Donnerstag, 17. Oktober 2024

Great Women #394: Shirley Chisholm

Das heutige Frauenporträt habe ich aus einem aktuellem Grund vorgezogen, nämlich dem, dass in den USA zur Zeit eine Frau mit dunkler Hautfarbe zur Präsidentschaftswahl in knapp drei Wochen antritt. Das ist allerdings nicht das erste Mal, dass sich eine Afroamerikanerin dieser Herausforderung stellt: Shirley Chisholm hat diesen Versuch schon vor 52 Jahren, 1972, unternommen... 
                                              
"Mein größter politischer Trumpf, 
den andere Politiker fürchten, 
ist mein Mund, 
aus dem alle möglichen Dinge kommen, 
die man aus Gründen der politischen Zweckdienlichkeit 
nicht immer erörtern sollte." 
.....
"Die emotionale, sexuelle und psychologische 
Stereotypisierung von Frauen beginnt, 
wenn der Arzt sagt: 'Es ist ein Mädchen.'"

Shirley Chisholm kommt am 30. November 1924 als Shirley Anita St. Hill in Brooklyn, New York zur Welt. Sie ist die erste Tochter von Ruby Leotta Seale, 1901 in Christ Church auf Barbados geboren und 1921 nach New York City eingewandert. Der Vater, Charles Christopher St. Hill, wiederum hat 1899 in Britisch-Guayana das Licht der Welt erblickt und ist 1923 über Antilla in der kubanischen Provinz Holguín nach New York City gelangt. Geheiratet haben sie am 29. Juni 1924. 

Mit Großmutter Emaline
(1925)

Der Vater arbeitet sowohl in einer Fabrik, die Leinensäcke herstellt, als auch als Bäckergehilfe. Ruby hat Näherin gelernt und arbeitet außer Haus als Hausangestellte, was ihr die Betreuung der kleinen Tochter wie der ihr in den nächsten Jahren nachfolgenden Schwestern  - Odessa Leotta (*1926), Muriel (*1928) und Selma (*1932) - erschwert. 

Um die Kinder nicht darunter leiden zu lassen, schickt man sie im November 1929, als Shirley fünf Jahre alt wird, sowie ihre beiden Schwestern auf der MS Vulcania nach Barbados, um bei ihrer Großmutter mütterlicherseits, Emaline Seale, auf deren kleiner Farm im Dorf Vauxhall in der Verwaltungseinheit Christ Church im Süden der Insel aufzuwachsen. Shirley besucht dort eine einklassige Dorfschule. Das Wichtigste für sie ist aber, dass die Großmutter ihr Selbstwertgefühl durch ihren Umgang mit dem Mädchen stärkt: 

"Ich lernte schon in jungen Jahren, dass ich jemand war. Ich brauchte die schwarze Revolution nicht, um mir das beizubringen."

Emaline ist Shirleys Quelle für die "Stärke, Würde und Liebe". Ihre Mutter Ruby gilt ihr als Vorbild für moralische Autorität und Überzeugung, und der Vater prägt ihr politisches Bewusstsein - er ist Anhänger des Jamaikaners Marcus Garvey, der die erste bedeutungsvolle Organisation der Afroamerikaner ins Leben gerufen hat - und wird sie später unterstützen in ihren Führungsambitionen. In den fünf Jahren auf der Dorfschule erfährt das Mädchen eine strenge, traditionelle Ausbildung, ganz nach britischem Vorbild. Später wird sie diese schulische Erziehung zusammen mit der liebevollen Zuwendung durch die Großmutter für ihren Erfolg verantwortlich machen und ihre Dankbarkeit gegenüber den Eltern ausdrücken, die ihr das ermöglicht haben. 

Beeinflusst wird Shirley auch von den Quäkern, die einstmals vor religiöser Verfolgung auch auf den westindischen Inseln Zuflucht gefunden hatten und die in ihrem religiösen Selbstverständnis die Bedeutung des menschlichen Gewissens und der Menschenwürde betonen.

