegs, weil sie schon am 1. September am Abendgymnasium antreten muss. Es wird immer wieder behauptet, dass Arvid auf dieser Reise als KGB-Agent angeworben worden sei. In den inzwischen zugänglich gemachten Aktenbeständen des KGB ist keine Bestätigung dafür zu finden. Es ist aber auch so, dass der sonst so gescheite & sorgfältige Beobachter vom zur Zeit seines Besuchs in Charkiw wütenden Holodomor nichts mitbekommen haben will. Der innere Zensor scheint wie bei allen "wahren Gläubigen" funktioniert zu haben.

Neben ihrer Arbeit am Abendgymnasium mit einem Deputat von 15 Stunden leitet seine Frau dort auch gesellige Zusammenkünfte - den "Englisch-Klub" - mit ihren Schülern neben dem Unterricht. "Mildreds Offenheit und ihr echtes Interesse am Menschen waren wichtige Elemente", erinnert sich ein Teilnehmer später.

Nachdem die Nationalsozialisten bei der Wahl im November 1932 einen unerwarteten Rückschlag erlitten haben, schreibt Mildred an ihre Mutter einen optimistischen Weihnachtsbrief. Und selbst einen Tag vor der Machtergreifung schickt sie noch eine Postkarte folgenden Inhalts los: "Nie waren die Perspektiven besser. [....]Es ist ein gutes Leben."

Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler marschieren Mitglieder der SA
in einem Fackelzug durch das Brandenburger Tor
( 30. Januar 1933 )

Im Unterschied zu anderen Angehörigen der Bildungselite nehmen die Harnacks, Bonhoeffers, Dohnanyis & Delbrücks Hitlers Aufstieg allerdings mehr als ernst. Arvid: "... es ist keine Komödie, die sich vorbereitet, sondern eine Riesentragödie, und nicht nur eine deutsche, sondern eine Menschheitstragödie." Mildred hingegen beruhigt nach wie vor ihre Mutter in einem Brief:

"Wir sind politisch nicht aktiv. Wir leben in Sicherheit, es geht uns gut, wir sind glücklich. Wer interessiert sich schon für Akademiker, die in ihrer Ecke sitzen und über die Zukunft der Welt nachdenken? So mach dir also unseretwegen keine Sorgen. Und bleibe am besten ganz ruhig. Wenn jemand nach uns fragt, so antworte: Die Welt interessiert uns nicht unter politischen, sondern unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Mehr brauchst du nicht zu sagen, du siehst also, wir sind harmlose und ruhige Leute."

Martha Dodd
Die Realität ist eine andere: Von Arvids Buch über die Sowjetunion, schon gesetzt und ins Programm des Rowohlt-Verlages aufgenommen, werden die Druckvorlagen vernichtet. Ein weiteres seiner Manuskripte wird von Mildred bei der "American Church" vorsichtshalber versteckt. Im Juni tritt Mildred zur Tarnung in den Nationalsozialistischen Lehrerbund ein, Arvid gibt den Traum von einer akademischen Karriere auf und bereitet sich auf ein 2. Staatsexamen vor. In den Briefen nach Wisconsin schildert Mildred die deutschen Vorkommnisse nun so, als würde sie über schockierende Umtriebe in der Sowjetunion berichten.

In diese Zeit fällt die Bekanntschaft mit der Tochter des neuen amerikanischen Botschafters in Berlin, der 24jährigen Martha Dodd, mit der Mildred bald eine langlebige Kolumne in den "Berlin Topics" verfassen und mit der sie als Leiterin des Frauenclubs an der amerikanischen Botschaft viel Kontakt haben wird. In diesem Club hält Mildred oft Vorträge ( wie auch an den Universitäten in Gießen & Marburg ). Durch ihr selbstsicheres Auftreten und ihre charmante Art wird sie ein ständiger und gern gesehener Gast des Botschafters. Sie nutzt dies, um an Informationen zu kommen. Mit Martha, die zunächst den deutschen Machthabern unkritisch gegenüber steht, tauscht sie "sensationelle Neuigkeiten" aus, mit der Absicht und auch dem notwendigen Erfolg, dass diese in telegrafischen Mitteilungen der amerikanischen Bot­schaft nach Washington Verwendung finden.

