Donnerstag, 12. Oktober 2023

Great Women #353: Anna Louisa Karsch

Ich bleibe bei meinen Frauenposts momentan in historischen Zeiten, denn je mehr ich mich mit Frauen von damals beschäftige, umso mehr erkenne ich, wie sehr uns unsere Prägung den Blick verstellt auf die Realitäten, die es früher für Frauen trotz allem auch gegeben hat. Da konnten sie auch 'ihren Mann stehen', wie meine letzten Frauenporträts gezeigt haben. Das hat mich fasziniert und  zum heutigen Post über Anna Louisa Karsch veranlasst.


"Ach! ohne Liebe bleibt im größten Glücke 
das Herz ein leerer Raum."

Anna Louisa Karsch kommt am 1. Dezember 1722 als Anna Luise Dürbach in einer abgelegenen Meierei "Auf dem Hammer" zwischen Züllichau und Krossen nahe der Grenze von Niederschlesien und der Mark Brandenburg auf die Welt. Ihr Vater ist der Wirt & Brauer Christian Dürbach, ihre Mutter ist eine geborene Kuchel, Försterstochter, Analphabetin und dem Mädchen wenig zugetan, da es ihr zu häßlich ist. Anna ist ihr drittes Kind.

Als der Vater stirbt, ist Anna sechs Jahre alt. Sie lebt von 1728 an mit ihrer Großmutter in der Nähe von Tirschtiegel bei Meseritz in Posen, damals dem polnisch-litauischen Staat zugehörig. Ein Großonkel, Martin Fetke, holt das Mädchen zu sich, weil er eine Haushälterin braucht. Anna besucht keine Schule. Der frühere Amtmann stillt den Bildungshunger des lernbegierigen Kindes, und so erwirbt es beim Onkel Fähigkeiten im Lesen und Schreiben ( und einige wenige Lateinkenntnisse), was ihre Mutter völlig unnötig findet, Anna Louisa aber vier glückliche Jahre beschert. 

Brief von Johann Christoph Grafe an Anna
(1766)
Ihre Mutter holt sie dann auch wieder zu sich, nachdem sie sich mit einem Jäger & Pächter namens Hempel wiederverheiratet hat und die Zehnjährige zunächst als Kinderwärterin ihres neugeborenen Halbbruders braucht. Nach einem Umzug nach Schwiebus in Niederschlesien lässt sie sie als Magd und Hirtin arbeiten. 

Ein zweites Mal hat Anna Louisa so etwas wie Bildungsglück: 

Auf der Weide lernt sie einen Jungen - Johann Christoph Grafe - kennen, der auch Rinder hütet, aber auch Bücher besitzt, die er ihr heimlich zusteckt. So kommt sie in Kontakt mit Volksbüchern, Robinsonaden, Erbauungsliteratur wie barocke und „galante" Romane sowie geistliche und weltliche Gebrauchslyrik. Bei Johann Christoph Grafe findet  die "so lange entbehrte Wollust die Bücher wieder."

Auch lernt sie die Lyrik des Barockdichters & Verfassers von Kirchenliedern Johann Franck aus der Niederlausitz kennen, die sie anregt. Im Gottesdienst ist ihr aufgegangen, wie wichtig ihr Sprechen, Singen, Dichten ist und sie fängt an, Gelegenheitsgedichte zu schreiben. Nach eigener Aussage beginnt sie am Spinnrad Kirchenlieder umzudichten. 

Als auch der Stiefvater stirbt, verheiratet die Mutter das knapp sechzehnjährige Mädchen mit dem dem älteren, wohlhabenden, aber geizigen Kaufmann & Tuchweber Michael Hiersekorn, der sie mißhandelt und schwerste Arbeit verrichten lässt. Mit ihm bekommt sie drei Kinder, von denen die beiden Söhne überleben. Neben der Haushaltsführung und der Erziehung der Kleinen versucht sie zu dichten, was sie vor ihrem Ehemann verheimlichen muss. In dieser Zeit entstehen 49 uns bekannte Texte, die aufschlussreiche Spiegelungen ihres Lebens und ihrer Umwelt sind und Einblicke in das bäuerliche Leben in der Grenzregion vermitteln. 

