Cora Berliner wird also am 23. Januar 1890 als jüngstes Kind von Fünfen in Hannover in der Hildesheimer Str. 237 geboren. Ihre Eltern sind die 37jährige Hanna Dessau und ihr gleichaltriger Mann, der Handelsschuldirektor Manfred Berliner, seit 1881 verheiratet.
Das Mädchen Cora besucht eine Höhere Töchterschule, welche der drei in Hannover damals ansässigen, habe ich nicht herausbekommen. 1909 legt sie die Reifeprüfung ab. Bereits im Alter von 15 Jahren ist sie Mitglied der "Jüdischen Bahnhofshilfe" geworden, die jüdische Flüchtlinge aus Russland während ihres Aufenthalts auf deutschen Bahnhöfen unterstützt. Cora hat also von früher Jugend an das Bedürfnis zu helfen, und zeit ihres Lebens Freude daran, ihr außergewöhnlich umfangreiches Wissen mit anderen Menschen zu teilen.
1909, mit gerade mal neunzehn Jahren, wird sie auch Mitglied des Vorstandes der Akademischen Unterrichtskurse für Arbeiter und hält im Rahmen dieser Kurse Unterricht ab. In Freiburg und Göttingen studiert sie nach der Reifeprüfung jeweils ein Semester lang Mathematik, merkt jedoch schnell, dass diese Fachrichtungen ihrem Bedürfnis, mit Menschen umzugehen, nicht gerecht werden. So wechselt sie für sieben Semester nach Berlin und im Jahr 1914 dann nach Heidelberg, um Nationalökonomie, i.e. Staatswissenschaft und Volkswirtschaft, zu studieren.
Auch während des Studiums engagiert sie sich in der jüdischen Jugend- und Frauenbewegung und übernimmt leitende Funktionen im "Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands" (VJJD). Bereits im November 1911 wird Cora zur Dezernentin für die Organisation der weiblichen Jugend gewählt und im April 1912 auf dem Treffen des Distriktverbandes Mitteldeutschland zur Geschäftsführerin des VJJD.
Sie selbst versteht sich als liberale Jüdin und in erster Linie als gute deutsche Staatsbürgerin, entsprechend ist ihr pädagogisches Konzept.
Sie kämpft besonders darum, dass auch Mädchen Mitglieder der Jugendvereine werden dürfen - mit gleichen Rechten und ohne Einschränkungen! Die "Erziehung zum Judentum" in einer nichtjüdischen Umgebung liegt ihr am Herzen. Ihrer Meinung nach soll die Verbreitung der jüdischen Lehre und des jüdischen Wissens, eine Verbesserung der Hebräischkenntnisse, die ethische Erziehung, aber auch die Erziehung der jüdischen Jugend dazu führen, dass jüdische Jugendliche zu treuen Deutschen, werden die ihren staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen sollen.
Ihre praktische und theoretische Arbeit im VJJD liefert ihr umfangreiches Material für ihre Doktorarbeit 1916 zum Thema: "Die Organisation der jüdischen Jugend in Deutschland. Ein Beitrag zur Systematik der Jugendpflege und Jugendbewegung." Sie besteht summa cum laude zum Dr. rer. pol. bei Prof. Emil Lederer in Heidelberg.
Ihr frühes Engagement macht sie später zu einer der Wegbereiterinnen der sozialen Arbeit mit besonderem Augenmerk auf die Situation berufstätiger Frauen: Sie wird eine der Ersten sein, die sich für die Errichtung eines Seminars zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen einsetzt. Doch dazu später.
Im Alter von 26 Jahren startet sie im Frühjahr 1916 ihre Tätigkeit als Dezernentin bei der Stadtverwaltung Schöneberg ( damals noch nicht zu Berlin gehörig ). Sie ist verantwortlich für die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung – mitten im Ersten Weltkrieg eine anspruchsvolle Aufgabe! Parallel arbeitet sie ehrenamtlich für den VJJD. 1916 wird sie auch in den Vorstand des neu gegründeten "Deutschen Verbandes der Sozialbeamtinnen" (DVS) gewählt.
Drei Jahre später, nach dem 1. Weltkrieg, wird sie als Beamtin ins Reichswirtschaftsministerium aufgenommen. Ihr Tätigkeitsbereich umfasst jetzt Verbraucherschutzfragen und Genossenschaften. Sie ist die einzige Frau unter ausschließlich männlichen Kollegen.