Neben ihrer Arbeit an der Abendschule übersetzt Mildred weiterhin englischsprachige Literatur und ist als Verlagslektorin für amerikanische Literatur bei Potsdamer Verlag Rütten & Loening tätig, während Arvid zunächst ab 1933 als wissenschaftliche Hilfskraft im Reichswirtschaftsministerium angestellt wird, später aber sogar zum Regierungs- und Oberregierungsrat befördert werden wird.

Im Privaten versuchen Arvid und Mildred Harnack das nationalsozialisti­sche Regime nun von innen heraus zu bekämpfen: 

Schon immer haben sie interessante Menschen zu samstäglichen Teegesellschaften um sich geschart, mit Tabletts mit belegten Butterbroten, Keksen & Früchten, im Hintergrund gerne eine brennende Kerze und eine Vase mit Zweigen oder Blumen - "sehr ärmlich und anständig", wie Martha Dodd schreibt. Sie haben dann neben der neuesten Literatur Grundfragen der Politik und wissenschaftliche Probleme diskutiert und es ist vorrangig um die Anbahnung von Verleger-Kontakten gegangen. Doch nun, kurz nach der Machtübernahme, verändert sich der Kreis durch Freunde, die ebenfalls gegen die Nazis opponieren. Ab 1934 empfangen sie diese in ihrer neuen Wohnung in der Schöneberger Woyrschstraße 16. Der Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt wird später zu den Treffen sagen: "Man hatte das Gefühl, hier waren intellektuelle Gegner Hitlers versammelt, aber es gab keine Geheimnisse."

Von links nach rechts:
Obere Reihe: Adolf Grimme, Greta Kuckhoff, Adam Kuckhoff
Untere Reihe: Karl Behrens, Bodo Schlösinger, Harro Schulze-Boysen
Zu dem Kreis zählt die Freundin aus den Tagen in Madison, Greta Lorke, inzwischen mit dem Schriftsteller Adam Kuckhoff verheiratet, der frühere preußische Kultusminister Adolf Grimme sowie Karl Behrens und Bodo Schlösinger, Schüler Mildreds vom Berliner Abendgymnasium. Arvids Hauptziel ist zunächst, die Freunde auf eine demokratische Neuord­nung Deutschlands nach dem Ende des Nationalsozialismus vorzubereiten. Mildred beweist sich wieder einmal als begnadete "Menschenjägerin".

1934 erweitert sich der Kreis der oppositionell Gesinnten um den Freundeskreis um Libertas und Harro Schulze-Boysen. Am Ende wird die Gruppe über 150 Mitglieder verschiedenster Berufsgruppen, unterschiedlicher parteipolitischer Einstellungen und Konfessionen umfassen. Acht Jahre lang verhelfen die Menschen, die hier zusammengefunden haben, Juden und politisch Verfolgten zur Flucht, vernetzen Gleichgesinnte und kämpfen gegen die Legende vom siegreichen Ende des Krieges.

Über die Arvid im Reichswirtschaftsministerium bekannt gewordenen Auf­rüstungspläne und die Kriegsvorbereitungen der Nazis kann er 1935/1936 Vertreter der amerikanischen und sowjetischen Botschaft informieren. Mildred kann dem Kreis wiederum ihre über ihre Botschaftskontakte erworbenen, nicht allgemein zugänglichen Informationen übermitteln wie die amerikanischen Kommentare zur nationalsozialistischen Politik oder Reden von Franklin D. Roosevelt sowie Kenntnisse über die Vorkommnisse im Spanischen Bürgerkrieg

Mildred, die Netzwerkerin, unterstützt die illegale Arbeit auch und vor allem, indem sie Kontakte zu Menschen anbahnt, von denen bekannt ist, dass sie gegenüber dem Naziregime  kritisch Stellung bezogen haben. 1936 hat sie bereits das Berliner Abendgymnasium verlassen und eine Unterrichtstätigkeit an der Volkshochschule Berlin aufgenommen. Auch dort akquiriert sie aktive Widerständler. 