Nach elf Jahren jagt der Ehemann die mit dem vierten gemeinsamen Kind Hochschwangere aus dem Haus, die Söhne bleiben bei ihm. 1748 wird der dritte Sohn, Johann Christian Hiersekorn, geboren, 1749 die Ehe seiner Eltern auf die Initiative des Mannes als wahrscheinlich erste Ehe in Preußen geschieden ( das ist nun auch für die niederen Stände erlaubt ). Anna schämt sich und lässt sich von ihrer Mutter ein Jahr später in eine erneute Ehe mit dem trunksüchtigen und gewalttätigen Wanderschneider Daniel Karsch treiben. Die Familie zieht ins polnische Fraustadt, wo noch drei weitere Kinder, darunter 1754 Caroline Luise, zur Welt kommen, von denen allerdings zwei im Kindesalter sterben. Fraustadt ist stark deutsch geprägt, Deutsch ist dort auch Amtssprache. 

Es sind wieder schlimme Jahre für Anna, zudem begleitet von bitterer Armut, denn ihr Ehemann, der Trunkenbold, versäuft alles, was die Familie so an Besitztümern und Lohn erworben hat. Außerdem fehlen ihr Bücher als geistige Nahrung. 

Ein Pastor fördert allerdings Anna, indem er sie seine Predigten in Reime übertragen lässt und in dessen Gegenwart sie erste Proben ihrer Improvisationskunst gibt. Ihr Talent führt rasch zu regionalem Dichterinnenruhm vom polnischen Lissa (Leszno) bis zum preußisch-schlesischen Glogau, und sie kann durch ihre Gelegenheitsverse zu Festlichkeiten in adligen wie bürgerlichen Häusern zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Dazu zieht sie als Wander- und Bettelpoetin mit ihren Kindern an der Hand in Schlesien umher. Die Bezahlung erfolgt häufig in Naturalien, Kleidung, kleineren Spenden. "... mein Genie war jetzt gleich einem Vogel, der zum ersten Mal sich seiner Gabe zu fliegen bewusst ist", kommentiert sie später diese Zeit.

Durch Vermittlung dieses Pastors kommt Anna auch an die Werke des von Goethe geschätzten schlesischen Lyrikers Johann Christian Günther, mit dem sie viele Gemeinsamkeiten haben wird, denn auch er dichtet auf Bestellung, lebt als freiberuflicher Dichter und kämpft zeitlebens vergeblich um eine sichere Existenz. 

Sie beschäftigt sich auch mit anderen zeitgenössischen Autoren wie Christian Fürchtegott Gellert, Albrecht von Haller und studiert Friedrich Gottlob Klopstocks "Messias". Sie wird ihre Leseerfahrungen wie ihre Bildung allerdings verschweigen, um das Naive, Unbewusste ihrer Lyrikproduktion zu betonen. Mit dieser Strategie kann sie mehr Bewunderung erreichen. Das wird über die Jahre so gut gelingen, dass Anna 1762 an Johann Georg Sulzer schreiben wird: "Sagen Sie, meiner ganzen lobsprechenden freundlichen Welt, daß sie aufhören soll, mich ein Wunderwerk zu nennen."

Glogau im 17. Jahrhundert
Ihr Verdienst und die Unterstützung durch den befreundeten Pfarrer & andere Mitbürger ermöglichen der Familie, 1755 ins niederschlesische Groß- Glogau zu übersiedeln. Dort gibt es immerhin eine Buchhandlung. Gönner aus Offizierskreisen wiederum sorgen dafür, dass Annas trunksüchtiger Ehemann schließlich 1760 unter die Soldaten gesteckt wird. Da hat ihr "Sklavenstand" im Alter von 37 Jahren endlich ein Ende.

