Donnerstag, 14. November 2019

Great Women # 200: Cato Bontjes van Beek


Sophie Scholl kennt jeder. Aber Cato Bontjes van Beek? Die war nur um wenige Monate älter und musste auch mit 23 Jahren wegen Hochverrats ihr Leben lassen. Sie steht heute hier bei mir für eine Reihe von 65 Menschen, darunter 20 Frauen, der "Roten Kapelle", die in jenen Jahren, die man sich heute "Vogelschiss" zu nennen traut, Widerstand geleistet haben und dafür widerwärtigst hingerichtet worden sind, und deren Namen nie in das Bewusstsein einer breiten deutschen Öffentlichkeit gedrungen sind, weil gefälschte Fakten und ideologische Verblendung im Nachkriegsdeutschland es nahezu bis heute verhindert haben. Dagegen möchte ich anschreiben, immer wieder mal.

"Es gibt keinen Tod. 
Das, was in mir ist, 
kann und wird nicht sterben."
Cato Bontjes van Beek

Cato Bontjes van Beek erblickt am 14. November 1920 - also heute vor 99 Jahren - das Licht der Welt in einem kleinen Ort, der damals gerade wegen seines Lichtes von Malerinnen und Malern besonders geschätzt worden ist, dem Künstlerdorf Fischerhude

Heinrich Breling "Der Kirchgang" (1910)
Source
Catos Großvater, der Maler Heinrich Breling, ist einer der ersten Künstler, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts dort niederlassen und den Ort entscheidend geprägt haben. Der einstige Hofmaler Ludwigs II. von Bayern ( des "Kini" ) ist 1892 mit seiner Frau und den sechs Töchtern endgültig nach Fischerhude gezogen und hat sich 1908 in der Bredenau ein Atelier bauen lassen ( das noch bis 2012 von seinen Enkeln Tim und Mietje  genutzt werden wird ). 

Catos Eltern sind die Tänzerin Olga Breling, jüngste Tochter Heinrich Brelings, und der als Sohn niederländischer Eltern in Uerdingen aufgewachsene Tänzer Jan Bontjes van Beek. Olga, eine von Sent M’Ahesa ausgebildete, expressionistische Ausdruckstänzerin ist mit ihm ab 1919 auf Tanztournee gewesen, bevor sie 1920 geheiratet haben.

Es ist also keine gewöhnliche Familie, in die das Mädchen Cato und alsbald ihre Geschwister Mietje (1922) und Tim (1923) hineingeboren werden. Sie wachsen im Kreise verwandter und befreundeter Künstler auf und deren Neugierde für Mensch und Natur, Musik und Farben werden auch ihre Weltsicht prägen. Da die Erwachsenen vor allem ihren eigenen künstlerischen Ambitionen nachgehen, erhalten Cato und ihre Geschwister erhebliche Freiräume für ihre eigene Entwicklung. 

Ihre Mutter Olga, eine beeindruckende Frau, hat vor ihrer Verheiratung Bernhard Hoetger unter anderem für das Worpsweder Grab der Paula Modersohn - Becker und für Skulpturen des Platanenhains auf der Darmstädter Mathildenhöhe Modell gestanden. Sie gibt ihre erfolgreiche Tänzerinnenkarriere auf,  nachdem sie binnen weniger Jahre Mutter von drei Kindern geworden ist und wendet sich der Malerei zu, hat sie doch Zeichnen noch als Kind vom 1910 verstorbenen Vater gelernt.

Jan, seit 1907 deutscher Staatsbürger, hat nach seinem freiwilligen Marinedienst im Ersten Weltkrieg einige Monate in Fischerhude und auf dem Barkenhoff von Heinrich Vogeler im benachbarten Worpswede verbracht. Nach seiner Heirat mit Olga macht er 1921–22 eine Ausbildung zum Töpfer und studiert am Seger Institut in Berlin, um anschließend 1922 zusammen mit Olgas Schwester, der Malerin und Bildhauerin Amelie Breling, der ältesten Tochter Heinrichs, die Fischerhuder Kunstkeramik (FKK) zu gründen, die schon bald über die Region hinaus bekannt wird. 

Zur Familie gehört auch die mit dem Witwer von Paula Modersohn - Becker, Otto Modersohn, in dritter Ehe verheiratete zweitälteste Tochter Heinrich Brelings, Louise, ebenfalls Malerin und Sängerin mit ihren Söhnen Ulrich und Christian.