Die Dienst- und Urlaubsreisen der Harnacks nach Norwegen, Kopenhagen, London und Paris dienen ebenfalls immer mehr auch konspirativen Zwecken. Da Mildred bei Rütten & Loening für die Übersetzung von Büchern aus dem Englischen zuständig ist, kann sie ihre Aufenthalte im Ausland glaubhaft machen. Auch verfügt sie über einen deutschen und amerikanischen Pass und ist durch ihre Verlagstätigkeit in der Lage, Materialien wie Papier und Tinte für geheime Publikationen zu bekommen, die in Deutschland rationiert sind

"Schritt für Schritt gingen Mildred und Arvid von einer Neugier am Marxismus, der von Sympathie geprägt war, zu direktem Engagement über. In Opposition zur 'Neuen Weltordnung' der Nationalsozialisten gelangten sie schließlich zum heimlichen Widerstand." So Shareen Blair Brysac in ihrem Buch.

Zur Tarnung seiner illegalen Aktivitäten wird Arvid Harnack 1937 Mitglied der NSDAP.

Inzwischen ist der amerikanische Botschafter ausgetauscht worden, und Mildred freundet sich mit der Frau des 1. Botschaftssekretärs an. Deren Sohn Donald Heath jr. erteilt Mildred Nachhilfe in amerikanischer Literatur. Der elfjährige Junge wird ihr Kurier. Zur Tarnung trägt er eine geliehene Uniform der Hitlerjugend, wenn er verschlüsselte Notizen in seinem Rucksack zwischen der Botschaft und der Widerstandsgruppe hin und her transportiert.

1930er Jahre

Im September 1940 werden die Harnacks den sowjetischen Botschaftssekretär Alexander Korotkow vor dem bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion ( "Unternehmen Barbarossa" ) warnen. Doch Josef Stalins Geheimdienstchef Lawrentij Berija nimmt diese Warnung nicht ernst und sein "Chef" ignoriert diese. Am 22. Juni 1941 bricht Deutschland den Hitler-Stalin-Pakt und greift die Sowjetunion an.

Längst hat Arvid seiner Frau ein Ticket besorgt, mit dem sie jederzeit aufs Schiff in Richtung Vereinigte Staaten kann. Sie schreibt der Mutter: "Ich muss da sein, wo der Feind steht!" Dennoch hat sie inzwischen Angst vor der Entdeckung.

Neben ihrer geschäftigen Routine & den politischen Aktivitäten treibt Mildred weiter ihre Dissertation in Amerikanistik an der Universität Gießen voran - am 30. November 1941 wird sie promoviert - und publiziert über Nathaniel Hawthorne, Thornton Wilder, Thomas Wolfe und William Faulkner. Schließlich wird sie sogar vom Wintersemester 1941/42 bis Sommersemester 1942 an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität lehren.

Im Sommer 1941 hat die sowjetische Botschaft der Gruppe um Harnack & Schulze-Boysen u.a. über das Ehepaar Schumacher ( siehe auch dieser Post ) zwei Funkgeräte zur Verfügung gestellt. Aller­dings kommt es auf Grund technischer Probleme zu keiner dauerhaften Verbindung nach Moskau. Ein Funkspruch vom August 1941 eines sowjetischen Agenten in Brüssel mit losen Verbindungen nach Berlin wird im Juli 1942 von der Auslandsaufklärung des Oberkommandos der Wehrmacht dechiffriert und liefert der Gestapo erste Namen der Widerstandsgruppe, darunter den von Harro Schulze-Boysen.