Während des Siebenjährigen Krieges verfasst die Dichterin Lobeshymnen auf Friedrich II. und die preußischen Siege, wodurch sie überregional bekannt wird. Die gedruckten Flugschriften dieser Kriegslyrik verbreiten sich rasch, zum Beispiel die Ode "Freudige Empfindungen redlicher Herzen",  und ihr Ruf als Dichterin eilt ihr bis nach Berlin voraus. Offiziere und Feldgeistliche lassen sich in ihrer ärmlichen Behausung blicken - Anna bedient sich gerne des Klischees der armen Schneidersfrau, die mit Körbchen am Arm um Almosen betteln muss - um von ihr Verse zu erhalten. Hohe Militärs und Damen aus der höchsten Berliner Gesellschaft suchen gar den Briefkontakt mit ihr. Moses Mendelsohn lobt sie begeistert und nennt sie ein "ungemeines Genie". Und Sulzer kündigt sie den Berlinern so an:

"Es hat sich hier im Bereiche des Geschmacks eine wunderbare Erscheinung gezeigt: eine
große Dichterin, die blos die Natur gebildet hat und die, nur von den Musen gelehrt, große Dinge verspricht. […] Sie besitzt einen ausnehmenden Geist, eine sehr schnelle und sehr glückliche Vorstellungskraft. […] Ich zweifle sehr, ob jemals ein Mensch die Sprache und den Reim so sehr in seiner Gewalt gehabt hat, als diese Frau. Sie setzt sich in einer großen Gesellschaft unter dem Geschwätz von zwölf und mehr Personen hin, schreibt Lieder und Oden, deren sich kein Dichter zu schämen hätte […] darunter viele sind, welche in der griechischen Anthologie eine gute Figur machen würden."


Im Januar 1761 nimmt ihr Gönner Baron Rudolf Gotthard von Kottwitz sie und ihre einzig verbliebene zehnjährige Tochter Caroline Luise auf ihr Verlangen hin mit auf seine Reise in die Hauptstadt. Der Sohn Christian wird derweil mit Kottwitz‘ Hilfe auf dessen Familiengut in Boyadel untergebracht, um ihn dort zum Inspektionsgehilfen ausbilden zu lassen. Annas Realitätssinn sagt ihr, sie müsse die Situation ausnutzen, denn in Berlin bieten sich mehr Verdienstmöglichkeiten. Ihre Strategie wird aufgehen. 

Sie wird triumphal empfangen: "Sobald man hörte, die Karschin sei angekommen, so eiferte auch alles, was Geschmack haben wollte, um die Wette, dieses Wunder von Frau zu sehen", wird sich die Tochter, die einmal unter ihren Ehenamen selbst als Schriftstellerin in Erscheinung treten wird, später erinnern. "Wo sie ist, fallen Verse aus ihr heraus", schreibt ein Zeitgenosse über die spektakuläre Erscheinung der Anna Louisa Karsch.

Das dichterische Naturtalent wird neugierig beäugt und mit Gunstbezeugungen in Adels- und Bürgerhäusern überschüttet. Dabei entspricht sie so gar nicht dem weiblichen Schönheitsideal des damaligen Jahrhunderts. Johann Caspar Lavater wird sie in seiner "Physiognomik" mit den Worten vorstellen "Lieber keine Verse machen, als so aussehen!" Im Text relativiert er dann und charakterisiert sie als "geistreich", kann aber nicht lassen, ihre "männliche Stirn", das "Seherauge", die "hässliche Nase", das "beinerne Kinn" zu betonen. Abschließend meint er: "... vielleicht hätte sie, die Karschinn, noch mehr Philosophinn, als Dichterinn werden können."