Weit entfernt vom Goldene-Zwanziger-Berlin wird den Kindern, die im "Professes Hus" im Dorf aufwachsen, kein materieller Wohlstand geboten, auch nicht das - später auch in Fischerhude propagierte - NS-Familienideal mit klarer Rollenverteilung und zu Pflicht und Gehorsam erzogenen Kindern, wohl aber eine Fülle von künstlerischen und geistigen Anregungen, auch durch die Gäste, die bei den Bontjes van Beck ein und aus gehen. 

Cato wird als furchtloses, wildes, kluges und sehr lustiges Kind beschrieben. Sie unternimmt ausgedehnte Streifzüge in die Wiesen entlang der Wümme und ins Moor. Am Badeplatz an der alten Schleuse traut sie sich als einzige vom Geländer ins Wasser zu springen. Im Winter gleitet sie auf Schlittschuhen sicher über das dünne Eis der zugefrorenen Weiher. Mit ihren Geschwistern trägt sie sportliche Wettkämpfe aus: Weitsprung, Speerwerfen, Diskus und Hochsprung gehören zu ihren Disziplinen.

Bis sie neun Jahre alt ist, besucht sie die Dorfschule und ist sofort dafür,  zu Verwandten - Tante Nelly und Onkel Jan Greeve - nach Amsterdam zu gehen, um dort ein deutschsprachiges Gymnasium besuchen zu können. Für Cato, das Landkind, eine prägende Erfahrung. ( Für die Verwandten auch, denn sie haben ein braves Mädchen erwartet und keinen Wildfang. ) Sie lernt, sich durchzuboxen, und dazu noch Niederländisch. Und sie beginnt sich für die "Fremde" zu begeistern: In einem Brief an ihren Vater schildert sie den Wunsch, so ferne Ziele wie Tahiti, Mexiko oder Tibet in Zukunft zu bereisen. 

Die Familie Bontjes van Beek, Cato rechts
Als sie als Dreizehnjährige wieder nach Fischerhude zurückkehrt, sind die Eltern getrennt und die Nazis an der Macht:

Das private Desaster scheint nicht wirklich ein solches zu sein, denn Olga und Jan haben sich recht zivilisiert auseinander dividiert. Der Vater hat 1932 einen Auftrag des Architekten Fritz Höger in Berlin bekommen, um Keramiken für einen Kirchenneubau in Berlin-Wilmersdorf anzufertigen. Dort hat er dann die Innenarchitektin Rahel-Maria Weisbach kennen und lieben gelernt und nach der Scheidung  von Olga 1933 geheiratet.

Die bleibt im Familienhaus in der Bredenau in Fischerhude. Man bleibt in intensivem Kontakt und tauscht sich über die Kinder aus. 

"Ihr geht furchtbaren Zeiten entgegen", hat der Freund Heinrich Vogeler noch gewarnt, bevor er 1931 nach Russland, ins Land der Oktoberrevolution, auswandert. Und richtig: Auch im idyllischen Fischerhude prägen nun die Nationalsozialisten mit ihren Aufmärschen und Fackelzügen das Bild. Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädchen werden auch für die Kinder im Dorf lebensbestimmend.

Im Haus Bontjes van Beek herrscht hingegen ein anderer Ton. Es ist nach wie vor offen für Freunde und politische Debatten, hier wurzelt Catos Urvertrauen in die menschliche Gemeinschaft, und es bewahrt Cato und ihre Geschwister vor dem braunen Bazillus. Der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt, der als Wehrpflichtiger öfter dort zu Gast ist, angezogen von der musischen Atmosphäre, die Catos Mutter zu erwecken versteht, erinnert sich später:
"Olga Bontjes hat ihre Kinder inmitten eines totalitären Systems zur Toleranz erzogen in der Überzeugung, dass Freiheit unmittelbar sei und für alle gelte."
Cato mit Bruder Tim (1933)
Wenn Olga den Reichpropagandaminister Goebbels parodiert oder Adolf Hitler, dann ist ihr das Gelächter ihrer Kinder auf jeden Fall sicher. 

Ernster ist da eine andere Erfahrung, die des wahren Charakters des Regimes, für Cato und ihre Geschwister: Der jüdische Philosoph und Publizist Theodor Lessing, enger Freund und häufiger Gast der Familie, wird als unbeugsamer Warner vor dem Nationalsozialismus 1933 als einer der ersten bekannteren Widerständler ermordet. Mit den Kindern hat er einstmals weite Spaziergänge entlang der Wümme unternommen und ihnen die Augen für die  Natur geöffnet und sich damit einen Platz im Herzen der Kinder gesichert.