Aufgrund der Funkerei betitelt die Gestapo die aufgedeckte Widerstandsgruppe "Rote Kapelle": "Kapelle" bezeichnete im Jargon eine Gruppe von Funkern, "rot" bezieht sich auf die linke Haltung der Mitglieder.

Am 31. August 1942 greift die Gestapo erstmals zu, obwohl die Ermittlungen noch längst nicht abgeschlossen sind. Ein paar Tage später als ihr Mann wird auch Libertas Schulze -Boysen verhaftet.

Noch während die ersten Mitglieder ihres Kreises festgenommen werden, fahren die Harnacks in den Urlaub an die Kurische Nehrung nach Preila ( im heutigen Litauen ) in ein kleines Haus am Meer. Schweden ist nur noch ein paar Stunden mit dem Fischerboot entfernt. Am 7. Sep­tember  klopft die Gestapo frühmorgens an die Tür. Der Oberregierungsrat werde in Berlin gebraucht. Mildred macht das Bett und packt die Koffer. Ihr Gastgeber in Preila erzählt später Mildreds Großnichte Rebecca Donner, "dass auf dem Küchentisch eine Vase mit Blumen stand, die Arvid Mildred geschenkt hatte, und dass sie, kurz bevor sie sie packten, auf die Blumen starrte und die Tischdecke darunter glatt strich."



Man bringt die beiden geradewegs in die Folterkeller der Prinz-Albrecht-Straße. Dort werden sie getrennt. Es dauert drei Monate, bis sie sich vor Gericht wiedersehen werden.

Das Ehepaar wird zusammen mit zehn seiner Freunde am 15. Dezember 1942 vor den 2. Senat des Reichskriegsgerichtes "wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Spionage" gestellt mit Oberstkriegsgerichtsrat Manfred Roeder ( "Bluthund Hitlers" ) als Untersuchungsführer und Ankläger in Personalunion in diesem Verfahren ( der im übrigen ab 1963 im hessischen Glashütten von seiner Pension als Generalrichter gut leben konnte ). Die Verhandlungen bleiben streng geheim. 

Am 19. Dezember erfolgt schon das Urteil: Zehn von ihnen sollen hingerichtet werden, darunter Arvid Harnack. Mildred soll für sechs Jahre ins Zuchthaus kommen.

Doch Adolf Hitler will dieses Urteil nicht bestätigen und lässt den Prozess und die Verhandlungen gegen Mildred Harnack - Fish, eine amerikanische Staatsbürgerin, wiederholen. Sie muss also noch einmal vor Gericht, geschwächt von Tuberkulose & Unterernährung, längst ein Schatten ihrer selbst. Einige Zeugen meinen, sie sei auch gefoltert worden. 

In einem Fragebogen der Justizbürokratie antwortet Mildred auf deren Frage: "Was gedenken Sie nach der Entlassung zu tun?" "Weiterhin die besten deutschen Dichtungen wie diejenigen Goethes für die englischsprachige Welt übersetzen."

Ihre Schwester Harriette schaltet, nachdem sie von der Verurteilung durch die Zeitung erfahren hat, noch den Vatikan ein, um sie zu retten. Der wird über die Berliner Nuntiatur der Familie Fish dann im September 1943 ein "herzliches Beileid" aussprechen.

Mildreds Ehemann wird am 22. Dezember 1942 um 19.10 Uhr als zweiter nach Schulze-Boysen in Berlin-Plötzensee gehängt. Er kann ihr noch einen letzten Brief schreiben:

"Erinnerst Du Dich noch an Picnic Point, als wir uns verlobten? Ich sang vor Freude frühmorgens im Club. Und noch vorher an unser erstes Gespräch beim Mittagessen im Restaurant in der State Street? Dieses Gespräch wurde mein Leitstern. Wie oft haben wir in den folgenden 16 Jahren den Kopf einander auf die Schulter gelegt, des Nachts, wenn das Leben uns müde gemacht hat..." 

