Donnerstag, 23. Januar 2020

Great Women # 208: Marija Gimbutas

Bei meinem letzten Porträt habe ich eine Frau "ausgegraben", die hinreißende Stickbilder geschaffen hat. Auf die des heutigen Porträts bin ich gestoßen, weil mir als begeisterte Stickerin kulturübergreifende Gemeinsamkeiten in Stickereien aufgefallen waren, also ähnliche Muster, die in weit auseinander liegenden geografischen Bereichen verwendet wurden. Über diese universellen Stickmotive bin ich auf Muster/Motive gekommen, wie sie schon seit der frühen Menschheitsgeschichte verwendet werden, Ornamente als Bildsprache sozusagen. Und dann war es nur ein kleiner Schritt, bis ich auf die Veröffentlichungen meiner heutigen Protagonistin stieß: Marija Gimbutas.


"Das Hauptthema der Göttinnen-Symbolik 
ist das Geheimnis von Geburt und Tod 
und die Erneuerung des Lebens, 
nicht nur des Menschen, 
sondern des gesamten Lebens auf der Erde 
und tatsächlich im gesamten Kosmos."


Marija Gimbutas kommt als Marija Birutė Alseikaitė am 23. Januar 1921, also heute vor 99 Jahren, in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, zur Welt.

Veronika Janulaitytė-Alseikienė
& Danielius Alseika
Ihre Eltern gehören zur litauischen Intelligenz: Ihre Mutter Veronika Janulaitytė-Alseikienė ist die erste Ärztin in Litauen, nachdem sie 1908 in Berlin in Augenheilkunde promoviert hat. Ihr Vater Danielius Alseika ist ebenfalls Mediziner und hat sein Studium als Hals-Nasen-Ohrenarzt 1910 in Tartu ( Dorpat, Estland ) abgeschlossen, dem Jahr, in dem sie auch geheiratet haben. Beide haben nach der russischen Revolution 1917 eine Ambulanz, dann 1918 das erste Litauische Krankenhaus in der Hauptstadt gegründet, wo der Vater später auch als Radiologe tätig sein wird. Während des polnisch - litauischen Krieges entwickelt sich das Krankenhaus auch zu einem Zentrum des litauischen Widerstandes.
Litauen, einer der drei baltischen Staaten, ist erst im Jahr vor Marijas Geburt mit dem Versailler Vertrag und dem litauisch-sowjetischen Friedensvertrag international anerkannt worden. In einem weiteren Vertrag im Oktober 1920 hat Polen auf gemischtsprachige Gebiete im Südosten rund um die Hauptstadt Vilnius offiziell verzichtet, doch bald darauf das Gebiet durch einen Militärcoup besetzt und schließlich 1922 annektiert, begründet  mit der Schutzbedürftigkeit der polnischen Minderheit, die mit 70 Prozent Anteil eindeutig die Bevölkerungsmehrheit in dieser Region stellte. Infolge musste die Hauptstadt des Landes nach Kaunas verlegt werden.
Über fünfhundert Jahre war Litauen ein Großfürstentum und ist ab 1569 als Polen-Litauen Teil einer Union gewesen, bevor es als Folge der 3. Teilung Polens 1795 unter russische Herrschaft geriet. 1918 erklärte die Bevölkerung des Landes nach Kämpfen gegen die Rote Armee und polnische Truppen die Unabhängigkeit des Landes als Republik und gab sich 1922 eine Verfassung, die durch den Putsch von Antanas Smetona im Dezember 1926 aber wieder beseitigt wurde. Smetona regierte diktatorisch bis 1940 und wurde nach dem erneuten Einmarsch sowjetischer Truppen zum Abdanken gezwungen. Nach dem Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges haben dann deutsche Truppen das litauische Staatsgebiet im Juli 1941 eingenommen. 
Die Litauer sind ein baltisches Volk. Sie sprechen eine eigene Sprache, die zur indogermanischen Sprachfamilie gehört. Die meisten Litauer sind Katholiken, wenn auch das Land als letztes europäisches Land christianisiert worden ist und sich von daher archaische Anschauungen bis ins 20. Jahrhundert erhalten haben.
Marijas Vater ist auch Herausgeber der Zeitung "Vilniaus Žodis" und des Kulturmagazins "Vilniaus Švies" und ein ausgesprochener Verfechter der Unabhängigkeit Litauens. Beide Eltern sind darüberhinaus Kenner der einzigartigen litauischen Volkskunst sowie Liebhaber zeitgenössischer Musik & Literatur, so dass wichtige Musiker und Autoren der Zeit im Sonntags - Salon der Mutter ein- und ausgehen.

