Donnerstag, 20. April 2023

Great Women #334: Alice Salomon

Ich bleib in Berlin in diesem Monat und stelle eine Frau vor, von der ich bereits im Studium erfahren habe und die mir immer wieder mal im Zusammenhang mit anderen Frauen, mit denen ich mich befasst habe, ins Blickfeld gekommen ist. Weil sie gestern vor 151 Jahren zur Welt kam, hab ich entschieden, sie im Rahmen meiner Porträtreihe vorzustellen: Alice Salomon.
"Wir alle, die wir an eine deutsche Demokratie glaubten, 
machten uns der Blindheit schuldig. 
Wir sahen nicht die Verräter in unserer Mitte."

Alice Salomon erblickt also am 19. April 1872 in Berlin das Licht der Welt. Sie ist die zweite Tochter und das vierte von acht Kindern der 34jährigen Anna Potocky-Nelken und ihres vier Jahre älteren Ehemanns Albert Salomon. Seit 1858 sind die beiden miteinander verheiratet und 
"... während der nächsten zwanzig Jahre gab es kaum eine Zeit für meine Mutter, in der nicht entweder ein Kind unterwegs oder in der Wiege war [.... ] Meine Mutter hatte für mich den Namen eines der Kinder der Queen Victoria ausgewählt, Alice, der Großherzogin von Hessen,  und zwar deshalb - wie meine Mutter mir oft sagte - weil die Herzogin eine ergebene und liebende Tochter war, ein leuchtendes Vorbild." ( Quelle "Lebenserinnerungen" )

Alices Mutter stammt aus einer in Breslau ansässigen Bankiersfamilie, die zu den angesehensten und reichsten jüdischen Familien Deutschlands, sozusagen dem "jüdischen Hochadel" seinerzeit, zu zählen ist. Für das Kind Alice ist sie die "schönste aller Frauen, mein Maßstab für Güte und Tugend". Aus der Distanz heraus betrachtet ist Anna Salomon sehr konservativ eingestellt, opfert sich völlig für die Familie auf und führt ein wenig ausgefülltes, eigenes Leben.

Der Vater ist in dritter Generation im Lederhandel erfolgreich tätig, lebensfroh und unternehmungslustig und oft auf Reisen. Seine Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft spielt für ihn keine Rolle, und als Wirtschaftsliberaler ist er wenig an sozialen Fragen interessiert. Die Familie wohnt an der Königgrätzer Straße ( heute Stresemannstraße ), Haus Nummer 28, in einem stattlichen Haus, dessen Garten für Alice das "Paradies unserer Kindheit" darstellen wird.

Das kleine Mädchen ist wissbegierig und klug, ja hochbegabt, aber auch empfind- & furchtsam und wird von ihren Eltern, bevor sie sechs Jahre alt ist, in eine kleine private, von hugenottischen Emigrant*innen gegründete Schule geschickt, die Zimmermannsche höhere Töchterschule. Wie Alice später meint, haben sich ihre Eltern aber keine weiteren Gedanken zur Schulausbildung ihrer Tochter gemacht.

Die Schulzeit umfasst sieben Jahre. Alice bleibt aber, nachdem sie eigentlich ihre Schulpflicht abgeschlossen hat, zwei weitere Jahre in den letzten Klassen, weitgehend sich selbst überlassen, weil inzwischen für höhere Mädchenschulen nun eine neunjährige Ausbildung verpflichtend gemacht worden ist.

Zuvor - da ist sie dreizehn Jahre alt - erkrankt der Vater ernsthaft an einer Brustfellentzündung, setzt aber seine Reisetätigkeit fort und verschleppt damit die Erkrankung und stirbt schließlich 1886 mit 53 Jahren.  Schon vorher hat er das von allen geliebte Haus verkauft - die Familie wird also aus dem Paradies vertrieben und muss in eine kleine Mietwohnung umziehen, lebt allerdings immer noch in gutsituierten Verhältnissen, obwohl die Mutter den neuen Lebensstil als trostlos und entbehrungsreich beklagt.