1934 kehrt Shirley während der großen Depression nach New York zurück. Ab 1939 besucht sie die "Girls' High School" im Brooklyner Stadtteil Bedford-Stuyvesant, eine angesehene integrierte Schule, die Schülerinnen aus ganz Brooklyn anzieht. Nach ihrem Abschluss dort - 1942 - würde Shirley gerne studieren, scheitert zunächst aber an der finanziellen Situation ihrer Familie: Stipendienangebote des renommierten Vassar College und des Oberlin College gibt es, doch die Familie kann die Kosten für Unterkunft und Verpflegung nicht stemmen. Sie besucht deshalb das in ihrer Nähe gelegene, studiengebührenfreie "Brooklyn College", um Lehrerin zu werden. Dort macht sie sich als sehr gute Schülerin & begnadete Rednerin einen Namen und heimst im Debattierclub Preise wegen ihrer Argumentationsfähigkeit ein. Auch kommt sie erstmals mit politischen Aktivitäten in Berührung. 1946 macht sie ihren Bachelor - Abschluss im Hauptfach Soziologie und Nebenfach Spanisch - mit Auszeichnung!

Doch das Leben in den Staaten - im Vergleich zu Barbados - zeigt seine Schattenseiten: In New York begegnen Shirley Diskriminierung und Rassismus: Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts und Rassismus aufgrund ihrer Hautfarbe. Diese doppelte Benachteiligung wie auch die gesellschaftlichen Probleme in der Großstadt werden entscheidend sein für Shirleys späteres politisches Engagement. Obwohl ihr Professor Louis Warsoff sie ermutigt, eine politische Karriere in Betracht zu ziehen, winkt sie ab, da sie als schwarze Frau ein "doppeltes Handicap" habe.

Nach dem College-Abschluss findet die Zwanzigjährige zunächst keine adäquate Anstellung und verdingt sich als Hilfslehrerin am "Mt. Calvary Child Care Center" in Harlem. Neben dieser Arbeit lernt sie nachts für einen Masterabschluss in Elementarpädagogik an der New Yorker Columbia University. 

"I decided to devote my life to children. {...} Political action was hardly even a fantasy for me at the time. But I decided that if I ever had a chance, somehow I would tell the world how things were as I saw them." ( Quelle hier )

Rechts: Conrad Q. Chisholm
Zu dieser Zeit trifft sie auch auf den acht Jahre älteren Conrad Quintin Chisholm, der 1946 von Jamaika nach New York gekommen ist und später als Privatdetektiv arbeiten wird. 1949 heiraten sie mit einem großen westindischen Fest. 

Ihr Wunsch nach Kindern erfüllt sich nicht - Shirley hat zwei Fehlgeburten -, aber beruflich kommt sie voran, indem sie 1951 ihren Masterabschluss in Elementarpädagogik erwirbt und anschließend eine Stelle als Leiterin eines privaten Kindergartens in Brooklyn bekommt. 1952 wird sie Direktorin einer Kinderbetreuungseinrichtung in Manhattan. 1959 beruft die Stadt New York Shirley zur Beraterin für Kindertagesstätten. 

Zunehmend ist auch ihr Interesse an der Politik gewachsen: Sie tritt in die Demokratische Partei ein und dem "Seventeenth Assembly District Democratic Club" in Brooklyn. 1954 gründet Shirley zusammen mit dem Aktivisten Wesley "Mac" Holder die "Bedford-Stuyvesant Political League", die die stärkere Repräsentation von Afroamerikaner*innen in der US-amerikanischen Politik zum Ziel hat. Konflikte zwischen dem ansonsten recht erfolgreichen  Politiker-Duo ( sie möchte den weiblichen Mitgliedern der Gruppe mehr Einfluss auf die Entscheidungsfindung geben, Holder lehnt ab ),  führen dazu, dass sich Shirley zurückzieht, aber 1960 als Mitglied des reformorientierten "Unity Democratic Club" wieder politisch aktiv wird. 