Im gleichen Jahr wählt der VJJD Cora zu seiner Ersten Vorsitzenden bei nur zwei Gegenstimmen – deutlicher Beleg für die hohe Wertschätzung! Drei Monate nach Amtsantritt richtet Cora ein Referat für Palästina ein, was ihre Biografinnen als Hinweis auf eine Annäherung an zionistische Positionen interpretieren.
1921 stirbt Coras Mutter Hannah, und der Vater verheiratet sich erneut, wird aber ebenfalls zehn Jahre später sterben.
Im Jahre 1923 erhält Cora Berliner den Rang einer Regierungsrätin. Auch in dieser Hinsicht ist sie wieder Vorreiterin. Eine solche Führungsposition für eine Frau ist in dieser Zeit, in der die Frauen gerade erst das Wahlrecht erhalten haben, ungewöhnlich. Ihr Vorgesetzter, der Ministerialrat Hans Schäffer, ebenfalls Jude, schreibt über sie:
"Ich selbst traf sie das erste Mal bei einer Referentenbesprechung, in der sie als einzige Frau unter zwanzig Männern ihren Standpunkt geschickt vertrat. (…) Fräulein Berliners Auftreten machte einen solchen Eindruck auf mich, dass ich sie mir im Austausch gegen einen älteren Regierungsrat überweisen ließ."
Hans Schäffer wird auch im Privaten mehr als ein guter Freund: Mit dem verheirateten Vater von vier Kindern entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die erst nach Coras Tod bekannt werden wird. ( Hans Schäffer wird 1929 Staatssekretär im Finanzministerium werden. )
|
1929 |
Ab 1924 bis 1933 ist sie Assistentin des Direktors des Statistischen Reichsamtes. An dieser Stelle ist sie daran beteiligt, die deutsche Außenhandelspolitik auf Goldwährung umzustellen, um die deutsche Währung zu stabilisieren. Sie verschafft sich einen Ruf als exzellente Fachfrau für alle wirtschaftlichen Probleme.
Deshalb wird Cora 1927 auch der deutschen Botschaft in London als Beraterin der Wirtschaftsabteilung überstellt - für ein halbes Jahr. 1930 erklimmt sie schließlich den Gipfel einer in damaligen Zeiten ungewöhnlichen Karriere für eine Frau, dazu noch Jüdin: Sie wird Professorin für Wirtschaftswissenschaft am neu geschaffenen Berufspädagogischen Institut in Berlin. Engagiert wirkt sie hier bei der Ausbildung von Gewerbelehrerinnen mit.
Am Berufspädagogischen Institut lernt Cora Gertrud Kaufmann, ebenfalls Professorin, kennen, die zu ihrer besten Freundin wird. Zusammen verbringen sie viele Wochenenden und Urlaube miteinander, auch dann noch, als das für Gertrud Kaufmann als Nichtjüdin gefährlich wird.
Für Juden und Jüdinnen ist zunächst nicht wirklich absehbar, was die nationalsozialistische Machtübernahme am 30. Januar 1933 für sie bedeuten wird. Die meisten Juden sind noch davon überzeugt, dass, so Moshe Zimmermann, israelischer Historiker und Antisemitismusforscher, "auch der nationalsozialistische Antisemitismus kontrollierbar und Hitler letztlich an den Weg der Gesetze gebunden sei". Im ärgsten Fall glaubte man an eine Rückkehr ins Mittelalter bzw. an den Rückfall in ein gettoisiertes Leben wie vor der Aufklärung. Doch bald beginnen die Nazis durch die Erlassung von Gesetzen und Verordnungen mit der Ausgrenzung, Missachtung und Entrechtung der jüdischen Bevölkerung.
Aufgrund des nationalsozialistischen "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", das am 7. April 1933 in Kraft tritt, setzt auch Coras beachtlicher Laufbahn ein Ende. Sie wird – wie die meisten jüdischen Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst oder "öffentlich wirksamen Berufen" – entlassen.