Mildred erhält ihr Todesurteil am 16. Januar 1943. Axel von Harnack sucht noch Richter Roeder auf, kann aber nichts für die Frau seines Cousins erreichen. Roeder warnt ihn und die Familie vor negativen Konsequenzen. 

Einen Monat später wird sie von Pfarrer Harald Poelchau ( der mit der Gruppe "Emil" kooperiert & Kontakt zum Kreis um Helmuth James Graf von Moltke hat ) in der Zelle aufgesucht, als sie an einer Übersetzung ins Englische von Goethes "Vermächtnis" sitzt. Später wird sie von einem Gefängniswärter auf Goldplomben untersucht, ihr die Haare abgeschnitten und Holzpantinen statt ihrer Schuhe angetragen sowie die Hände auf dem Rücken gefesselt. So wird sie zum Exekutionsraum gebracht, wo sie um drei Minuten vor sieben am Abend des 16. Februars durch die  Guillotine hingerichtet wird. Sie ist 40 Jahre alt. Ihre letzten Worte, so Poelchau, sollen gewesen sein:

"Und ich habe Deutschland so geliebt."

Auch ihr Körper - wie die sämtlicher weiblichen Opfer der Nazi-Willkür - wird dem Anatomieprofessor Hermann Stieve von der Humboldt-Universität übergeben, um ihn im Rahmen seiner Forschung über die Auswirkungen von Stress, der durch das Warten auf die Hinrichtung verursacht wird, auf den Menstruationszyklus zu untersuchen. 

Mildreds sterbliche Überreste gelangen anschließend in die Hände einer Freundin, die sie auf dem Zehlendorfer Friedhof begraben lässt. Mildred ist das einzige Mitglied der  Widerstandsgruppe, dessen Grabstätte bekannt ist.  

Die US-Zeitungen bringen kurz nach dem Krieg die Hinrichtung der amerikanischen Staatsbürgerin in Erfahrung und berichten darüber, während die US-Regierung weitere Informationen zu Mildreds Geschichte verschweigt. Das Counterintelligence Corps (CIC) der US-Armee untersucht die Hinrichtung allerdings als mögliches Kriegsverbrechen. Sie würdigen Mildred zwar als Kämpferin  gegen das Nazi-Regime, kommen dennoch zu dem Schluss, dass ihre Hinrichtung als rechtlich vertretbar angesehen werden könne, da sie eine Spionin und vor Gericht gestellt worden sei. Der Fall wird damit abgeschlossen. 

Ich möchte dieses Porträt nicht abschließen, ohne noch einmal Informationen über die "Rote Kapelle" anzuhängen, denn viel zu lange wurden irrige Annahmen, Lügen und Verleumdungen in deutschen Publikationen verbreitet und im Geschichtsunterricht nur tendenziös thematisiert bzw. ganz unterlassen.

"Rote Kapelle" taufte die Widerstandsgruppe, der Mildred Harnack-Fish angehörte, wie schon geschrieben, die Gestapo. Der Romanist Werner Krauss, selbst dazugehörig, hat ihr in einem heimlich während der Haft geschriebenen Buch zwei sehr treffende Namen verliehen: "Katakombengesellschaft" und "Bund der unentwegten Lebensfreude". 

Bei den Regimegegnern handelte es sich keineswegs um kommunistische Kader, sondern um ein loses Netz von Privatleuten, die aus eigenem Antrieb und mit bewundernswertem Mut gegen Hitler kämpften. Der hohe Anteil von Frauen ( 40 Prozent der Mitglieder ) und Parteilosen deutet darauf hin, dass sich die Gruppe aus Alltagszusammenhängen heraus gebildet hatte und auf jahrelang gewachsenen freundschaftlichen, sozialen und verwandtschaftlichen Beziehungen basierte. Vor allem zwei Anliegen vereinte die heterogene Gruppe aus allen Schichten der Bevölkerung: Der Abscheu vor dem nationalsozialistischen Regime und der Wunsch, den Krieg schnellstens zu beenden. Sie hatten kein festes Programm und vertraten unterschiedliche Weltanschauungen. Arbeiter und Aristokraten, Kommunisten und Sozialdemokraten fanden sich genauso wie Katholiken oder bündisch-nationale Rechte, Künstler und Ärzte. 