Vereidigung 1964
Zwei Jahre später ist sie bereits im Vereinsvorstand und wiederum zwei Jahre später gelangt sie mit einem verblüffenden Sieg über den prominenten Politiker James Farmer in New Yorks 12. Wahlkreis in die "New York State Assembly", dem Landesparlament ihres Heimat-Bundesstaates. 

"Ich war eine der 'Parteiarbeiterinnen', ich habe Briefumschläge vollgestopft, Kundgebungen organisiert, Reden geschrieben und Anrufe entgegengenommen", wird sie ihren Ochsentour später beschreiben. Konfrontiert mit der alltäglichen Marginalisierung von Frauen im politischen Prozess und empört über die Vorstellung, dass weiße Politiker die Politik dominieren, die Auswirkungen auf das Leben in mehrheitlich schwarzen Vierteln hat, strebt Shirley jetzt nach politischer Macht. 

"Amerika hat die Gesetze und die materiellen Ressourcen, die es braucht, um Gerechtigkeit für alle seine Bürger zu gewährleisten. Was ihm fehlt, ist das Herz, die Menschlichkeit, die christliche Liebe, die es dafür bräuchte." ( Quelle hier )

Nachdem durch eine gerichtlich angeordnete Neugliederung der Wahlkreise in ihrem Viertel ein neuer, stark demokratischer Bezirk entstanden ist, bewirbt sich Shirley - Wahlspruch: "Fighting Shirley Chisholm – Unbought and Unbossed" - 1968 um einen Sitz im Kongress – und gewinnt ihn als erste afroamerikanische Frau im US-Parlament!

Porträt von Irving Penn
(1969)

Ihr größter Gegner um den Sitz im Repräsentantenhaus 1968 ist der Afroamerikaner James Farmer, ein Bürgerrechtsaktivist, der als Kandidat der New Yorker Liberal Party mit Unterstützung der Republikaner antritt. Im Wahlkampf gegen die damals 43jährige hat er immerzu wiederholt, die kleine gebrechliche Erzieherin sei der Aufgabe als Abgeordnete nicht gewachsen. Angeschlagen ist sie tatsächlich gesundheitlich durch einen ( gutartigen ) Tumor im Becken, der während der Wahlkampagne noch operiert werden muss. Gerüchte machen auch damals schon die Runde...

Schon in ihren ersten Tagen als Kongressabgeordnete klar, dass sie nicht schweigen wird, wenn es um ihre Überzeugungen geht. ( Ihre erste Rede im Repräsentantenhaus handelt von ihrer Ablehnung des Vietnamkrieges.) Als sie dem Landwirtschaftsausschuss zugewiesen wird, verschafft sie öffentlich ihrer Unzufriedenheit Luft, so dass sie in den Ausschuss für Veteranenangelegenheiten versetzt wird: "In meinem Bezirk gibt es viel mehr Veteranen als Bäume." Da ist sie also, die Shirley Chisholm, die sich für andere den Mund verbrennt, nicht zum Schaden dieser anderen!

Schon während ihrer Zeit in der "New York State Assembly" bringt sie unter anderem folgende Gesetzesinitiativen ein: Unterstützung für einkommensschwache Studierende, eine Arbeitslosenversicherung für Hausangestellte sowie einen Kündigungsschutz für Lehrerinnen während des Mutterschutzes. 

Nachdem sie 1970 wiedergewählt worden ist, macht sich "Fighting Shirley" erneut an die Arbeit: Mehr als 50 Gesetzesentwürfe im Rahmen ihrer sieben Legislaturperioden im Kongress werden auf sie zurückgehen, sie kämpft für Rassen- und Geschlechtergleichheit, gegen die Not der Armen und plädiert für die Beendigung angesichts der enormen Kriegsausgaben trotz der großen Armut im Land, und für strengere Waffenkontrollgesetze. Sie ist  Gründerin des "National Women’s Political Caucus", unterstützt den "Equal Rights Amendment", einen Verfassungszusatz, der Frauen in den Vereinigten Staaten gleiche Rechte zusichern soll, und die Legalisierung von Abtreibungen. Zudem beschäftigt sie nur weibliche Mitarbeiterinnen, die Hälfte von ihnen Nicht-Weiße — auch das ein Novum in der Geschichte des US-Parlaments!