Cato erhält nach ihrer Rückkehr aus Amsterdam neben der Volksschule in vielen Fächern Privatunterricht bei dem damals jungen und modernen Pastor Günter Tidow, der sich vor allem auf Sprache und Literatur konzentriert. Cato erschließt sich einen großen Fundus an literarischen und philosophischen Kenntnissen und Einsichten. Sie entdeckt Maxim Gorki und Dostojewski, vertieft sich in fernöstliche Philosophie und Dichtung und entwickelt eigene kritische Ideen, die sie mit ihm diskutiert. Auch Gedichte und lange Aufsätze verfasst sie.

Während die Hitlerjugend ihre Versammlungen am Samstagvormittag abhält, gehen fünf Kinder, darunter die drei der Familie Bontjes van Beek, immer noch in die Schule. Der Lehrer, wohl kein strammer Nazi, hat deswegen Bedenken und macht ihnen deutlich, dass man nicht ewig gegen den Strom schwimmen könne. Cato widerspricht ihm: "Doch wir können!

1937 geht sie als Au-Pair für acht Monate nach England zu einer Familie,  zu der ihre Tante Amelie Breling Kontakt hat. Die vielseitig interessierte, unternehmenslustige 16jährige wird in der Familie freundlich auf- und überall hin mitgenommen. Sie verliebt sich in den fünf Jahre älteren Agrarstudenten John Hall, der sich wie sie für Buddhismus und religionsphilosophische Fragen interessiert. Sie lernt Englisch und Autofahren und entwickelt eine Leidenschaft fürs Fliegen, nachdem sie mit einem offenen Doppeldecker in der Luft gewesen ist. 

Im Anschluss an den Englandaufenthalt Herbst 1937 übersiedelt sie nach Berlin zu einer weiteren Schwester ihrer Mutter, Jossi Schultze-Ritter, einer Komponistin, und ihrem Ehemann, Lehrer an der Hochschule für Musik in Charlottenburg. Olga verspricht sich davon, dass man sich um Catos weitere Ausbildung kümmern werde.

Die schwankt zwischen diversen Berufswünschen hin und her: Fliegerin, Schauspielerin, Keramikerin und Globetrotterin sind ihr Traum. Eine kaufmännische Fachschule wird es dann. Quasi als Ersatz gönnt sich Cato die Erfüllung ihres Traumes vom Fliegen, schließt sich der NS-Frauensegelgruppe Berlin an und erhält vom Nationalsozialistischen Fliegercorps ein Flugbuch. Letzteres nimmt sie in Kauf  – Hauptsache fliegen! 
"Ich werde ja doch immer meine eigenen Wege gehen. Da kann mir ja doch keiner was wollen. Wenn ich nun Fliegerin werden will, so werde ich es auch. Wenn ich doch lieber Schiethustapeziererin werden will, so werde ich es auch", schreibt sie an ihre Schwester.
Auf Besuch in Fischerhude: John Hall, dritter von links, Cato ganz rechts
Ein Jahr nach dem Englandaufenthalt besucht John Hall Cato in Fischerhude, und stolz verkünden die Beiden ihre Verlobung. Der baldige Krieg wird sie trennen. Bis 1941 wird er aber Catos große Liebe bleiben.  Zu diesem Zeitpunkt hat sie eine weitere Ausbildung in Bremen angefangen, die als Grundlage für eine spätere in der Werkstatt ihres Vaters werden soll. Kunstkeramikerin ist nun ihr Ziel, als es zum Krieg kommt.
"1933 wusste man, daß ein neuer Krieg kommen würde. Er ist nun da. Wie lange er dauern wird, weiß niemand. Alle guten Kräfte und Instinkte werden wieder verlorengehen. Alle bösen Kräfte und Instinkte werden wieder aufkommen", schreibt sie am am 24. Oktober 1939 an ihre Tante Louise Modersohn-Breling.
Clara Rilke - Westhoff:
"Porträt Cato Bontjes van Beek"
(1939)
Anfang 1940 zieht sie dann zu ihrem Vater und seiner zweiten Frau. Schwester Mietje folgt bald nach und besucht eine Schule für Graphik und Buchdruck. Im April 1940 wird Cato zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, kann aber bald wegen einer Entzündung am Bein nach Berlin zurück. Dort bemerken die Schwestern, wie französische Kriegsgefangene regelmäßig mit der Berliner S-Bahn transportiert werden. Sie helfen diesen, Botschaften auszutauschen, übergeben ihnen Zigaretten, Seife, Streichhölzer oder Nähgarn.
"Beim Aussteigen konnte man es immer einrichten, sich unbeobachtet unter die Gefangenen zu mischen. Dies musste stets sehr schnell geschehen und dauerte nur ein paar Sekunden. Der Zug hielt an, man ließ einige Leute aussteigen, wartete kurz und sprang aus dem Abteil auf den Bahnsteig, wo die Gefangenen bereits vorüberzogen. Mit gespielter Eile drängelte man sich durch einen Trupp, übergab einen Zettel oder nahm blitzschnell einen Brief entgegen und hastete dem Ausgang zu", beschreibt Mietje es später.
Ihr Widerstandsgeist wächst durch viele Erlebnisse & Erfahrungen: Da sind die Briefe ihres Bruders Tim und ihrer Cousins Christian und Ulrich von der Front. In der Keramikwerkstatt des Vaters am Tegeler Weg sind junge Jüdinnen illegal untergebracht, mit denen sie sich anfreundet. Nebenan, auf dem Fabrikgelände von Schering, sieht Cato das Elend der russischen Zwangsarbeiterinnen. Was Cato besonders erschüttert, ist das Vorgehen der Nazis gegen alle, die sie in ihrer "Volksgemeinschaft" nicht haben wollen. Als sie Zeugin wird, wie die Gestapo eine jüdische Familie aus dem Haus ihres Vaters abführt, wird sie wütend:  "Ihr redet nur – und keiner tut etwas dagegen! Dann müssen wir es eben tun!"