Als Alices jüngere Schwester Edith-Elfriede im Alter von 14 Jahren an Diphterie erkrankt wie schon ihr Bruder Karl 1861 ( woran er stirbt ), sieht sich die Mutter nicht mehr in der Lage, diese zu pflegen. Alice, ihre Schwester Käthe und eine Krankenschwester wechseln sich mit der Pflege ab, bis das Mädchen 1889 stirbt. Anna Salomon verliert völlig ihren Lebensmut und vermittelt den übrigen Kindern, "daß unser Geschick mit Unglück beladen sei".  Die beiden Töchter kümmern sich nach einem Zusammenbruch auch um sie, während der älteste Bruder Ernst als Mann im Hause die Frauen zu dominieren versucht. Von den Schwestern fordert er, sich in allen Angelegenheiten ihm unterzuordnen. Alice empört sich früh über die Ungerechtigkeiten, die ihr aus der Tatsache erwächst, dass sie als Frau geboren ist. Rechtlich und finanziell ist sie von ihrem Onkel, der nach dem Tod ihres Vaters als ihr Vormund eingesetzt worden ist, und von ihrer Mutter abhängig.

Tatsächlich ist das ganze Jungmädchendasein der Alice Salomon unglücklich, denn zusätzlich deprimiert die Perspektive der höheren Tochter auf eine arrangierte Ehe als einziges Lebensziel. Die junge Frau möchte lieber Lehrerin werden, was ihr versagt bleibt, denn so arm ist man noch nicht, dass eine Tochter ihren Lebensunterhalt verdienen müsse. Sie fühlt sich zu einem "Pflanzendasein" verurteilt.

Alice bildet sich, so weit möglich, am Berliner Victoria - Lyzeum fort, verbringt aber auch vier Stunden täglich mit Sticken, ausgebildet durch Kurse am Kunstgewerbemuseum.

1899

Im Alter von 21 Jahren erhält Alice eine schriftliche Einladung zur Gründerversammlung der "Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit", die am 5. Dezember 1893 im Bürgersaal des Berliner Rathauses stattfinden soll - später wird sie sagen, dass damit ihr Leben erst angefangen hat und ihre Leidenszeit zu Ende gewesen ist. Sie wird Mitglied der Vereinigung, die u.a. von der Frauenrechtlerin und Sozialreformerin Jeanette Schwerin bzw. der Lehrerin, Journalistin und im radikalen Flügel der Bürgerlichen Frauenbewegung maßgeblich engagierten Minna Cauer, ins Leben gerufen worden ist. Alice entwickelt sich zur "rechten Hand" der über zwanzig Jahre älteren Schwerin, zu der sich ein töchterliches Verhältnis entfaltet und die ihr "geistige Führerin" wird. Nach deren Tod bei einer missglückten Operation im Jahre 1899 übernimmt Alice selbst die Verantwortung für die Gruppen.

Ziel dieser Gruppen ist, freiwillige Dienste in wohltätigen Einrichtungen zu organisieren. Schwerin und ihren Mitstreiter*innen liegt eine systematische und methodische Vorgehensweisen in der Wohlfahrtspflege am Herzen. Die Idee der praktischen und theoretischen Schulung für eine ehrenamtliche Tätigkeit ist völlig neu. Dort wird u.a. vermittelt, dass Arme nicht wie Bittsteller behandelt werden sollen, sondern mit Würde.

Die Gruppen entstehen im Schnittpunkt der sozialreformerischen und feministischen Bewegung jener Zeit. Durch ihre Tätigkeit in diesen entwickelt sich bei den Frauen und Mädchen geradezu eine euphorische Aufbruchstimmung, denn sie glauben durch ihre Mithilfe die Welt verändern zu können. Daneben bilden sich bei den jungen Frauen durch ihre Tätigkeit staatsbürgerliche Interessen heraus, indem sie dafür notwendiges Wissen und Fähigkeiten erwerben, die zur aktiven Teilnahme am öffentlichen Leben führen & befähigen. Die Gruppen erweitern ihre Aktivitäten gegen Ende der 1890er Jahre darum auch in zunehmendem Maße in Richtung sozialpolitischer Lobbyarbeit. Sie fordern z.B. Beschränkungen der Kinderarbeit, unterstützen die ersten Jugendgerichte und führen den ersten Sozialdienst im Krankenhaus ein. 