"Die Karschin" wird alsbald vom Berliner Ästhetikprofessor Johann Georg Sulzer, dem Philosophen und Dichter Karl Wilhelm Ramler, von Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing gefördert. Auch der Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim, aus Halberstadt zu Besuch in Berlin,  begrüßt und bewundert hingerissen die "Wunderfrau" und nennt sie die deutsche Sappho ( und sich selbst ihren Phaon ). Durch Lektüre antiker Autoren in Übersetzungen und zeitgenössischer Literatur erweitert sie ihren Bildungshorizont.

"Karsch stößt in das Herz der geistigen Elite Preußens vor", meint Verena Harzer an dieser Stelle

Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Im September 1761 reist sie auf dessen Einladung zu Gleim nach Halberstadt. Die Tochter Caroline ist zuvor in ein Berliner Pensionat aufgenommen worden. Gleim, Domsekretär in Halberstadt, führt sie seinen Domherren vor und sie wird dreimal zur Dichterin gekrönt. Die Wissenschaftliche Gesellschaft der Helmstedter Universität ernennt sie zu ihrem Ehrenmitglied. Die sich entwickelnde Liebe zu ihm weist Gleim als Aufdringlichkeit zurück. Sie werden aber lebenslang befreundet und in Briefkontakt bleiben. Über eintausendfünfhundert Briefe sind erhalten. Auch eine Reihe von Liebesgedichten sind Gleim zuzuordnen, darunter dieses:

"Sing ich Lieder für der Liebe Kenner:
Dann denk ich den zärtlichsten der Männer,
Den ich immer wünschte, nie erhielt;
Keine Gattin küßte je getreuer,
Als ich in der Sappho sanftem Feuer
Lippen küßte, die ich nie gefühlt."

Ab Oktober 1761 hält sich Anna in Magdeburg bei ihrem Gönner, dem kunstaffinen Kaufmann Heinrich Wilhelm Bachmann, auf. Von dort knüpft sie Beziehungen zum Hof der preußischen Königin Elisabeth Christine, die vor den russischen Armeen ebendahin geflohen ist. Sie befreundet sich u. a. mit Herzog Ferdinand von Braunschweig- Lüneburg und dem regierenden Reichsgrafen Heinrich Ernst zu Stolberg- Wernigerode und für die Prinzessin Amalie, die jüngste Schwester Friedrichs des Großen, schreibt sie das Libretto zu einer Passionskantate, die von dieser komponiert worden ist, und unterhält einen regen Briefaustausch mit dem Herzog und dem Reichsgrafen. Über diese Zeit schreibt Anna:

"mein Glük Steigt bis zum hohen Gipfel herran […] ich genieße Einer uneingeschränkten freyheit, meine Mahlzeitten sind auff dem Tisch des Comendanten zubereutet, ich kenne die sorgen des Lebens nicht mehr."

Gleim sammelt ihre Gedichte für eine Pränumerationsausgabe. Das Bekanntwerden dieses Vorhabens sorgt für erheblichen Wirbel. 

"Karsch ist die Erste, die, modern gesagt, international gehypt wurde von den deutschen Dichtern", meint Ute Pott an dieser Stelle.  

1764 kommen die "Auserlesenen Gedichte" der Karschin, von Gleim und Sulzer verlegt, heraus und sind ein großer Erfolg, erfahren aber auch Kritik. Die Ausgabe bringt ihr immerhin einen Ertrag von über 2000 Talern ein. Das Geld legen Freunde, darunter der Magdeburger Bachmann, bei der Berliner Seidenfabrik "Favreau und Stumpf" für sie an und sichern mit vierteljährlich 25 Taler Revenuen die Grundversorgung der Dichterin. 