1939
In Berlin hat sie Kontakt zu alten Freunden aus Fischerhude, schließt aber auch viele neue, die ihr politisch nahe stehen werden: 

Im Herbst 1940 lernt sie über ihren Vater Libertas Schulze-Boysen  kennen. Die beiden Frauen sind sich auf Anhieb sympathisch, und so kommt Cato in den Freundeskreis um sie & ihren Mann Harro Schulze-Boysen, Jurist und Offizier im Luftfahrtministerium. Zusammen mit Arvid Harnack, einem Oberregierungsrat, bilden diese das Zentrum einer Widerstandsgruppe, die später von den Nazis "Rote Kapelle" genannt wird. Durch Libertas Schulze-Boysen, die Fotos von der Ostfront im Reichspropagandaministerium archiviert, sieht Cato zum ersten Mal schwarz auf weiß, welche Grausamkeiten im Krieg in Russland & der Ukraine verübt werden. In der Wohnung lebt auch der Hamburger Lyriker Heinz Strelow,  in den sich Cato verliebt und mit dem sie bald in eine gemeinsame Wohnung am Kaiserdamm in Charlottenburg ziehen wird. 

Zu diesem Zeitpunkt trifft sie in Berlin auch Helmut Schmidt wieder:
"Einmal lud sie mich zu einer großen Fete in eine Alt-Berliner Wohnung am Kaiserdamm ein. Es waren wohl an die 40 Leute da, und es wurde ungeheuer abfällig, sogar hasserfüllt über die Nazis geredet. Dabei kannte mich da außer Cato keiner – ich hätte doch auch ein Agent der Gestapo sein können!", erinnert er sich später. "Ich hatte Cato … gewarnt, dass das, was sie machte, zu gefährlich sei. Aber ich war nicht energisch genug, das habe ich mir später vorgehalten."
Helmut Schmidt, der in Berlin eine Offiziersschule besucht, bricht den Kontakt zu ihr ab.  

Cato, von Libertas Schulze - Boysen zur Mitarbeit animiert, verfasst zusammen mit Harro Schulze-Boysen, John Rittmeister und Heinz Strelow im Januar 1941 das sechsseitige Flugblatt "Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk"
"Alle, die sich den Sinn für echte Werte bewahrten, sehen schaudernd, wie der deutsche Name im Zeichen des Hakenkreuzes immer mehr in Verruf gerät. In allen Ländern werden heute täglich Hunderte, oft Tausende von Menschen standrechtlich und willkürlich erschossen oder gehenkt, Menschen, denen man nichts anderes vorzuwerfen hat, als dass sie ihrem Land die Treue halten."
Der Text weist auch auf die Grausamkeiten vor allem hinter der Front im Osten hin: "Im Namen des Reiches werden die scheußlichsten Quälereien und Grausamkeiten an Zivilpersonen und Gefangenen begangen." Sie widerlegen darin auch die "Endsieg"-Propaganda und rufen zu passivem und aktivem Widerstand auf. Hunderte dieser Schriften werden per Post verschickt, etliche davon werden der Gestapo in die Hände gespielt.