Bei Marijas Geburt ist diese schon 38 Jahre alt, der Vater 40 Jahre. 1912 haben sie bereits einen Sohn bekommen, Vytautas Kazimieras.

Marija & ihr Bruder wachsen gemeinsam mit ihren Cousinen Meilyte & Love in einem Haus auf, in dem auch die ältere Schwester von Veronika, die Zahnärztin Julia Lukšienė, lebt. Da die Erwachsenen sehr beschäftigt sind als Ärzte & Forscher bzw. sich politisch betätigen, sind die Kinder in der Obhut von Bediensteten, die der sehr alten Folklore Litauens verbunden sind. Dazu gehören die Volkskunst & heidnische Bräuche und diese Menschen glauben noch an Hexen und an Nornen, die den Lebensfaden spinnen. Sie nehmen die Kleine auch mit in die Kirche.  Später wird sie bekennen, dass sie im Mai besonders gerne mitgegangen ist, weil sie die Musik & die Blumen gemocht hat. Das Schönste sei aber gewesen, dass der Monat der Jungfrau Maria gewidmet war ( das kenne ich nur zu gut von mir selbst in meiner Kindheit ).

Marija fühlt sich von den Vorstellungen der einfachen Litauer, warum auch immer, angezogen und entwickelt bereits in jungen Jahren ein Interesse an ihrer Heimat, deren Sprache, Bräuche und  Mythologie, das sie ihres ganzes Leben begleiten und motivieren wird.

Anregend findet sie auch den jüngsten Bruder der Mutter, ein Historiker, sowie die Mutter selbst, die beide Folklore sammeln. Und den Erzählungen des Ziehvaters ihres Vaters, Jonas Basanavičius, ebenfalls Arzt & Politiker, aber eben auch engagierter Sammler von Märchen, Sagen, Volksliedern und litauischer Folklore, lauscht Marija schon im Kleinkindalter. Seine veröffentlichten Sammlungen werden ihr ihr ganzes Leben wichtig sein.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass das Mädchen in eine Familie hineingeboren worden ist, die darum gerungen hat, um die Traditionen und die Sprache ihres Landes zu bewahren ( auch, indem sie z.B. die von den polnischen Besatzern verhängten Verbote angegangen sind ). Es ist daher nicht erstaunlich, dass ein solches soziales Umfeld jemanden hervorbringt, der später stark genug sein wird, statische Theorien in Frage zu stellen. Bedeutsam ist zudem Marijas Erfahrung am Vorbild der Mutter, dass weibliche Wesen Männern gleichwertig sind und ebenso frei wie diese agieren können. In diesem Sinne sei sie Feministin, wird sie später immer wieder betonen.

1927, als Marija schulpflichtig wird, gründen die Eltern extra eine Montessori - Schule. Außerdem lassen sie ihre Tochter am Klavier ausbilden. Und die zeigt Talent, würde aber lieber Figuren aus Holz schnitzen, aber das ist nicht "fashionable". Vier Jahre später zieht die Mutter mit den Kindern nach Kaunas, da Vilnius nach wie vor von Polen okkupiert ist, und sie sich in Kaunas bessere Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder verspricht. Vater Danielius weigert sich mitzukommen, weil er, trotz ständiger Verfolgung & Verhaftung, den Widerstand gegen die Polen fortsetzen möchte. So kommt es zur Trennung der Eltern. Wenn Marija den Vater in den nächsten Jahren sehen möchte, muss sie sich beim Überqueren der Grenze in einem Pferdewagen verstecken. 

1936, 55jährig, stirbt Danielius Alseika. Manche Quellen führen das auf seine Belastung durch Röntgenstrahlung, andere auf eine Blutvergiftung zurück.

"Berg der Kreuze" , Wallfahrtsort bei Šiauliai/Litauen
Marija beginnt sich für alles zu interessieren, was mit den alten Glaubensvorstellungen vom Tod und den damit verbundenen. prähistorischen Beerdigungsriten in ihrem Land zu tun hat. Ab 1937 nimmt sie deshalb an ethnographischen Expeditionen nach Südostlitauen teil, bei der traditionelle Folklore aufgezeichnet wird, aber auch litauische Überzeugungen und Todesrituale erforscht werden. Und das wird sie mit Leidenschaft auch in den folgenden Jahren tun.