Als noch verheiratete Frau hat sie nach damaliger Gesetzeslage nämlich nicht das Recht, über ihr eigenes Einkommen eigenhändig zu verfügen. Die Zinsen sind allerdings nicht so üppig, so dass sie neben den bezahlten Gelegenheitsgedichten weiterhin auf die Wohltätigkeit ihrer reichen Freunde angewiesen ist. Schließlich sorgt sie ein Leben lang auch für ihre bei ihr lebenden Verwandten.

1772 wird mit "Neue Gedichte" ein weiterer Gedichtband folgen, an dessen Publikation Anna Louisa Karsch mitgewirkt hat.

Doch zurück zum Oktober 1762: Da ist die Karschin nach Berlin zurückgekehrt und ihr Sturz vom höchsten Glück in Magdeburg ist dort umso tiefer. Ihr wohl größtes Problem ist, dass sie nur in recht elenden, öfter wechselnden Quartieren unterkommt, und die ständige Geldentwertung. Sie kann allerdings ihren Halbbruder Ernst Wilhelm Hempel bei sich aufnehmen, damit der ihren Haushalt besorgt. Dafür kommt sie für seinen Unterhalt auf.

Im August 1763 hat sie endlich die erhoffte Audienz beim Preußenkönig Friedrich dem Großen. Dort werden rasch zwei Gedichte von ihr ins Französische übersetzt. Der König verspricht ihr ein Haus und eine jährliche Pension aus der Staatskasse. Auf die versprochene Hilfe wartet sie allerdings vergeblich. 1773 – also zehn Jahre später - erhält sie vom Hof ein Gnadengeschenk von zwei Talern. Sie schreibt statt eines Dankbriefes:

Audienz bei Friedrich dem Großen
"Zwey Taler gibt kein großer König,
Ein solch Geschenk vergrößert nicht das Glück,
Nein, es erniedrigt mich ein wenig,
Drum geb ich es zurück"

Sozialen Stolz kann sie sich nicht leisten und gibt nicht auf. 1783, weitere zehn Jahre später, bekommt sie dann drei Taler vom Hof. Sie bestätigt den Empfang mit den Worten :

"Seine Majestät befahlen
Mir, anstatt ein Haus zu baun
[…]
Aber für drei Taler kann
Zu Berlin kein Hobelmann
Mir mein letztes Haus erbauen".

Schließlich wird ihr der preußische König Friedrich Wilhelm II. ein Haus am Haack'schen Markt bauen lassen ( zerstört im 2. Weltkrieg und nicht wieder aufgebaut ). 1789 zieht sie ein. Das Haus ist für sie eine neue Hoffnung. Sie lädt viele Bekannte und Freunde ein, behält aber ihre alte Gewohnheit bei: "Noch immer blieb sie halbe Tage an den Schreibtisch gefesselt, und ging die übrige Zeit in die kleinen Zirkel ihrer liebsten Freunde." Noch drei Tage vor ihrem Tod wird sie dichten.

Wichtig für sie sind aber auch ihre umfangreichen Korrespondenzen mit literarischen Zeitgenossen und adligen Vertretern, nicht nur in Berlin. Zu den bedeutsamsten Briefpartnern gehört auch Johann Wolfgang von Goethe. Er schreibt ihr: 

"Schicken Sie mir doch auch manchmal was aus dem Stegreife; mir ist alles lieb und wert, was treu und stark aus dem Herzen kommt, mag’s übrigens aussehen wie ein Igel oder wie ein Amor. Geschrieben habe ich allerlei, gewissermaßen wenig und im Grunde nichts. Wir schöpfen den Schaum von dem großen Strome der Menschheit mit unseren Kielen und bilden uns ein, wenigstens schwimmende Inseln gefangen zu haben […]"

Ob er sie auch besucht hat, ist umstritten. Bekannt ist, dass er im Mai 1778 im Gefolge seines Herzogs Karl August in Berlin ist und dort Daniel Chodowiecki besucht, der ein guter, unterstützender Freund Annas ist. Dieser hatte Goethes "Die Leiden des jungen Werther" illustriert. Anna bezeugt die Aufwartung in einem Brief an Gleim.

