"Es ist kurz vor drei am Nachmittag des 2. September 1960: Ein zehnjähriger Olympia-Fan sitzt mit roten Ohren vor dem Fernseher, gleich startet in Rom das 100-Meter-Finale der Frauen. Tags zuvor hat der deutsche Sprinter Armin Hary den Lauf der Männer mit neuem olympischem Rekord in 10,2 Sekunden für sich entschieden. Im Finale der Frauen ist keine deutsche Läuferin mehr vertreten. Möge die Beste gewinnen!" So beschreibt Klaus Legewie sein Erleben dieses historischen Tages in der "ZEIT". Und ich dachte beim Lesen sofort, der Text könnte glatt von mir sein, habe ich das Ereignis damals bei meiner Patentante vor deren Fernseher fasziniert verfolgt. ( Es waren die allerersten Olympia - Übertragungen im Fernsehen damals. ) Die, die dann so sensationell gewonnen hat, möchte ich heute hier an dieser Stelle würdigen: Wilma Rudolph.
Wilma Glodean Rudolph erblickt am 23. Juni 1940 in Saint Bethlehem, Tennessee das Licht der Welt. Ihre Mutter ist Blanche Pettus, 1908 in Tennessee geboren und seit 1932 mit Eddie Boyd Rudolph verheiratet, der schon 1887 ebenfalls in diesem Bundesstaat noch in die Sklaverei geboren worden ist. Elf Kinder hat dieser bereits von seiner ersten Frau, die bei der Geburt ihres letzten Kindes 1930 gestorben ist. Blanche wird weitere sechs Kinder auf die Welt bringen: Gus (*1931), Rosevelt (*1933), George Vanderbilt (*1936), Yvonne Marie (*1938), und nach Wilma noch Wesley (*1942). Die Eltern verdienen den Lebensunterhalt für die Familie als Gepäckträger bei der Eisenbahn & Gelegenheitsarbeiter bzw. als Dienstmädchen in Privathaushalten der Weißen von Clarksville.
Wilma wächst also in einer wahren Großfamilie auf, die nicht auf Rosen gebettet ist. Bei ihrer vorzeitigen Geburt wiegt sie nur zwei Kilogramm und wird in Zukunft mit zahlreichen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben. Bis zu ihrem vierten Geburtstag macht sie zweimal eine doppelseitige Lungenentzündung und einmal Scharlach durch. Bald darauf erkrankt sie dann auch noch an Polio ( "Kinderlähmung" ). Die Folge: keine Kraft mehr in ihrem linken Bein und Fuß. Die Pflege der kranken Kleinen fällt der arbeitenden Mutter nicht leicht. Doch sie sagt sich auch: "With God-given ability, persistence and faith you can do any thing you want."
Weil es für Afroamerikaner*innen in ihrer Heimatstadt nicht die nötige medizinische Versorgung gibt, fährt die Mutter mit Wilma im Bus zur Physiotherapie im Meharry Medical College in das 90 Meilen entfernte Nashville, immer im dichten Gedränge hinten im "Greyhound" sitzend, was für afroamerikanische US-Bürger vorgeschrieben ist. Noch gilt die strikte Apartheid der Jim-Crow-Gesetze in den Staaten.
Die Ärzte machen wenig Hoffnung, dass Wilma je wieder wird springen oder tanzen können, verpassen ihr aber eine Beinschiene aus Metall und später einen speziell angepassten orthopädischen Schuh. Mehrmals täglich massieren ihr die Geschwister das Bein. Erst mit acht Jahren kann das Mädchen dann wieder mit der Schiene gehen.
Die Liebe und Sorge ihrer Familie zeigen letztendlich Wirkung: Mit elf Jahren kann Wilma ohne Hilfsmittel gehen. Endlich kann sie mit ihren Geschwistern spielen – und die spielen am liebsten Basketball. Also rennt auch Wilma - barfuß - über den Platz, als hätte sie nie etwas anderes getan, und tritt in die Fußstapfen ihrer Schwester Yvonne. In der achten Klasse beginnt sie Basketball in der Mannschaft der Burt High School in Clarksville zu spielen. Einer ihrer Highschool-Sportlehrer verpasst dem Mädchen den anerkennenden Spitznamen "Skeeter", das Synonym für Moskito: "Weil du klein und schnell bist und mir immer im Weg stehst."
Coach Ed Temple und seine "Tigerbelles", Wilma ganz links (1956) |
Wilmas Zukunft scheint klar: Sie wird die Schule abschließen und dann die Universität besuchen, für die sie nun schon seit Jahren bei Laufwettbewerben antritt. Doch die junge Sportlerin wird in ihrem letzten Schuljahr mit achtzehn Jahren schwanger. Mit ihrem Freund, dem fast gleichaltrigen Basketballspieler Robert Lee Eldridge, bekommt sie eine Tochter mit Namen Yolanda. Sie muss sich hämische Kommentare gefallen lassen: Das war’s wohl mit der Sportkarriere!
Doch Wilma "Skeeter" Rudolph lässt sich nicht aufhalten. Sie macht ihren Schulabschluss, schreibt sich an der Universität ein und konzentriert sich auf ihr großes Ziel, die Olympischen Spiele 1960 in Rom. Dass sie Anfang Juli 1960 bei den US-Trials in Corpus Christi mit 22,9 Sekunden über 200 Meter als erste Frau unter der 23-Sekunden-Grenze bleibt - ein Weltrekord, der acht Jahre lang Bestand haben wird -, sichert ihr das Flugticket in die Ewige Stadt.