Als Volkszählerin unterwegs
(1970)
© Meyer Liebowitz/The New York Times

Allerdings: In der Demokratischen Partei ist ihr Unabhängigkeitsgeist bei wichtigen Abstimmungen nicht immer wohlgelitten. Nicht einmal die Feministinnen und die Afroamerikaner, als deren vornehmste Anwältin sie sich sieht, haben in ihr eine, auf die sie stets bauen können. Nicht bei allen kommt auch gut an, dass sie öffentlich Kritik an den Washingtoner Kollegen übt, die sich gerne weigern, die Bedürfnisse ihrer Wähler zu vertreten.

1970 erklärt sie sich bereit, als Volkszählerin in Brooklyn aufzutreten, wo sie eine Reihe von Problemvierteln aufsuchen muss - eine undankbare Aufgabe! Viele andere "Zähler" haben schon aufgegeben, weil so viele arme schwarze und hispanische Einwohner sich weigern, Fragen zu beantworten oder auch nur die Tür zu öffnen. Shirley vertraut auf ihre Erfahrungen aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte. Sie wird nicht dozieren, sich nicht herablassend äußern oder gar tadeln. Sie wird denselben Charme und dieselbe Entschlossenheit an den Tag legen, die ihr als Pädagogin gegenüber Kindern und ihren Eltern schon geholfen haben.

1972 traut sie sich sogar, ins Rennen um das höchste Amt der USA zu gehen, als zweite Frau in der US-amerikanischen Geschichte überhaupt, genau 100 Jahre nach Victoria Woodhull, die erstmals als Frau das höchste Amt in den USA angestrebt hat, und als erste Afroamerikanerin. 152 Delegierte (10 % der Gesamtstimmen) kann sie von sich überzeugen, bevor sie sich aus dem Rennen zurückzieht:

"Ich bin eine Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen der Vereinigten Staaten. Dieses Statement mache ich voll Stolz und bin mir sehr bewusst, dass ich als schwarzer Mensch und Angehörige des weiblichen Geschlechts keine Chance habe, die Wahl in diesem Jahr zu gewinnen. Es ist mir dennoch ernst mit meiner Kandidatur, weil ich weiß, dass bereits meine Kandidatur das Gesicht und die Zukunft der amerikanischen Politik verändern kann  […]." ( Quelle hier )

Dass sie die innerparteilichen Wahlen verliert, liegt nicht zuletzt an finanziellen Problemen ( nur 300.000 Dollar hat sie für ihre Kampagne zur Verfügung! ) und am Fehlen einer professionellen Wahlkampf-Mannschaft: Ihre Unterstützer*innen sind nämlich Menschen mit wenig Kontakt & Erfahrung in der institutionellen Politik und wenig Wissen über deren Abläufe: Studierende, Blacks and People of Color, Frauen und Jugendliche. Das  politische Establishment der Demokraten ignoriert sie völlig. Diskriminierend auch die Tatsache, dass sie nicht an im Fernsehen übertragenen Vorwahldebatten teilnehmen darf und sich das Recht erst juristisch erzwingen muss. Dann darf sie aber nur eine Rede halten. 

Und dann ist da noch ihr Frausein: 
"Schwarze Politiker unterscheiden sich nicht von weißen Politikern. Dieses ‚Frauen-Ding‘ sitzt so tief. Falls ich es vorher noch nicht wusste, habe ich es in diesem Wahlkampf herausgefunden." Und an anderer Stelle speziell zu ihren schwarzen Kollegen: "Sie denken, ich versuche, ihnen die Macht wegzunehmen. Der schwarze Mann muss vortreten, aber das bedeutet nicht, dass die schwarze Frau zurücktreten muss.
Wie noch heute bei Frauen in der Politik, wird sich auch an ihrem Äußeren gestoßen: Einmal schreibt ein weißer Reporter der "New York Times" abschätzig: 
"Obwohl ihre Aufgewecktheit und Lebhaftigkeit einen Eindruck strahlender Weiblichkeit hinterlassen, ist sie nicht schön. Ihr Gesicht ist knochig und kantig, ihre Nase flach und breit, ihr Hals und ihre Gliedmaßen dürr. Ihre hervorstehenden Zähne sind wahrscheinlich zum Teil für ihr auffälliges Lispeln verantwortlich."