Karl Christian Kehrer "Anna Louise Karsch"
(1791)

Die letzte Lebenszeit der Dichterin bleibt geprägt von Sorgen und Nöten. An ihren insgesamt doch ärmlicheren Lebensverhältnissen ändert sich auch im eigenen Haus prinzipiell nicht viel. Ihre Kinder - ihr Sohn Johann Christian ist seit 1763 wieder bei ihr sowie ihre Tochter Caroline von Klencke nach gescheiterter 2. Ehe - und zwei Enkelkinder - darunter die später ebenfalls unter dem Namen Helmina von Chézy als Schriftstellerin bekannte -, leben bei ihr und sie muss sie unterstützen. 

Caroline führt der Mutter währenddessen den Haushalt. Ihr Verhältnis ist nicht einfach, für mich auch nachzuvollziehen, hat doch die Dichterin ihrer Tochter das zugemutet, was ihr selbst einstens angetan worden ist: Im Alter von 15 Jahren nötigt sie die Tochter ihren eigenen Halbbruder Ernst Wilhelm, 18 Jahre älter als das Mädchen, der im gemeinsamen Haushalt lebt, zu ehelichen. Der ungebildete Mann, ein grober Klotz ohne Manieren, bringt Caroline ein Leben unter härtestem Druck, größten Entbehrungen und insgesamt vier Kinder ein ( von denen drei dann schon im Kindesalter sterben ), bis die sich scheiden lässt. 

Obwohl sie bereits schwer erkrankt ist, reist Anna noch im Sommer 1791 nach Frankfurt an der Oder, um die Versorgung ihres 21jährigen Enkels Heinrich Wilhelm Hempel, Sohn von Caroline, sicherzustellen, der dort Jura studiert. Im Oktober ist sie wieder zurück. Zu ihrem eigenen Nachruhm schreibt sie:

"Wenn Du voll Zärtlichkeit bey meiner Asche 
weinst
Noch ehe sich die Würmer an mir satt 
gefressen,
Dann, Frau, hat schon die Welt mich und 
mein Buch vergessen."

Am 12. Oktober 1791, also heute vor 232 Jahren, stirbt Anna mit 69 Jahren. Nach ihrem Tod teilt "die Karschin" das Schicksal vieler Künstlerinnen: Ihr Nachlass wird schlecht verwaltet, ihr Werk allmählich vergessen.

Daniel Chodowiecki "Vignette zu der Elegie
auf Barez' Tod von Anna Luise Karschin"

Hannelore Schlaffer bringt es auf den Punkt, was die literarische Stellung der Dichterin anbelangt: 

"Sie war eine Figur zwischen den Zeiten und zog daraus ihren Ruhm. Die Verblüffung, die sie hervorrief, entstand aus der Verwirrung der Maßstäbe, die Dichter und Gesellschaft hatten." 

Als Anna Louisa Karsch berühmt wird, befindet sich die deutsche Literatur also in einer Aufbruchphase. 

"Es ist eine Phase, in der Literatur sich neu organisiert. Man sucht neue Konzepte, weg vom Barock.

Sie bringt da "ihre natürliche Art der Dichtung" ein. Zwischen den Forderungen, nach Tradition und Form zu dichten oder der Unmittelbarkeit ihres Talents freien Lauf zu lassen, kann sich die Dichterin schlecht entscheiden. Die Fesseln der Gelehrsamkeit durchbricht sie dennoch und schafft sich Freiräume für wahre Begeisterung und persönliche Sympathie. 