Was dort passiert, übertrifft dann die schlimmsten Wettbewerbs-Alpträume: Kurz vor einem Lauf knickt Wilma mit dem Knöchel um.
"Am Morgen des 2. September 1960 war der Knöchel von Amerikas schnellster Frau noch immer grün und blau und deutlich geschwollen. Wenige Stunden blieben bis zum ersten Halbfinale über 100 Meter. 'Skeeter' Rudolph machte ein paar Testsprints - und entschied sich, zu starten", schreibt Alex Raack 2020 im "Spiegel".
Mit Jutta Heine, der Zweitplatzierten, und der Britin Dorothy Hyman (1960) |
"Ich bin als Symbol des freien Amerikas gefeiert worden. Heute weiß ich, dass ich missbraucht worden bin."
Demonstration am 29.5.1963 |
"Dass ihr Land den Erfolg seines größten schwarzen Sportstars nur benutzte, um sich als offene, gerechte und antirassistische Gesellschaft zu zeigen, die die Vereinigten Staaten bis heute nicht sind, erfuhr Rudolph nur wenige Wochen nach den Feierlichkeiten, als ihr gemeinsam mit ihrem Vater der Besuch eines angesagten Restaurants verwehrt wurde", weiß der "Spiegel" später zu berichten.
Drei Jahre später wird sie eine von 300 schwarzen Demonstranten sein, die am 29. Mai 1963 versuchen, Rassenbarrieren in einem der letzten getrennten Restaurants in Clarksville - "Shoney's" - zu durchbrechen, welches ihnen die Türen vor der Nase zuschlägt. Die Demonstrierenden werden von mehr als 150 weißen Jugendlichen verhöhnt und belästigt.
Links mit Muhammad Ali, rechts mit ihren Eltern (1960) |
Doch zurück zur privaten Wilma: 1961 stirbt ihr Vater mit 73 Jahren, sie heiratet William Ward, ein Mitglied des Leichtathletikteams des North Carolina College in Durham, und widersteht den Avancen von Cassius Clay - heute bekannter als Muhammad Ali -, mit dem sie sich in Rom angefreundet hat und der sie in seiner Heimatstadt Louisville, Kentucky in einem rosa Cadillac-Cabriolet herumfährt. Die Ehe mit Ward wird schon 1963 wieder geschieden.
Im Juli 1962 verbessert sie in Stuttgart ihren 100-Meter-Weltrekord auf 11,2 Sekunden. Dieser und die über 200 Meter (22,9 Sekunden) bzw. 4 x 100 Meter Staffel werden auf Jahre Gültigkeit behalten. Doch von ihre Rekorden kann Wilma nicht leben: ".. was soll man schon antworten, wenn dir einer sagt: wenn du weiß wärst, wärst du Millionärin.“ Sie kapiert, dass "es für eine schwarze Frau unmöglich war, in der Werbe- und Marketingwelt Amerikas Geld zu verdienen." Also muss sie ihre Berufsausbildung zu Ende bringen.
Eine komplizierte Blinddarm-Operation macht ihr den Entschluss wahrscheinlich noch leichter: Mit 22 Jahren beendet sie ihre Karriere als aktive Sprinterin. Ihre Triumphe bisher seien ihr genug, erklärt sie den verdutzten Journalisten.
Sie schließt ihr Studium 1963 mit einen Bachelor-Abschluss in Grundschulpädagogik ab. Im selben Jahr unternimmt sie noch als Sonderbotschafterin des US-Außenministeriums eine einmonatige Reise nach Westafrika zu den Freundschaftsspielen 1963 in Dakar, Senegal. Sie besucht Sportveranstaltungen & Schulen in Ghana, Guinea, Mali und Obervolta und tritt in Fernseh- und Radiosendungen auf.
Mit ihren Kindern Yolanda, Djuanna & Robert jr. (1969) |
ca. 1984 |
Ich habe sie auch so bewundert, da war ich 9 Jahre alt. So wie meine älteste Enkelin heute. Und ich hatte keine Ahnung von ihrem Leben und von ihren Krankheiten, es erscheint mir wie ein Wunder, dass sie solche Leistungen vollbringen konnte.
AntwortenLöschenDer Rassismus und besonders der gegen Frauen in den USA ist noch nie überwunden gewesen und nun wird er noch mehr seine Fratze zeigen.
Zum Schlechtwerden...
Herzlichst
Sieglinde
jaa.. der Name sagt mit auch was
AntwortenLöschenauch wenn wir 1960 kein Fernsehen hatten ;)
eine bemerkenswerte Frau
dass sie als Kind so krank war wusste ich nicht
das ist wirklich erstaunlich dass sie die Kinderlähmung völlig überwunden hat
ihre Erfolge sind wirklich bemerkenswert
auch nach ihrer aktiven Laufbahn hat sie noch viel unternommen
und ihr Leben aufgebaut
wie du so treffend schreibst .. von ihrem Erfolg konnte sie nicht leben
auch ihr Einsatz für junge dunkelhäutige Sportler/innen war bemerkenswert
schade dass sie so jung gestorben ist
danke für das Portrait
liebe Grüße
Rosi
Mir war Wilma Rudolph kein Begriff. Ich finde es aber spannend, über ihr sportliches und privates Leben zu lesen. Bewundernswert, wie sie Polio über Jahre überwunden hat und dann noch so eine phänomenale Karriere hingelegt hat.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Andrea