Und selbst die führenden Feministinnen Amerikas sind ob ihrer Kandidatur gespalten...

Irritierend für ihre Gegner ist auch ihre eigene Moral: Als ihr Gegenkandidat und ideologisches Gegenstück, George Wallace, Gouverneur von Alabama und einer der übelsten Rassisten des Südens (Zitat: "Rassentrennung heute, Rassentrennung morgen und Rassentrennung für immer!" ), angeschossen wird und querschnittgelähmt bleibt, besucht sie ihn im Krankenhaus – eine Aktion, die ihre Anhänger nicht nachvollziehen können:
"Er sagte: 'Was werden Ihre Leute sagen?' Ich sagte: 'Ich weiß, was sie sagen werden. Aber ich möchte nicht, dass irgendjemandem das passiert, was Ihnen passiert ist.' Er weinte und weinte", erinnert sie sich später an die Situation. Das ist "das Herz, die Menschlichkeit, die christliche Liebe", die sie für die Politik - siehe oben - gefordert hat. ( Was leben wir in finsteren Zeiten heutzutage. )
Wallace wird sich erst später zum Freund und Förderer der Schwarzen läutern. Und als Shirley zwei Jahre darauf Unterstützung braucht, um den Mindestlohn für Hausangestellte durchzusetzen, ist es Wallace, der ihr die Stimmen der Kongressabgeordneten aus dem Süden verschafft. Der letztlich nominierte Kandidat der Demokraten, Senator George McGovern aus South Dakota, unterliegt dem Amtsinhaber Richard Nixon übrigens bei dieser Wahl...

Auch im Jahr 1974 fühlen sich ihre Parteigenossen erneut brüskiert, als sie sich nach dem Rücktritt von Richard Nixon und der Etablierung seines Vizes Gerald Ford als 38. Präsident der Vereinigten Staaten für die unverzügliche Einsetzung eines neuen Vizepräsidenten stark macht. Laut des 25. Zusatzartikels der amerikanischen Verfassung muss im speziellen Fall eines solchen Rücktritts der Kandidat vom Kongress gewählt werden. Kandidat der Republikaner ist Nelson Rockefeller, der liberale Gouverneur des Staates New York, dem vorgeworfen wird, sein riesiges Vermögen verwendet zu haben, um seinen politischen Einfluss zu sichern. Shirley Chisholm besteht darauf, dass keiner der Vorwürfe bewiesen werden kann. Zu weiteren Vorwürfen, er sei unempfindlich gegenüber menschlichen Bedürfnissen, meint sie: "Alles in allem zeigt seine Amtszeit als Gouverneur meines Staates deutlich, wie viel menschliches und soziales Engagement er an den Tag gelegt hat." Und sie führt die Beiträge der Rockefeller-Familie zur schwarzen Gemeinschaft, insbesondere im Bildungsbereich, und seine Beschäftigungsgeschichte als Gouverneur für Angehörige der Minderheitengruppe, auf. 

Die inzwischen Fünfzigjährige ist und bleibt ein unabhängiger & kritischer Geist, wird aber auf der Liste des US-Meinungsforschungsinstituts Gallup in dem Jahr zu den "zehn meistbewunderten Frauen in den USA" auf Platz sechs zusammen mit der damaligen indischen Premierministerin Indira Gandhi geführt., noch vor Jacqueline Kennedy Onassis.

Eheschließung 1977
Kein Wunder, dass man versucht, ihr Privatleben zu skandalisieren: Im Februar 1977 lässt sie sich scheiden und heiratet schon im November ihren zweiten Ehemann, den ehemaligen New Yorker Abgeordneten Arthur Hardwick, mit dem sie bereits in der New York State Assembly zusammengearbeitet hat und der 1972 ihr Finanzchef während der Präsidentenkandidatur gewesen ist. Bis heute wird gemutmaßt, dass die beiden schon damals eine Beziehung miteinander gehabt haben - genaues wissen tut man allerdings nichts.