Alice betreut zunächst im Rahmen ihres Engagements einen Mädchenhort. Die Mütter der Mädchen sind verwitwet oder "eheverlassen" ( Eheverlassene gibt es mehr als Geschiedene, denn eine Scheidung ist teuer ). 

Neben ihrer regelmäßigen Tätigkeit dort beginnt sie schließlich auch für die "Auskunftsstelle für Wohlfahrten" ( später "Zentrale für private Fürsorge" ) zu arbeiten. Sie besucht nun regelmäßig Familien, die bei den Gruppen oder anderen privaten Wohltätigkeitsorganisationen um Hilfe gebeten haben, überprüft deren Bedürftigkeit und verteilt Geld bzw. Lebensmittel.

Kreuzberger Arbeiterwohnung 1903

Auf die Lebensumstände der Berliner Arbeiterfamilien ist die höhere Tochter nicht vorbereitet: 

"Sie lebten in übervölkerten, luftlosen Mietwohnungen wie sie in Nord- und Ost-Berlin vorherrschend waren, mit steilen, gefährlich wackeligen Treppen, mehrere Familien teilten sich eine Toilette im Flur", erinnert sie sich später an ihren ersten Eindruck von den Arbeitervierteln. 

Alice ist schockiert. Die Erfahrung habe eine "heftige moralische Reaktion" in ihr ausgelöst, wird sie in ihren Lebenserinnerungen schreiben. Alles in ihr habe gegen diese Ungerechtigkeit und Ungleichheit rebelliert. 

Für ihre Onkel, die ihre Aufmerksamkeit trotz Alices Volljährigkeit auf die "Ledige“ konzentrieren, bedeuten die Hausbesuche der jungen Frau in den armen Bezirken der Stadt eine Provokation, da sie Armut mit "Unterwelt" gleichsetzen. Sie muss also auch in der Familie kämpfen für ihr Recht auf die neugewonnene Arbeit.

Im Rahmen ihres Engagements trifft Alice auch auf Frauen, die in der damaligen Frauenbewegung aktiv sind wie Franziska Tiburtius, Minna Cauer, Henriette Goldschmidt und Lina Morgenstern. Zu den Männern, denen sie im Rahmen der Bewegung der bürgerlichen Sozialreform begegnet, gehören auch die sogenannten "Kathedersozialisten" wie u.a. Gustav Schmoller und Max Sering, bei denen sie später studieren wird. Sie nimmt regelmäßig und meist in Begleitung von Jeanette Schwerin an den Treffen des Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) teil. Schließlich wird sie 1890 in den Vorstand des BDF gewählt. Bis 1920 wird sie dort unter anderem als stellvertretende Vorsitzende fungieren.

Letzten Endes erkämpft sich Alice - nach acht "atemlosen Jahren der Sozialarbeit ... geistig ausgehungert" - 1902 ein Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin – und das ohne Abitur! Um die Universitätsgebühren zu bezahlen, gibt sie Unterricht in Volkswirtschaft am Victoria-Lyzeum, am Pestalozzi- und Fröbelhaus sowie im Lette-Verein.

1906 promoviert sie sogar im Fach Nationalökonomie über "Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit", zwei Jahre bevor in Preußen die Universitäten grundsätzlich auch für Frauen geöffnet werden. 

Sie kommt in ihrer Doktorarbeit zu dem Schluss dass Frauen in allen Berufen aus unterschiedlichen Gründen schlechter entlohnt werden als Männer, vor allem weil ihre Ausbildung oft kürzer ist und ihr Lohn nur als zusätzlicher Verdienst zum Einkommen des Manns oder der Herkunftsfamilie gewertet wird. 

ca. 1908
Ein Weg aus dieser Sackgasse, so Alice: Gleichberechtigte berufliche Ausbildung von Mädchen und Jungen und lebenslange Berufstätigkeit von Frauen. Die Stärke der Alice Salomon liegt darin, dass sie nicht nur durch Wohltätigkeit die Lage der armen Mitmenschen mildern, sondern die Ursachen für Armut aufzeigen will.