Cato (Mitte) mit Strelow (rechts; 1942)
Mit Heinz Strelow verlässt Cato aber bald die Gruppe, weil ihnen der Führungsstil von Schulze-Boysen zunehmend  missfällt und sie die Aktivitäten für zu riskant halten. In jenem Frühling 1942 ahnen sie nicht, dass sich die Schlinge auch um sie zuzuziehen beginnt, hat die Gestapo doch die gemeinsame Wohnung bereits als konspirativen Versammlungsort im Visier. Widerstand leisten sie, indem weiter Flugblätter verteilen:
"Vergeblich müht sich Minister Goebbels, uns immer neuen Sand in die Augen zu streuen. . . doch niemand kann mehr leugnen, dass sich die Lage von Monat zu Monat verschlechtert", heißt es beispielsweise in einem. "Jeder Groschen, jede Hilfeleistung an das herrschende Regime, verlängert den Krieg und führt uns alle noch weiter in das Elend."
Im Sommer verbringt Cato drei schöne Wanderwochen im Böhmer- und Bayrischen Wald - eine Selbstfindungsreise quasi, denn Heinz Strelow ist noch in Hamburg verheiratet, und sie leidet zunehmend unter dieser ungeklärten Situation. Ihrer Mutter schreibt sie begeistert, dass sie wieder Gras und Erde gerochen habe und sich nach einer ruhigen Zeit sehne. Gerade zurückgekehrt von dieser Wanderung wird sie am 20. September 1942 um acht Uhr morgens zusammen mit ihrem Vater verhaftet. 

Durch einen Zufall ist die Gestapo auf Harro Schulze - Boysen aufmerksam geworden: Ein von der deutschen Abwehr abgefangener und entschlüsselter Funkspruch aus Moskau, der die Klarnamen der führenden Köpfe der Berliner Widerstandsgruppe genannt hat, wird ihr zum Verhängnis. Aber nur durch einen infamen Trick kommt man an weitere Namen:

Der Gestapomann Göpfert schickt seine Sekretärin als angebliche Leidensgenossin in die Zelle von Libertas Schulze - Boysen, die ihr Vertrauen gewinnt und von ihr die Namen der Freunde genannt bekommt, die sie warnen soll, sobald sie frei ist. Die Namen landen aber auf dem Schreibtisch der Sonderkommission, die Sekretärin erhält eine Prämie von 5000 Reichsmark, das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse und eine Gehaltserhöhung, und mehr als hundert Mitglieder des Widerstandsnetzes in Berlin werden inhaftiert.
Rückblickend äußert sich die Schauspielerin Marta Husemann über Libertas Schulze - Boysen: "Ein Mensch, den man niemals in die illegale Arbeit hätte einweihen dürfen. Keine bewusste Verräterin. Aber durch ihre maßlose Eitelkeit leicht zum Sprechen zu bringen."
Doch während der Vater nach drei Monaten wieder freigelassen wird, bleibt Cato in Haft. Für die Familie gilt nun, sie aus dem Gefängnis herauszubekommen. Niemand, selbst Cato nicht, rechnet zu Anfang mit mehr als ein paar Jahren Zuchthaus. Im Polizeigefängnis am Alexanderplatz mag sie jeder, selbst die Wärterinnen. Laut sagt sie die sechzehn Gedichte auf, die sie auswendig kann, sie pfeift und singt und macht Gymnastik, niemand hindert sie daran. Ihrer Herzlichkeit können auch die Aufseherinnen nicht widerstehen und sehen über den Schmuggel von in der Wäsche versteckten Briefen hinweg. Olga Bontjes van Beek reist häufig nach Berlin und besucht ihre Tochter, sooft sie darf, bringt ihr frische Wäsche und Lebensmittel.

Im Dezember 1942 erfolgt der Prozess gegen das Ehepaar Schulze-Boysen, das Ehepaar Harnack, und acht andere Widerständler, darunter auch Elisabeth Schumacher, über die ich hier geschrieben habe. Der Chefankläger ist einer der furchtbarsten Juristen des 3. Reichs, der Obergerichtsrat Manfred Roeder, der später damit angeben wird, dass er "dem Führer etwa 90 Köpfe zur Verfügung gestellt" und ihn von "unangebrachter Milde gegenüber Frauen"abgebracht habe. Tatsächlich bestätigt Hitler seine zehn Todesurteile umgehend und verfügt die sofortige Vollstreckung am 22. Dezember.