Durch den Begriff "Rote Kapelle" sollte die Gruppe als ein von Moskau gesteuerter Spionagering diffamiert werden. Der Agentenmythos verhinderte bis in die Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts bei deutschen Geschichtsschreibern die unangenehme Einsicht, dass man im Deutschen Reich eben nicht tatenlos bleiben musste, und die Verbrechen des Naziregimes sichtbar waren, wenn man sie nur sehen wollte.

In der DDR wurden die Widerstandskämpfer der "Roten Kapelle" hingegen von Anfang an geehrt, allerdings so, dass es in die verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft passte: Sie wurden als kommunistischer Kundschafterdienst und Vorläufer des Ministeriums für Staatssicherheit heroisiert. 

In der Bundesrepublik verteufelte man sie hingegen als ideologisch verblendete Landesverräter und Spione der Sowjetunion, deren Verurteilung rechtens gewesen sei. So hintertrieben Richter und Staatsanwälte des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, die ihre Karriere im bundesrepublikanischen Rechtsstaat fortsetzen konnten, ihre eigene Rehabilitierung. 

Und auch Reinhard Gehlen und seine „Organisation“, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst hervorging, trugen maßgeblich dazu bei, die "Rote Kapelle" im öffentlichen Bewusstsein auf eine Spionageorganisation, die mit „echtem“ Widerstand nichts zu tun gehabt habe, zu reduzieren. Der BND - Mitarbeiter Heinrich Reiser - seit 1933 bei der Gestapo und seit Ende 1950 in der "Organisation Gehlen" - arbeitete seine Gesamtdarstellung der "Roten Kapelle" zu einer veritablen Weltverschwörung aus. In seiner Beschreibung wuchs sich das Widerstandsnetz im Dritten Reich zu einer internationalen Agententruppe aus, die mit nahezu unbegrenzten Fähigkeiten den Westen bedrohte. Sein Narrativ rechtfertigte jahrelang auch, dass die lebenden Angehörige der Ermordeten geheimdienstlich überwacht wurden.

Ich kann zum Schluss wie in meinem Porträt von Elisabeth Schumacher nur noch den Historiker Jörn Rüsen zitieren: "Was wir benötigen, ist eine zukunftsweisende 'Idee' von Menschheit. Und dabei hilft uns Geschichte." Das ist mein Anliegen & meine Motivation gewesen, für dieses Porträt zu recherchieren und es zu veröffentlichen.




 

 

 

4 Kommentare:

  1. Danke für dieses wichtige Frauenportrait.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  2. Liebe Astrid,

    schwere Kost, die du uns heute servierst. Gerade deswegen lesens- und nachdenkenswert.

    Ich könnte noch viele meiner Gedanken aufschreiben, aber irgendwie werde ich müde angesichts der Zeiten.

    Danke für das erschütternde Porträt.

    Herzliche Grüße,
    Claudia

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  3. Ja liebe Astrid, das macht nachdenklich und ist wirklich schwere Kost, aber leider war es so wie es war.

    Liebe Grüße
    Kerstin und Helga

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  4. Diese Zusammenhänge waren mir gar nicht so klar. Gut, dass Du diese Geschichtsstunde hier gegeben hast. Die zukunftsweisende Idee von Menschheit brauchen wir auch sehr.
    Eine Frau wie Mildred Harnack-Fish verkörperte sie und wurde so bekämpft und in ihrem Ruf noch nachträglich beschädigt. Zum Schämen.
    Herzlich,
    Sieglinde

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