Das möchte ich gerne dem türkischen Volk momentan ins Poesiealbum schreiben. Nützt aber nichts, denn - zumindest die, die laut tönen - wollen es ja nicht wahrhaben. Für sie ist der Herr E. der vom ganzen Volk demokratisch gewählte Präsident, wie sie nicht müde werden zu behaupten.
Zur Erinnerung:
Bei der Wahl im Juni 2015 hatte die AKP mit einem Wahlergebnis von 40,9 Prozent die absolute Mehrheit verloren. Da ihr das Ergebnis jedoch nicht passte, bildete sie keine Regierungskoalition, sondern schrieb die Neuwahlen aus. Bei dieser am 1. November 2015 kam die AKP dann auf 49,5 Prozent ( darunter 59,7 Prozent der in der Bundesrepublik lebenden Türken ). 50,5 Prozent der Türken haben die Partei des Herrn E. also nicht gewählt. Demokratie bedeutet, dass auch die Rechte der "Minderheit" im Staatswesen geschützt werden, auch von denjenigen, die die meisten Sitze im Parlament haben. Aber das muss Herr E. sich ja nicht von uns sagen lassen, denn wir können ja vom türkischen Volk lernen, wie echte Demokratie geht.
Offensichtlich hält der "vom ganzen Volk gewählte Präsident" davon aber nicht allzu viel. Sein letzter Streich vor einer Woche: Gegen 103 Wissenschaftler der Technischen Universität Yildiz wurde Haftbefehl erlassen, 73 tatsächlich festgesetzt, dazu landesweit 31 weitere Akademiker. 150 verhaftete Journalisten, 2.386 Richter und Staatsanwälte sind schon im Gefängnis.
Allein 2099 Schulen, Universitäten & Studentenheime wurden geschlossen, 6337 Akademiker entlassen. Seit dem Putschversuch wurden 41.667 Lehrer aus ihrem Beruf vertrieben ( allein in der Kurdenmetropole Dyarbakir sind es 4500 ).
So geht man mit Eliten um, da können die Populisten der westlichen Welt noch viel lernen! Bildung ist sowieso überbewertet, und die Kinder einer anderen Ethnie im eigenen Staatswesen stellen sowieso nur Unsinn an, wenn sie zu viel wissen...
Aber es trifft auch andere Eliten: Offiziere zum Beispiel. In der vergangenen Woche wurden wieder 310 unehrenhaft entlassen, 4719 insgesamt seit dem Putschversuch, allein ein Drittel der Generäle & Admiräle & die Hälfte der Kampfpiloten. Wenn wundert's noch, dass inzwischen bei der Allianz stationierte Angehörige der türkischen Armee in den jeweiligen Einsatzländern Asyl beantragt haben. ( Und die Reaktion darauf kam auch prompt am Sonntag: Bei den Betroffenen handle es sich um Soldaten, denen Terrorismus vorgeworfen werde, sagte der Herr E. Sie seien an der Vorbereitung des Putsches im Sommer beteiligt gewesen. Die Nato könne diesen Anträgen nicht stattgeben. )
Und dann noch: Mehr als 50.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes sind per Dekret entlassen worden, am Dienstag kamen weitere 15.726, darunter wieder viele Sicherheitskräfte, hinzu und 375 Vereine, 18 Stiftungen und ein Gesundheitszentrum wurden geschlossen. Die entlassenen Staatsbediensteten werden in Anhängen zu dem neuen Dekret erneut namentlich benannt und damit öffentlich an den Pranger gestellt.
Sorge um zu große "Sicherheitslücken" im türkischen Staatswesen braucht man sich nicht zu machen: Schon kurz nach dem Putsch hatte Herr E. die massenhafte Aufrüstung der Regierungspartei AKP und die Umwandlung derselben in bewaffnete Streitkräfte angekündigt. Und jeder Dorfvorsteher wurde angehalten jegliche subversiven Aktivität zu melden - Blockwart, ich hör dir trapsen.
Als Reaktion auf den gescheiterten Putsch hat die türkische Regierung nach eigenen Angaben gegen rund 82.000 Menschen ermittelt. Mehr als 35.000 Menschen seien in Untersuchungshaft genommen worden, nach knapp 4000 Verdächtigen wird noch gesucht. Fast 200 Medienhäuser wurden geschlossen - von Meinungsfreiheit kann keine Rede mehr sein. Nachdem Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP festgenommen worden sind, hat der Herr E. auch einen Haftbefehl gegen den Chef der syrischen (!) Kurdenpartei PYD, Salih Muslim, ausstellen lassen.