Am 25. April 1933 wird als eines von über 300 Gesetzen im Jahr der Machtergreifung, das sich auf die jüdische Gemeinschaft bezieht, das "Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen" erlassen. Dieses unterbindet "einstweilen noch nicht völlig den Besuch jüdischer Schüler und Studenten an den verschiedenen Lehranstalten", aber es beschränkt "die Zahl der jüdischen Schüler auf 1,5% von allen Schülern an einer bestimmten Anstalt". Allen "nicht-arischen" Schülern und Studenten wird also der Besuch von weiterführenden öffentlichen sowie privaten Schulen wesentlich erschwert.
|
Von links nach rechts: Hannah Karminski, Hans Schäffer, Paula Fürst |
Cora widmet sich jetzt, unfreiwillig freigestellt, dem Aufbau zentraler Selbsthilfeorganisationen für die Juden im Nazi - Deutschland.
Frauen des "
Jüdischen Frauenbundes", allen voran Cora, versuchen, das jüdische Bildungs- und Erziehungswesen neu zu gestalten.
Gemeinsam mit der sieben Jahre jüngeren
Hannah Karminski, einer ausgebildeten Kindergärtnerin und spätere Sozialarbeiterin,
und der gleichaltrigen
Emmy Wolff, einst Assistentin der Reichstags-Politikerin
Gertrud Bäumer, initiieren sie die
Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen. Emmy Wolff hat dafür einen "ungefähren Plan" entworfen. Man richtet einen Versuchslehrgang zur Ausbildung jüdischer Frauen & Mädchen ein, "in Verbindung mit einer Haushaltausbildung jüngerer Mädchen" sowie eine Musterkindergarten und -hort. Mit Hilfe eines Freundeskreises, dem auch offizielle Stellen angehören sollen wie die "Reichsvertretung der deutschen Juden", der "Jüdische Frauenbund" (JFB) und die "Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden", soll die Ausbildungsstätte aufgebaut werden. Doch es kommt zu Unstimmigkeiten hinsichtlich der konfessionellen sowie inhaltlichen Ausrichtung des geplanten Kurses und zu der Frage, wer dessen Trägerschaft übernehmen soll.
Cora, groß, schlank, intelligent und lebhaft, immer in Eile, immer beschäftigt, wird von Zeitgenossen als ungeduldig gegenüber anderen Menschen, aber auch gegenüber sich selbst beschrieben.
Inzwischen 43 Jahre alt, widmet sie ab da ihre ganze Kraft als stellvertretende Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes der Auswanderung von Mädchen und Frauen. Bei der im September 1933 gegründeten "Reichsvertretung der Deutschen Juden" ( ab 1935 "Reichsvertretung der Juden in Deutschland" ) übernimmt sie eine Funktion als Leiterin der Abteilung Statistik und ist zuständig für wirtschaftliche und soziale Fragen. In diesen Jahren verfasst sie immer wieder Berichte über die gegenläufigen wirtschaftlichen Entwicklungen für Juden nach der Machtergreifung, immer auch unter Berücksichtigung der besonders schwierigen Situation jüdischer Frauen. Gleichzeitig ist sie weiterhin im JFB aktiv.
"Das Arbeitspensum dieser ungemein regen Frau ist kaum zu ermessen", schreibt Almut Nitzsche hier. "Selbst unter den veränderten Bedingungen findet Cora Berliner Gelegenheit, ihr Wissen als Lehrende weiterzugeben, unter anderem in der Lehrerfortbildung und in Kursen für Sozialarbeiter."
Obwohl keine Zionistin, unternimmt sie 1936 eine Recherchereise nach Palästina, weil sie wissen will, "wie die Menschen aus Deutschland in Palästina leben, wie sie sich akklimatisiert haben und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen". Sie bleibt drei Wochen, trifft deutsche Auswanderer und besucht zahlreiche jüdische Institutionen und Organisationen. Nach ihrer Rückkehr verfasst sie für ihre Freunde und Verwandten einen Bericht mit dem Titel "Unpolitische Reise nach Palästina", der jedoch nie veröffentlicht werden wird.
1936 ist es auch, als Hans Schäffer sie zu überreden versucht, nach Schweden auszuwandern, um von dort aus zu bereits lebenden Verwandten in den USA zu gelangen. Ihr Bruder Bernhard ist nämlich schon mit seiner elf Monate alten Tochter Gabriele und seiner zweiten Ehefrau in den Staaten und hat dort die "Psychoanalytic Study Group of San Francisco" begründet.
Cora lehnt ab: "Mein Leben würde keinen Sinn machen, wenn ich die Leute verlasse, für die ich verantwortlich bin." Schäffer selbst ist schon 1933 mit seiner ältesten Tochter in das skandinavische Land emigriert. Seine restliche Familie ist ihm 1936 gefolgt.