Diese Ehe wird bis zu seinem Tod im Jahr 1986 andauern. 

Hardwick betreibt einen Spirituosenhandel in Buffalo. Und weil sie sich nun dort öfter aufhält, wird ihr vorgeworfen, ihren Wahlkreis zu vernachlässigen. Als ihr Ehemann bei einem Autounfall im April 1979 schwer verletzt wird, will sie sich mehr um ihren Mann kümmern. Und da sie ohnehin mit dem Kurs der liberalen Politik im Gefolge der Reagan-Revolution unzufrieden ist, fasst sie ins Auge, den Kongress zu verlassen. 

Immer wieder ist sie der Kritik ausgesetzt, sie schlage sich zu oft auf die Seite der demokratischen Parteiführer und nicht auf die Seite liberaler, schwarzer oder feministischer Herausforderer. Als Beispiel für dieses Verhalten wird ihre Bevorzugung des amtierenden konservativen Demokraten John J. Rooney gegenüber dem liberalen Antikriegsaktivisten Allard Lowenstein bei einer Kongressvorwahl genannt oder auch ihre mangelnde Unterstützung der jungen Feministin Elizabeth Holtzman bei der ( erfolgreichen ) Herausforderung eines alten weißen & männlichen Kongressmitgliedes. Die Kritik kulminiert in einem langen Artikel, der 1978 in "The Village Voice" veröffentlicht wird und den Titel "Chisholms Kompromisse: Politik und die Kunst des Eigeninteresses" trägt. Das alles mag ebenfalls ein Faktor bei ihrer Entscheidung gewesen sein, denn sie fühlt sich missverstanden.

Im Februar 1982 gibt sie ihren Rücktritt dann bekannt und sagt, sie freue sich auf "ein privateres Leben":

"Ich war all diese Jahre so besessen von Politik und dem Wunsch, meinem Volk zu helfen, dass ich nie Zeit hatte, über mein Privatleben nachzudenken. Ich glaube, der Unfall war ein Instrument, Gottes Art, mich dazu zu bringen, mein Leben neu zu bewerten."

1988
Nachdem sie 1982 den Kongress verlassen hat, lässt sie sich in Williamsville im Bundesstaat New York, einem Vorort von Buffalo, nieder und setzt sie eine Karriere als Pädagogin fort, diesmal als Professorin am Mt. Holyoke College ( und zeitweise am Spelman College), wo sie bis 1987 die Fächer Politik und Frauenforschung unterrichtet. Das sie eine Institution gewählt hat, deren Studenten überwiegend wohlhabende Weiße sind, bezeichnet sie als Herausforderung, ihnen sowohl ihren feministischen Standpunkt als auch ihren Hintergrund und ihre Erfahrungen nahezubringen.

Sie besucht auch andere Colleges und Universitäten im ganzen Land und tritt in Talkshows auf, wo sie versucht, das Erbe der Bürgerrechte vor dem Aufstieg der Konservativen in den 1980er Jahren zu schützen, über Frauen in der Politik und internationale Frauenfragen aufzuklären und Minderheitenjugendliche zu ermutigen, am politischen Prozess teilzunehmen. Sie wird auch eine prominente Unterstützerin und Wahlkämpferin für Jesse Jacksons bei seinen beiden Präsidentschaftskandidaturen 1984 und 1988. 

Aufgrund ihres Gesundheitszustandes lehnt Shirley 1993 während der Präsidentschaft von Bill Clinton die Ernennung zur US-amerikanischen Botschafterin in Jamaika ab. Im selben Jahr wird sie in die National Women's Hall of Fame aufgenommen.

2002 wird sie in das biographische Lexikon "100 Greatest African Americans" aufgenommen. Über ihr Vermächtnis sagt Shirley Chisholm, sie wolle nicht als die erste schwarze Frau in Erinnerung bleiben, die in den Kongress gewählt worden ist oder für das Präsidentenamt kandidiert hat, sondern als eine schwarze Frau "die Mut hatte, die es wagte, eine Katalysatorin des Wandels zu sein."