Herr E. hat aber nicht nur mit den Verhaftungen, Entlassungen & Schließungen die "Demokratie neu definiert". Ebenso freizügig ist er, was die vertraglich festgelegten Grenzen seines Landes anbelangt: In Sendungen des Staatsfernsehens wird Kartenmaterial benutzt, das deutlich macht, welche Gebiete er als seinem Land zugehörig ansieht:
"Wir können nicht auf 780.000 Quadratkilometern eingesperrt werden", sagte der Staatschef bei einem Festakt zum 78. Todestag von Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk am 10. November 2016 im Atatürk-Mausoleum in Istanbul. Und weiter:
"Wenn Sie heute nach Syrien, in den Irak, nach Afrika oder zu irgendeinem Ort auf dem Balkan gehen und dort die Menschen nach ihrer Meinung über die Türken fragen, hören Sie niemals Ausdrücke, wie Unterdrückung oder Massaker. Es ist bereits ein Jahrhundert vergangen, seit dem wir diese Regionen verlassen haben, aber die Menschen dort haben nie aufgehört zu warten." ( Quelle hier )
"Wir haben unsere derzeitigen Grenzen nicht freiwillig akzeptiert. Unsere Gründungsväter wurden außerhalb dieser Grenzen geboren."
"Im Vertrag von Lausanne haben wir Inseln weggegeben. So nah, dass wir eure Stimmen hören können, wenn ihr hinüberruft. Das waren unsere Inseln. Dort sind unsere Moscheen."
Herr E. hat auch nach diesem Auftritt immer wieder griechisch-türkische Grenze in Frage gestellt. Premierminister Yildirim findet es "
seltsam, in dieser Region Pläne ohne die Türkei zu machen." Und weiter, Ankara verfolge "
keine expansionistische Politik", sondern sei dort, "
um Probleme zu lösen, die uns schmerzen". ( Informationen über die historische Dimension des Themas sind
hier zu finden. )
Aha, am türkischen Wesen soll jetzt also die Welt genesen... Ich sag jetzt nichts mehr von wegen 1933, empfehle aber die Lektüre von Viktor Klemperers "
Tagebüchern", Band 1, da kann man nachlesen, wie das damals bei uns vor sich gingen. Parallelen rein zufällig?
Immerhin haben die EU - Parlamentarier die Schnauze voll & wollen nicht mehr länger zusehen, wie die Türkei sich in eine Diktatur verwandelt. Wer schweigt, der toleriert. Diesen Vorwurf wollen sie offensichtlich nicht auf sich sitzen lassen und haben gestern Mittag die Aussetzung der Beitrittsgespräche mit der Türkei gefordert. Allerdings ist das ein eher schwaches Signal ( siehe
hier ). Die donnernden Drohgebärden kamen postwendend (
hier )...
Eigentlich ging es bei mir im Blog anfangs jeden Freitag um Raif Badawi und all die anderen Blogger, die von ihrem humanen Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hatten, inhaftiert und bestraft wurden. Aber in Bezug auf diese ist die Nachrichtenlage derzeit eher mau.
Ich bewundere immer wieder, wie sich Woche für Woche Menschen auf die Straße stellen, twittern oder Politiker aufsuchen wie das kanadische "
Raoul Wallenberg Centre for Human Rights", "
Amnesty International Canada", die gestern und die österreichischen Grünen, die heute ihre 100. Mahnwache (!) abgehalten haben, oder der englische "
Pen", der einmal monatlich eine Mahnwache vor der saudischen Botschaft organisiert - aber all das sind keine Nachrichten, wie wir sie alle wünschen & erwarten...
Stattdessen müssen wir immer öfter, immer mehr der Tatsache gewahr werden, dass die für allgemeingültig und für ewig überdauernd gehaltenen Menschenrechte in immer mehr Ländern mit Füßen getreten werden, auch vor unserer unmittelbaren Haustür. Die Wahl von Donald Trump und das Brexit-Referendum sind die sichtbarsten Ergebnisse eines politischen Stimmungswandels in den westlichen Demokratien und lassen befürchten, dass die Demokratie als Staatsform sich selbst zerstören könnte - und damit unsere derzeit ausgesprochen privilegierte Lebensweise.
Da halte ich es für ausgesprochen legitim, diesen Platz in meinem Blog, wenn es denn erforderlich ist, allgemein den Themen Meinungsfreiheit & Menschenrechte frei zu halten...
Noch eine Bemerkung zum Schluss:
Wie jetzt bekannt wurde, hat Großbritanniens Außenminister Boris Johnson bei seinem Besuch in Ankara gesagt, er könne der Regierung von Herrn E. zum erfolgreichen EU-Beitritt verhelfen. Im Wahlkampf vor dem britischen EU-Referendum hatte Johnson noch Stimmung gegen eine mögliche Überschwemmung der Insel mit lauter ( visafreien ) Türken an die Wand gemalt. Hypokrisie - das war das Stichwort, mit dem ich meine Badawi - Posts
damals begonnen habe.