Wie alle anderen jüdischen Institutionen und Organisationen wird das Büro der Reichsvertretung nach der Pogromnacht im November 1938 geschlossen, die meisten Führungskräfte verhaftet. Die anderen tauchen unter. Cora hält mit einer andere Frau Kontakt, und sie treffen zu geheimen Sitzungen zusammen. Im November 1938 werden die Büros der Reichsvertretung allerdings wieder geöffnet, die Verhafteten entlassen und nachdrücklich der Auftrag erteilt, die Auswanderung jüdischer Menschen zu beschleunigen.
|
1940 |
1939 unternimmt Cora eine letzte Reise nach Schweden, um dort vierhundert Menschen in Sicherheit zu bringen. Sie hat nunmehr ganz die Leitung des Ausschusses für Auswanderung, Information, Statistik und Frauenauswanderung innerhalb der Reichsvereinigung übernommen. Weiterhin hält sie die Beziehungen zu Konsulaten und Botschaften der Länder, die noch Juden aufnehmen, aufrecht, bis im Oktober 1941 den Juden die Auswanderung endgültig ganz verboten wird.
Cora arbeitet dennoch weiter für verschiedene Abteilungen der Reichsvereinigung sowie innerhalb der Jüdischen Gemeinde Berlins. Im Frühjahr/Sommer 1940 setzen sie die Auswirkungen einer nicht ausgeheilten Lungenentzündung allerdings erst einmal schachmatt.
Von September 1940 bis Mai 1942 kann sie dann ihre Aktivitäten in der Reichsvereinigung ( wahrscheinlich auch für die Jüdische Gemeinde ) wieder aufnehmen. Es scheint so, dass Cora inoffiziell eine Zeitlang auch den Generalsekretär der Reichsvereinigung vertreten hat, auch wenn dazu in den bisher aufgefundenen Dokumenten nichts vermerkt ist.
Anfang 1941 trifft sie ein persönlicher Verlust schwer, als Otto Hirsch, ihr langjähriger Kollege und guter Freund, Mitbegründer der Reichsvertretung, verhaftet und im Konzentrationslager Mauthausen umgebracht wird.
Auch sich selbst kann Cora Berliner nicht mehr retten. Sie bemüht sie sich offensichtlich noch um ein
Affidavit, notwendig für die Einreise nach Amerika, wird aber dann aus ihrer Wohnung in Berlin-Wilmersdorf, Pariser Straße 18, am 22. oder 24. Juni 1942 abgeholt und mit anderen leitenden Mitarbeiter*innen der Reichsvereinigung deportiert. Das ist einem letzten Brief an Hans Schäffer zu entnehmen. Gertrud Kaufmann verabschiedet sich noch von ihr am Bahnhof, bevor der Transport in Richtung Königsberg abgeht.
Sie kann gesichert dem sogenannten "
16. Osttransport"( DA 40 ) in Richtung Osten zugeordnet werden, die genauen Umstände sind umstritten. Zwei Tage später langt der Zug in Minsk an. Die 770 Menschen, die er transportiert hat, werden wohl kurz darauf im Vernichtungslager
Maly Trostinez ermordet. Von Cora Berliner gibt es nach ihrer Ankunft in Minsk kein Lebenszeichen mehr, das Datum ihrer Ermordung ist unbekannt. 52 Jahre alt ist sie nur geworden.
Cora Berliner hat - einen Tag vor ihrer eigenen Deportation - über einen Besuch bei ihren Freundinnen Hannah Karminski &
Paula Fürst im Juni notiert: "
Als ich sie am letzten Tag vor ihrer Deportation besuchte, saßen sie draußen in der Sonne und lasen Goethe." Nichts kann die Bizarrerie der Situation der deutschen Juden in jenen unseligen Zeiten besser beschreiben...
Und abschließend wieder die Liste mit den Namen der Frauen,
über die ich schon geschrieben habe
und die in der letzten Woche einen Gedenktag gehabt haben, als da sind:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- oder sonstigem Blog -Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.
Mit dem Abschicken deines Kommentars akzeptierst du, dass dieser und die personenbezogenen Daten, die mit ihm verbunden sind (z.B. User- oder Klarname, verknüpftes Profil auf Google/ Wordpress) an Google-Server übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhältst du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.