1938 schließt sie den Besuch des Aušra Gymnasiums in Kaunas mit Auszeichnung ab und und immatrikuliert sich an der 1922 neu gegründeten Vytautas Magnus Universität in Kaunas, um Linguistik zu studieren. Der Einfall der Deutschen in Polen 1939 und der anschließende Hitler - Stalin - Pakt verschafft Vilnius die erneute Zugehörigkeit zu Litauen. Marija setzt nun dort ihre Studien in Archäologie bei Jonas Puzinas, dem Spezialisten für die Vorgeschichte Litauens in Vilnius, und weiter in Linguistik, Ethnologie, Folklore und Literatur fort. In dieser Zeit betreibt sie Feldforschung in puncto weissrussischer Folklore, als Menschen von dort in Vilnius Zuflucht suchen.

1940 wird die Stadt wieder von der Roten Armee besetzt und das Land als Litauische Sowjetrepublik der UdSSR zwangsweise angegliedert. Die Universität wird mit Stalinisten besetzt, die Bücher verbrannt und die Massendeportationen nach Sibirien beginnen. Der Pioniergeist der Generation Litauens aus den Zwanziger Jahren kann das alles nun nicht mehr aufhalten.

Marija kehrt nach Kaunas zurück und versteckt sich mit ihrer Mutter in den Wäldern in der Nähe ihres kleinen Landhauses. Etliche Familienmitglieder und Freunde sind schon Opfer der stalinistischen Grausamkeiten geworden, werden es aber auch bei den Deutschen, die 1941 wieder in Litauen einmarschieren. Es kommt zum Holocaust an den litauischen Juden, die in den Jahrhunderten zuvor Vilnius zum "Jerusalem des Nordens" und zu einem geistigen Zentrum der jüdischen Aufklärung gemacht hatten.

Mit ihrem Ehemann und mit ihrer Tochter
In all diesem Chaos heiratet Marija 1941 ihren Verlobten Jurgis Gimbutas, ein junger Architekt aus angesehener litauischer Familie. Sie schließt ihren Master of Arts mit einer Arbeit über Bestattungen in der Eisenzeit mit Auszeichnung ab und beginnt mit Forschungsarbeiten für ihre Doktorarbeit über die prähistorischen Bestattungsriten in Litauen. Außerdem bekommt sie 1943 eine Tochter, Danutė.

Ihre Forschungen werden 1944 durch die zweite Invasion der Roten Armee in Litauen unterbrochen. Marija Gimbutas flieht mit ihrerDoktorarbeit in der einen und ihrem Kind an der anderen Hand zusammen mit ihrem Ehemann in einem Schlauchboot auf dem Nemunas ( dt. Memel ). Zurücklassen muss sie ihre an Grippe erkrankte Mutter ( die bis an ihr Lebensende 1971 in Litauen verbleiben wird ).  Mit dem Zug gelangen sie weiter nach Wien und von dort nach Innsbruck, wo ihr Mann in einer Fabrik arbeiten kann, bis diese ausgebombt wird. Anschließend geht es über die Berge nach Deutschland, wo sie 1945 auf einem Bauernhof Zuflucht finden, bis Marija in Tübingen ihre Studien wieder aufnehmen kann.

Dort promoviert sie 1946. Ihre Arbeit über "Prähistorischen Bestattungsriten in Litauen" wird im Jahr darauf veröffentlicht. Ihr Mann lehrt währenddessen an der Fakultät für Bauingenieurwesen für die Münchner "United Nations Relief and Rehabilitation Administration" ( UNRRA ) und promoviert 1948 ebenfalls an der Universität Stuttgart zum Thema "Das Dach des litauischen Bauernhauses. Ein Beitrag  zur Geschichte des Holzbaues" ( auch als Buch veröffentlicht ).

1947 kommt ihre gemeinsame Tochter Živilė in Tübingen zur Welt. Jurgis unterstützt seine Frau, indem er Kopien ihres Buches an Universitäten, Bibliotheken und Konsulate schickt, um für sie ein Stipendium zu erhalten. Die Universität Heidelberg gewährt es ihr für zwei Jahre, dann entscheidet sich die junge Familie, in die Vereinigten Staaten auszuwandern.