In Berlin-Schöneberg gründet sie am 15. Oktober 1908 die reichsweit erste interkonfessionelle Soziale Frauenschule ( heute Alice Salomon Hochschule ). Bereits im Winter des Vorjahres ist sie von den Berliner Frauenvereinen und dem Berliner Lehrerinnenverein aufgefordert worden, einen Plan für die soziale Ausbildung in der Frauenschule auszuarbeiten als Gegenentwurf zum Konzept der Regierung, das den Frauenvereinen zu reaktionär ist.

Während der zweijährigen Ausbildung sollen die Frauen theoretische Kenntnisse aus der Soziologie, Psychologie, Nationalökonomie und Politik erwerben und lernen, die Ursachen der Verelendung zu erkennen und die richtigen Instrumente dagegen zu entwickeln. Zwei Wege gäbe es, so Alice, "daß man entweder einem Menschen hilft, sich in der gegebenen Umwelt einzuordnen, zu behaupten, zurecht zu finden – oder daß man seine Umwelt so umgestaltet, verändert, beeinflußt, daß er sich darin bewähren, seine Kraft entfalten kann."

Weder die traditionelle humanistische Bildung mit den antiken Fremdsprachen, noch die bisherige Mädchenbildung, sondern ein "soziales Abitur" schwebt ihr also vor.

1909 beim Treffen des "International Council of Women" (ICW) wird die mittlerweile 37jährige in Toronto zur korrespondierenden Sekretärin gewählt. Dadurch knüpft sie Kontakte mit der Frauenbewegung in vielen europäischen Ländern und in Amerika. Ihre internationale Verbundenheit führt dazu, dass sie im Ersten Weltkrieg, aber vor allem danach, nicht wie viele andere deutsche Frauen engstirnig nationalistisch denkt. Das hat aber längerfristig zur Folge, dass sie 1920 im Streit aus dem deutschen Frauenbund ausscheidet, weil sie sich "herausgenommen" hat, nach Norwegen zur ersten Nachkriegskonferenz des ICW zu reisen. Ihre Ausgrenzungserfahrungen in der deutschen Frauenbewegung sind aber auch auf antisemitische Anschauungen einiger der darin organisierten Frauen zurückzuführen. So haben diese antisemitischen Tendenzen verhindert, dass sie als Jüdin zur ersten Vorsitzenden des BDF gewählt wird, obwohl sie im August 1914 in Irland zum Christentum konvertiert ist. Alice ist davon tief getroffen.

Die neue Soziale Frauenschule

Schon wenige Jahre nach der Eröffnung der Sozialen Frauenschule reichen die im Pestalozzi-Fröbel-Haus zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten nicht mehr aus, und Alice veranlasst den Bau eines neuen Schulgebäudes, das im Oktober 1914 eröffnet wird.

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges sind 14 weitere Soziale Frauenschulen in verschiedenen Städten – unter anderem in Hamburg und München – gegründet worden, ab 1917 organisieren die sich in der von Alice Salomon gegründeten Konferenz der Sozialen Frauenschulen Deutschlands, die sie bis 1933 leiten wird. 1929 ist sie maßgeblich an der Gründung des Internationalen Komitees sozialer Schulen beteiligt.

Schließlich wendet sich Alice Salomon der weiteren Professionalisierung der Ausbildung zur Sozialen Arbeit zu:

Um eine wissenschaftliche Fortbildung von Führungskräften der Sozialarbeit und parallel Forschungsaktivitäten zu etablieren, wird 1925 von ihr die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit in Berlin initiiert, inklusive einer eigenen Abteilung für empirische Forschung. Sie selbst wird die erste Vorsitzende und Herausgeberin einer Schriften- und Forschungsreihe. Die Leitung der Sozialen Frauenschule hat sie zuvor an Dr. Charlotte Dietrich abgegeben. Die Forschungsabteilung der Akademie startet 1926 Untersuchungen zum Zustand der Familie in der damaligen Gegenwart. 