In der Haft






Ab 15. Januar 1943 verhandelt das Reichskriegsgericht dann über neun weitere Angeklagte, unter ihnen Cato und Heinz Strelow. In den Verhandlung lässt sich Roeder ausführlich über das  "unmoralische und dekadente Treiben" der Beiden aus. Am 18. Januar werden die Urteile verkündet: Sieben der Angeklagten werden zum Tode verurteilt, darunter Cato. "Beihilfe zur Vorbereitung des Hochverrats und zur Feindbegünstigung" ( Landesverrat ) wird ihr zur Last gelegt. Sie schreibt zum Urteil:
"Ich bin kein politischer Mensch, ich will nur eines sein, und das ist: ein Mensch. Nennt man dies nun: dem Tod ins Auge sehen. Es verpflichtet zu so vielem. Ich habe nicht um mein Leben gebettelt … da hat der Mensch gezeigt, was er ist – nicht bei der Beweisaufnahme, sondern bei seinem Schlusswort. Ich werde das nie vergessen – sollte ich leben bleiben, jedes andere Urteil ist mir egal. Nur leben will ich, leben, leben!"
Hermann Göring verwendet sich als vorletzte Instanz persönlich bei Hitler, dass die Todesstrafe in eine "angemessene Freiheitsstrafe" umgewandelt wird. Doch der lehnt am 21. Juli 1943 ab. Drei Tage später dürfen die Mutter und die Schwester Cato noch einmal besuchen:
"Und dann war die Viertelstunde mit einemmal vorbei. Die Wärterin hat sie weggeführt. Sie war verschwunden. Und plötzlich kam Cato zurück und winkte uns noch einmal zu mit einem Blick, den ich nicht vergessen kann. Ich hatte sie vorher noch gefragt: "Wie lange wirst du das hier noch schaffen?" Und da sagte sie: "Bis dahin …!’"Und zeigte auf die braune Binde an ihrem Arm, auf der die Buchstaben 'TK' standen – 'Todeskandidat'", erzählt die Schwester später darüber.
Am 5. August 1943 sterben in Plötzensee ab 19 Uhr durch das Fallbeil im Dreiminutentakt drei Männer und dreizehn Frauen, darunter als Vorletzte Cato Bontjes van Beek. Keine 23 Jahre ist sie alt. Dem sie zur Hinrichtung begleitenden Gefängnispfarrer sagt sie auf seine letzte Frage: "Ich mache einfach die Augen zu im letzten Moment. Wir brauchen uns nicht wie Diebe aus der Welt zu schleichen."

"Schade, dass ich nichts auf der Welt lasse als nur die Erinnerung an mich", hat Cato noch an ihre Mutter geschrieben. In diesem letzten Brief empfindet sie es als Gnade, "jede Nacht in meinen Träumen bei Euch in Fischerhude zu sein. (...) Ich bin sehr gefasst und habe mich völlig mit dem Schicksal ausgesöhnt".

Cato wird ins Totenbuch von Fischerhude eingetragen, obwohl das Gedenkbuch den männlichen Opfern des 2. Weltkrieges vorbehalten ist. Man verhaftet den Pfarrer auch, weil er die Totenglocken für die hingerichtete junge Frau geläutet hat, nicht nur für Gefallene...

Erfolglos bittet die Familie um die Herausgabe der Toten. Doch die ist, wie im Falle der Elisabeth Schumacher, an den Prof. Dr. Hermann Stieve gegangen, den Leiter des Anatomischen Instituts der Berliner Universität, der "zwanghaft an den physiologischen Auswirkung von Angst auf die weiblichen Fortpflanzungsorgane" interessiert ist, so die Historikerin Anne Nelson, und besonders den Fall der Cato Bontjes van Beek auch nach Kriegsende für seinen medizinischen Ruhm ausschlachtet ( Stieve stirbt 1952 hochgeehrt mit dem Nationalpreis der DDR, posthum zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ernannt ).

Nach 1945 bestimmte die Legende von der "Roten Kapelle" als einer sowjetischen Spionageorganisation noch jahrzehntelang das Geschichtsbild in West- wie Ostdeutschland:

"Rote Kapelle" taufte die Widerstandsgruppen seinerzeit die Gestapo: "Rot" sollte für die politische Gesinnung stehen, "Kapelle" bezeichnete im Jargon eine Gruppe von Funkern. Der Romanist Werner Krauss, selbst dazugehörig, hat ihr in einem heimlich während der Haft geschriebenen Buch zwei sehr treffende Namen verliehen: "Katakombengesellschaft" und "Bund der unentwegten Lebensfreude" 
Bei den Regimegegnern handelte es sich keineswegs um kommunistische Kader, sondern um ein loses Netz von Privatleuten, die aus eigenem Antrieb und mit bewundernswertem Mut gegen Hitler kämpften. Der hohe Anteil von Frauen ( 40 Prozent der "Mitglieder" ) und Parteilosen deutet darauf hin, dass sich die Gruppe aus Alltagszusammenhängen heraus gebildet hatte und auf jahrelang gewachsenen freundschaftlichen, sozialen und verwandtschaftlichen Beziehungen basierte. Vor allem zwei Anliegen vereinte die heterogene Gruppe aus allen Schichten der Bevölkerung: Der Abscheu vor dem nationalsozialistischen Regime und der Wunsch, den Krieg schnellstens zu beenden. Sie hatten kein festes Programm und vertraten unterschiedliche Weltanschauungen. Arbeiter und Aristokraten, Kommunisten und Sozialdemokraten fanden sich genauso wie Katholiken oder bündisch-nationale Rechte, Künstler und Ärzte.  
Schulze - Boysen hatte Moskau vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gewarnt. Doch Stalin schrieb an den Rand der Meldung, die ihm der Volkskommissar für Staatssicherheit am 17. Juni 1941 vorlegte: "Schicken Sie Ihren ,Informanten’ aus dem Stab der deutschen Luftwaffe zu seiner Hurenmutter zurück. Das ist kein "Informant’" sondern ein Desinformator." Fünf Tage später fiel die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion ein. 
Durch den Begriff  "Rote Kapelle" sollte die Gruppe als ein von Moskau gesteuerter Spionagering diffamiert werden. Der Agentenmythos verhinderte bis in die Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts bei deutschen Geschichtsschreibern früherer Tage die unangenehme Einsicht, dass man im Deutschen Reich eben nicht tatenlos bleiben musste, und die Verbrechen des Naziregimes sichtbar waren, wenn man sie nur sehen wollte. 
In der DDR wurden die Widerstandskämpfer der "Roten Kapelle" hingegen von Anfang an geehrt, allerdings so, dass es in die verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft passte: Sie wurden als kommunistischer Kundschafterdienst und Vorläufer des Ministeriums für Staatssicherheit heroisiert. 
In der Bundesrepublik verteufelte man sie lange, lange als ideologisch verblendete Landesverräter und Spione der Sowjetunion, deren Verurteilung rechtens gewesen sei. So hintertrieben Richter und Staatsanwälte des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, die ihre Karriere im bundesrepublikanischen Rechtsstaat fortsetzen konnten, ihre Rehabilitierung. 
Und auch Reinhard Gehlen und seine „Organisation“, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst hervorging, trugen maßgeblich dazu bei, die "Rote Kapelle" im öffentlichen Bewusstsein auf eine Spionageorganisation, die mit „echtem“ Widerstand nichts zu tun gehabt habe, zu reduzieren. Der BND - Mitarbeiter Heinrich Reiser - seit 1933 bei der Gestapo und seit Ende 1950 in der "Organisation Gehlen" - arbeitete seine Gesamtdarstellung der Roten Kapelle zu einer veritablen Weltverschwörung aus. In seiner Beschreibung wuchs sich das Widerstandsnetz im Dritten Reich zu einer internationalen Agententruppe aus, die mit nahezu unbegrenzten Fähigkeiten den Westen bedrohte. Sie gab die Rechtfertigung ab, jahrelang Angehörige der Ermordeten geheimdienstlich zu überwachen. 
Der Deutsche Bundestag hat die Urteile gegen die Mitglieder der Roten Kapelle erst spät aufgehoben -  am 8. September 2009 - und so die Toten rehabilitiert. 
Zurück zu Cato Bontjes van Beek und ihrer Familie nach dem Krieg:

Ihre Mutter prozessiert 12 Jahre lang, bis ihre Tochter 1999 endlich rehabiliert wird.  Jahrelang  wird die alte Frau hingehalten und muss beweisen, dass ihre Tochter eine eigenständig politisch denkende junge Frau gewesen ist, die ihren Mut mit dem Leben bezahlt hat. Sie selbst stirbt schon vorher, am 12.2. 1995.

Die Evangelische Kirche in Deutschland nimmt Cato Bontjes van Beek auf in den Kreis der "Evangelischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts".

Eine kleine Straße entlang der Grabsteinmauer in Fischerhude trägt ihren Namen. Auf dem Straßenschild steht auch "Hingerichtet in Berlin-Plötzensee. Ein Weg zu ihrem Gedächtnis". In Bremen-Kattenturm gibt es den Cato-Bontjes-van-Beek Platz und in Berlin-Charlottenburg ist vor ihrer letzten Wohnung ein Stolperstein verlegt.

In Achim im niedersächsischen Kreis Verden wird am 11. September 1971 das Gymnasium Achim nach Cato Bontjes van Beek umbenannt. Helmut Schmidt, damals noch Verteidigungsminister, hält aus diesem Anlass eine Ansprache.