2005, am Neujahrstag, stirbt Shirley Chisholm in ihrem Alterswohnsitz in Ormond Beach /Florida, wo sie 1991 hingezogen ist, im Alter von 80 Jahren, nachdem sie im Sommer zuvor eine Reihe kleiner Schlaganfälle erlitten hat. Bestattet wird sie auf dem Forest Lawn Cemetery in Buffalo. "Unbought and Unbossed" steht auf ihrem Grabstein. Kurz nach ihrem Tod läuft erstmals der Dokumentarfilm "Shirley Chisholm ’72: Unbought and Unbossed" über die US-amerikanischen Bildschirme.

Porträt im  Capitol Hill in Washington, Grabmonument in Buffalo

Dennoch gerät sie etwas in Vergessenheit, bis ihr Barack Obama 2015 posthum die "Presidential Medal of Freedom",  die höchste zivile Auszeichnung der USA, verleiht. In ihrer Heimat Brooklyn wird 2019 der Shirley Chisholm State Park in der Jamaica Bay eröffnet und am Brooklyn College das "Shirley Chisholm Project on Brooklyn Women’s Activism" eingerichtet, das Forschungsvorhaben und unterschiedliche Projekte für Frauen fördert, um so das Erbe von Shirley Chisholm zu bewahren.

"Shirley", ein biografisches Drama, geschrieben und inszeniert von John Ridley, mit Regina King in der Hauptrolle, fiktionalisiert Shirley Chisholms geschichtsträchtige politische Karriere und kommt ausgerechnet im März des Wahljahres in die Kinos und auf Netflix, in dem wieder eine schwarze Frau, diesmal Kamala Harris, kandidiert. 

"Shirley Chisholm war geradeheraus, stark, klug, pragmatisch und 'aus dem Volk und für das Volk', so wie viele der jungen Women of Color, die heute Abgeordnete sind", sagt eine ihrer ehemaligen Studentinnen, Kayla Jackson, aus dem Mt. Holyoke College.

Wir Frauen sollten uns  ihren Ausspruch "If they don’t give you a seat at the table, bring a folding chair"  ( "Wenn sie dir keinen Platz am Tisch geben, dann nimm dir einen Klappstuhl mit." ) nicht nur ins Poesiealbum schreiben, sondern beherzigen, wenn es gilt, uns an den Rand zu schieben oder wieder mal auszuschließen.

                                                                           

1 Kommentar:

  1. Liebe Astrid, ich finde es immer wieder faszinierend, wie viele Frauen es gibt, die (sogar zu meinen Lebzeiten) doch sehr in der Öffentlichkeit gestanden sind und von denen ich trotzdem noch nie etwas gehört habe. Shirley Chisholm war immerhin Kongressabgeordnete in sieben Legislaturperioden, Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen der Vereinigten Staaten, bei den "meistbewunderten Frauen in den USA" auf Platz sechs, trat in Talkshows auf - und sogar einen Film gibt es über sie... Sie wurde also nicht "totgeschwiegen", aber wäre ohne die Ehrung durch Obama dennoch fast in Vergessenheit geraten. Liegt es daran, dass Frauen (dunkler Hautfarbe, aber vielleicht ist das auch egal...) letzten Endes dann doch weniger "von sich reden" machen?
    Immerhin spricht man nun über Kamala Harris. Manches klingt allerdings so, als hätten es die politischen Gegner gestreut. Ich hoffe sehr, dass es ihr dennoch gelingt, den gefährlichen Mann mit den gelben Haaren zu besiegen. Ein kluger und zugleich humorvoller, lebenslustiger Mensch in der großen Welt-Politik anstatt eines Geiferspritzers könnte nämlich auch für Europa sehr wichtig sein.
    Alles Liebe, Traude
    https://rostrose.blogspot.com/2024/10/weltreise-2024-sw-usa-roadtrip-teil-3.html

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