Immerhin ist sie auch heutzutage mehrfach zu würdigen: Einmal als - neben Sophie von La Roche  ( siehe auch dieser Post ) - erste Schriftstellerin Deutschlands, die von ihrer Poesie gelebt hat, zum anderen als erste Dichterin des 4. Standes, die als Autodidaktin dem ländlichen Proletariat entstammt. "Als Übergangssängerin formuliert die Karschin sowohl Adelskritik am Hof als auch das Elend der Bauern, die dem Fortschrittsglauben auf bessere Zeiten misstrauen", meint Hannelore Scholz-Lübbering an dieser Stelle.

Zudem zählt  sie zu den bedeutendsten Briefschreiberinnen des 18. Jahrhunderts. Ihre Briefe zeichnen sich durch Vielfalt aus und durch den gelungenen Ausdruck ihrer Gefühle. Auch ihre sprachlichen Fähigkeiten sprechen mich persönlich sehr an.

"Oh, mir entwischt nichts, was die Menschen fühlen" wird ein 1981 von Gerhard Wolf herausgegebener Band mit mit Gedichten, Briefen und Zeugnissen von Zeitgenossen heißen. Der Briefwechsel zwischen ihr  & Gleim wird 1996 veröffentlicht. Inzwischen ist sie wieder aus der Vergessenheit aufgetaucht. In Berlin ist nun auch eine Straße nach ihr benannt.





Wir sehen uns heute am Spätnachmittag bei "12 von 12"

7 Kommentare:

  1. Liebe Astrid,
    die bewegenden Lebensstationen dieser bedeutsamen Schriftstellerin und Dichterin sind schwere Kost für mich. Da musste ich beim Lesen ein paar mal tief durchatmen, so betroffen macht mich dieses Leben.
    Verstörend auch die Tatsache, was Mütter ihren Kindern antun können - und so lebt es fort, Härte wird weitergegeben. Nicht immer können Menschen das sein lassen, was ihnen selbst angetan wurde ...
    Was für ein Portrait, danke für Deine intensive Auseinandersetzung!
    Liebe Grüße, C Stern

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  2. So beeindruckend, das Leben der Karschin! Von dem versklavten Mädchen hin zur eigenständigen Dichterin in höchsten Kreisen. Kaum vorzustellen ist das. Aber die Erklärung von Hannelore Schlaffer mit der "Figur zwischen den Zeiten" leuchtet mir voll ein. Und wie sie diese Figur ausgestaltet hat!
    Ich kannte sie bisher überhaupt nicht und danke Dir fürs Kennenlernen durch Deine intensive Recherche. Wie auf ihrem Grabstein steht (von ihr selbst geschrieben?): Kennst Du Wanderer sie nicht, so lerne sie kennen...
    Herzlichste Grüße
    Sieglinde

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  3. Mir war Anna Louisa Karsch auch kein Begriff. Spannend, wie sie ihren schwierigen Weg gegangen ist. Dazu gehörte bestimmt ein harter Wille und eine große Liebe zur Literatur. Schade, dass sie aus ihrem eigenen Schicksal so wenig gelernt hat und es der Tochter auch aufgedrückt hat. Danke, dass du wieder einer fast vergessenen Frau wieder Raum geschenkt hast.
    Alles Gute und viel Erfolg in der Reha!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Ein Leben in Armut und Sklaverei bringt trotzdem eine Dichterin und Schöngeistin hervor.
    Liebe Grüße
    Nina

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  5. ich hatte hier einen langen kommentar geschrieben. wo ist er bloß beblieben??

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  6. nochmal in kürze:
    ich kannte nicht mal ihren namen, obwohl ich doch oft in halberstadt und magdeburg war. das sagt mir jetzt aber, dass ich endlich einmal das gleim-haus in halberstadt besuchen muss.
    liebe grüße
    mano

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  7. Ich kannte sie auch nicht und habe noch nie von ihr gehört. Erstaunlich, was sie geleistet hat und trotzdem traurig, dass die Frauen so von den Männern abhängig waren. Und was Mütter ihren Kindern antun können.... Danke Dir für deinen wieder sehr lesenswerten Beitrag.
    LG Agnes

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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