"Wir wollen an das Feuer erinnern, nicht an die Asche" lautet der Leitspruch dieser Schule. Den habe ich mir zueigen gemacht und darum diesen Post geschrieben.




10 Kommentare:

  1. Vielen Dank für diesen großartigen Beitrag, der vor dem Vergessen dieser besonderen Menschen bewahrt!
    Herzlichst, Ev

    AntwortenLöschen
  2. Hallo Astrid,

    ich möchte mich ganz herzlich für Deinen Bericht bedanken. Er hat mich sehr ergriffen. Obwohl ich mich sehr gerade für dieses Thema interessiere, ist mir der Name dieser mutigen Frau, Cato Bontjes van Beek, noch nie vor die Linse gekommen! Herzlichen Dank, auch für die Zeit, die Du für Deine Recherche etc. aufwendest! Danke!

    LG Luitgard M.

    AntwortenLöschen
  3. Liebe Astrid, mal wieder habe ich beim Lesen deiner Frauenerinnerungen Tränen in den Augen und danke dir sehr, dass du uns diese berührenden und bewegten Geschenke machst. Auf das Feuer, auf die Erinnerung und auf großartige Frauen, die bewegen und berühren. Danke dir! LG. susanne

    AntwortenLöschen
  4. Danke für dieses Frauenportrait, das wieder eine ganz besondere Frau ins Zentrum stellt. Ich kenne ihren Namen schon lange durch ein Buch über sie (von H. Kluge), das ich in den 90igern las und später meinen heranwachsenden Töchtern ans Herz legte. Ihr Schicksal berührt immer wieder aufs Neue.
    Liebe Grüße
    Andrea

    AntwortenLöschen
  5. Welche Gedanken hat diese doch noch so junge Frau in ihren Briefen geschrieben. Welche Weitsicht und Weisheit. Und welch einen Tod musste sie erleiden. Selbst das erinnernde Nachleben wurde ihr genommen durch staatliche Willkür bis es endlich nach vielen Jahren zur Wahrheit kam.
    So etwas ist immer besonders bitter.

    Und ich kannte sie bis heute nicht! Dank Dir kann ich sie nun würdigen und erinnern.
    GlG Sieglinde

    AntwortenLöschen
  6. Nach einem Hin-und-Her-Tag habe ich mir die Zeit genommen und dein Porträt gelesen. Es geht mir sehr nahe und wieder sehr unter die Haut. Eigentlich wusste ich gar nichts Näheres über sie. So eine couragierte lebensfrohe gebildete Frau, so jung... Ich schau gleich mal nach dem Buch, das Andrea empfiehlt. Durch die Schulze-Boysen-Straße in Berlin bin ich oft gegangen, dort war die erste Kita meiner Töchter... Liebe Abendgrüße aus P. Ghislana

    AntwortenLöschen
  7. Wie gut, dass Du die Erinnerung an sie, wie in einem ihrer letzten Sätze erwähnt, aufrecht und zurecht gerückt hast. Was für ein kurzes Leben.
    Danke und liebe Grüße
    Nina

    AntwortenLöschen
  8. Wieder eine tolle Frau. Ich muss mal an ihrem Stolperstein vorbei gehen. Ist ja nicht so weit. Könnte ich mit einem Post mit meinem 12tel Blick verbinden.
    Wi mutig diese junge Frau war. Und so ungerecht, ihr tod.

    AntwortenLöschen
  9. auch mich hat diese Biographie sehr berührt
    hingerichtet weil sie ein freier Geist war..weil sie sich nicht vorschreiben lassen wollte was sie zu tun und zu denken hatte
    und weil sie das auch kund tat ..
    eine lebenslustige selbstbestimmte gescheite Frau (ja ..sowas macht gewissen Leuten Angst ..das könnte ja anstecken )
    von der "Roten Kapelle" hatte ich gehört und auch dass es eine Spionagegruppe gewesen sein soll
    an dem war es ja nun wirklich nicht .. und wie lange hat das gedauert bis sich die Erkenntnis durchsetzte

    danke für das ausführliche Portrait

    liebe Grüße
    Rosi

    AntwortenLöschen
  10. ein sehr, sehr berührender bericht, der mir tränen in die augen getrieben hat. von der roten kapelle habe ich während meines studiums gehört, aber der name cato ist mir nicht in erinnerung geblieben. danke, dass du das jetzt geändert hast.
    liebe grüße
    mano

    AntwortenLöschen

Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

Mit dem Abschicken deines Kommentars akzeptierst du, dass dieser und die personenbezogenen Daten, die mit ihm verbunden sind (z.B. User- oder Klarname, verknüpftes Profil auf Google/ Wordpress) an Google-Server übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhältst du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.