Ansonsten werden dort Jahreskurse für ausgebildete Wohlfahrtspflegerinnen, Jugendleiterinnen und Lehrerinnen, Nachmittags- und Wochenkurse für an Weiterbildung Interessierte, wissenschaftliche Kurse für Mütter angeboten.

Im Juni 1929 erfolgt die Gründung des Internationalen Komitees Sozialer Schulen (später: International Association of Schools of Social Work/IASSW) in der Sozialen Frauenschule in Berlin, deren Vorsitzende wiederum Alice ist, und zwar bis 1937.

1932, zu ihrem 60. Geburtstag, bekommt Alice Salomon vom Preußischen Staatsministerium die Silberne Staatsmedaille und die Berliner Universität verleiht ihr die Ehrendoktorwürde. Doch die öffentliche Wertschätzung findet 1933 durch die nationalsozialistische Machtübernahme ein abruptes Ende und beschert der überaus engagierten Frau den Verlust aller ihrer öffentlichen Ämter in Deutschland. Die Versuche der NS-Behörden, auch die internationalen Ämter zu annullieren, bleiben jedoch erfolglos.

Am 5. Mai 1933 wird die Akademie in einer geheimen Sitzung wegen einer drohenden Durchsuchung durch die SS von Alice aufgelöst, um der Liquidierung durch die nationalsozialistische Regierung zu entgehen und die jüdischen Mitarbeiterinnen zu schützen. 

International bleibt sie also weiterhin tätig: So leitet sie Vorstandssitzungen, Mitgliederversammlungen und Sommerkurse des Internationalen Komitees Sozialer Schulen in Genf (1933), Brüssel (1934) und in Bentveld/Holland (1935).  Sie wird dort als Vorsitzende des Internationalen Komitees Sozialer Schulen bestätigt, woraufhin die deutschen Wohlfahrtsschulen ihren Austritt erklären. Ein letztes Mal ist es Alice in London (1936) möglich, eine Sitzung des Internationalen Komitees  zu leiten. Auch ist es ihr noch gestattet, eine international vergleichende Studie über die soziale Ausbildung während mehrerer Studienaufenthalte in Genf, gefördert von der Russel Sage Foundation, durchzuführen.

Vom Oktober 1936 bis Februar 1937 kann sie auch noch Vortragsreisen durch die USA über ihre Studie "Education of Social Work. A Sociological Interpretation based on an International Survey" unternehmen. Doch am 26. Mai 1937 wird Alice in Berlin von der Gestapo einem mehrstündigen Verhör unterzogen. Ihr wird schließlich das Ultimatum gestellt, innerhalb von drei Wochen auszureisen oder im Falle einer Weigerung in ein Konzentrationslager gebracht zu werden. 

"Natürlich repräsentierte ich, obwohl ich nie einer politischen Partei angehört hatte, all das, was den Nazis missfiel. Ich war von jüdischer ‚Rasse‘; ich gehörte der kämpfenden protestantischen Kirche an; ich war eine progressive Frau, international eingestellt und daher pazifistisch," schreibt sie später.
1942
65 Jahre ist sie alt, als sie am 21. Juni über London, wo sie ein mehrseitigen Gedächtnisprotokolls über das Gestapoverhör anfertigt, nach New York emigriert. Vorher hat sie den Vorsitz des Internationalen Komitees Sozialer Schulen abgegeben.

Am 28. September erreicht sie die USA. In Deutschland werden ihr Staatsbürgerschaft sowie ihre Doktortitel aberkannt. Es ist das Jahr 1939, in dem sie noch einmal eine letzte Reise nach Europa unternimmt. Ihre Hoffnung, ihre Karriere in den USA fortzusetzen, realisiert sich nicht und ihre Ersparnisse schmelzen dahin. Immerhin erhält sie die amerikanische Staatsbürgerschaft und reflektiert ihr Leben in ihren "Lebenserinnerungen":

"Was I primarily an educator and teacher, or a social worker and reformer, a lecturer and writer, or a public-spirited citizen with feminist and pacifist tendencies?Actually, I combined all these activities into one (although I was trained for none of them)."

Leider zerschlägt sich das Buchprojekt zu ihren Lebzeiten in den Vereinigten Staaten.

Zu ihrem 70. Geburtstag erfährt sie wenigstens eine Würdigung durch ehemalige Schülerinnen im Henry Street Settlement in New York. Nach Kriegsende mag sie nicht mehr nach Deutschland zurückkehren, obwohl sie Sehnsucht verspürt. Sie fühlt sich am Ende ihrer Kräfte und traut sich die Überfahrt nicht mehr zu.

Salomon vereinsamt zunehmend, kann sie doch die Vertreibung aus Deutschland nicht verwinden, ist verbittert darüber, dass sie in den Staaten nicht die Anerkennung als international bekannte Sozialarbeiterin erfährt, und wenig gesellig. Im August 1948 ist sie in der Sommerhitze von einem Erholungsaufenthalt nach New York zurückgekehrt. Dort erliegt sie in ihrer Wohnung am 29. oder 30. August mit 76 Jahren einem Herzschlag. An ihrem Begräbnis auf dem Brooklyner Friedhof nimmt nur ein halbes Dutzend Trauergäste teil.

Ihre Wirksamkeit im Deutschland der Weimarer Republik spiegelt sich in einem Nachruf Wilhelm Polligkeits im November 1948 im Nachrichtendienst des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes allerdings nur unzureichend wieder. Polligkeit setzt den Akzent derartig stark auf den ethischen Aspekt der Tätigkeiten der Alice Salomon, was ein Bild voller sentimentaler Züge evoziert und der Pionierin auf so vielen Gebieten des Sozialen kaum gerecht zu werden vermag.

Später wird sie in ihrem Heimatland die Geltung wiedergewinnen, die sie sich zu ihren Lebzeiten durch ihr Werk erworben hat und wofür sie damals vielfältig geehrt und ausgezeichnet worden ist. Seit 1991 trägt die von ihr gegründete Schule wieder ihren Namen. Der entzogene Doktortitel wird ihr dennoch erst 1997 wieder zuerkannt. Zu ihrem 150. Jubiläum 2022 dann ehrt sie die Alice Salomon Hochschule in Berlin mit einer Festwoche. 2000 ist ein ICE nach ihr benannt worden, diverse Fachschulen in ganz Deutschland, eine Grünanlage und ein Platz in Berlin und eine Straße in Freiburg tragen heute ihren Namen.



4 Kommentare:

  1. Wie traurig, dass sie so einsam sterben musste und nun doch noch hoch geehrt wird. Das hätte sie zu Lebzeiten im Alter gut brauchen können.
    Sie hat wirklich Großes geschaffen und Neues gedacht. Wir Frauen haben ihr einiges zu verdanken. Kürzlich war ja mal wieder Equal-Pay-Day. Sie hat quasi darüber promoviert im Jahre 1906! Die Ursachen sind fast immer noch die gleichen! Wir haben 2023.
    Ein feines Portrait einer großen und internationalen Frau, Danke Astrid.

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  2. Gut, dass ihr Name und ihre Arbeit heute wieder bekannt und anerkannt sind. Ihre Tätigkeitsbereiche sind ja auch heute immer noch aktuell und relevant. Danke für das interessante Portrait!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. die Briefmarke kenne ich
    allerdings nicht die Frau dahinter
    sehr beeindruckend was sie geleistet hat
    leider auch hier der Bruch durch Krieg und Verfolgung
    aber wenigstens ist ihr Wirken nicht verloren gegangen
    und wirkt auch heute noch nach
    danke für der Portrait
    Rosi

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  4. Hallo Astrid,
    die Briefmarke kam mir bekannt vor, den Namen und die Geschichte um Alice jedoch noch nicht. Es gab schon sehr beeindruckende Frauen die einiges erreicht haben, deren Namen aber leider irgendwie in Veressnheit geriet, so jedenfalls kam es mir beim Lesen vor. Schön, dass ihr der Doktortitel im Nachhinein wieder zuerkannt wurde.
    Liebe Grüße zu Dir
    Manu

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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