Die Familie Gimbutas 1951
Zum Frühlingsbeginn 1949 ist es so weit: Jurgis findet als Ingenieur in Boston sofort eine Anstellung, während sich Marija als Dienstmädchen und in ähnlichen unqualifizierten Jobs neben ihrer Forschungsarbeit durchschlägt. Ihre Schwiegermutter Elena, die mit ausgewandert ist, betreut derweil die Töchter.

Einige Monate nach ihrer Ankunft in den Staaten stellt sich Marija unaufgefordert an der Harvard-Universität in Cambridge/ Massachusetts vor. Wegen ihrer umfangreichen Kenntnisse europäischer Sprachen wird sie genommen ( sieben kann sie sprechen, Texte in 13 Sprachen lesen ). Sie soll archäologische Veröffentlichungen übersetzen, wird aber auch ermutigt, selbst Beiträge über die Frühgeschichte Zentraleuropas bzw. des östlichen Teil des Kontinents zu verfassen. Sie ist wild entschlossen, sofort wieder in die Forschungsarbeit einzusteigen, doch drei Jahre lang bekommt sie dafür kein Geld und  fühlt sich "wie ein Ertrinkender". Schließlich erhält sie von einer Stiftung Unterstützung zur Vorbereitung der Veröffentlichung ihres zweiten Buches "The Prehistory of Eastern Europe". Weitere "Fellowships" folgen und schließlich wird sie 1955 "Fellow of Harvard's Peabody Museum", eine Ehre fürs Leben!

Seite aus
"Ancient Symbolism in Lithuanian Folk Art"
In der Zwischenzeit hat sie auch einer dritten Tochter, Rasa, das Leben geschenkt. Die nächsten Jahre werden hart, aber Marija weiß die mentale Unterstützung von Mutter, Tante und den beiden Cousinen im fernen Litauen hinter sich. Die Mutter finanziert sogar einen Grafiker in Litauen, als ihre Tochter an ihrem Buch zur Bronzezeit arbeitet. Tausende von Zeichnungen lässt sie ihr per Post aus Litauen zukommen. Doch vor diesem Werk erscheint noch "Ancient Symbolism in Lithuanian Folk Art", eine wahre Fundgrube für Liebhaber*innen von Mustern & Symbolen.

1960 kann sie als Teilnehmerin eines Kongresses in Moskau ihre inzwischen 77jährige Mutter endlich wiedersehen und sich zwei Tage in Vilnius "erschleichen". Anschließend wird sie allerdings als russische Spionin verdächtigt , erhält aber dennoch den "Outstanding American by Choice", mit dem die US-amerikanischen Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsbehörden neu eingebürgerte Amerikaner auszeichnen.

Danach nimmt sie sich ein akademisches Jahr, um in Stanford ihr großes Werk "Bronze Age Cultures in Central and Eastern Europe" voranzutreiben, das schließlich 1965 herauskommen wird. 1963 wird Marija Gimbutas, die nun als führende Persönlichkeit auf dem Gebiet der Frühgeschichte gilt, eine Professur ( für Archäologie ) an der University of California in Los Angeles offeriert. Sie trennt sich von ihrem Mann und zieht mit ihren beiden jüngsten Töchtern nach Kalifornien, wo Danutė schon studiert, und wird diese Position bis zu ihrer Pensionierung 1989 innehaben.

Marija Gimbutas in Sitagroi
Source
1967 wird ihr dann für ein Jahr die Projektleitung für Ausgrabungen jungsteinzeitlicher Stätten im damaligen Jugoslawien ( Obre in Bosnien und Anzabegovo in Mazedonien ) anvertraut und 1968/69 in Sitagroi im griechischen Teil  Mazedoniens, einer wichtigen archäologischen Stätte aus der späten Jungsteinzeit und der frühen Bronzezeit.

Anschließend ist sie für ein Jahr Austauschprofessorin in der Sowjetunion, bevor sie wieder zwei Jahre lang an Ausgrabungen teilnimmt, ab 1971 in Anza/Mazedonien. 1973 - 75 findet man sie in der Südostecke der thessalischen Tiefebene bei der Ausgrabung  von Achilleion, einer frühen neolithischen Stätte ( der "Sesklo - Kultur" zugeordnet ).

Schlangengöttin, gefunden in Thessalien

Die Ausgräber*innen finden dort anthropo- wie zoomorphe Figuren an Ort und Stelle liegend, die nicht wie sonst üblich nach vorherigen Sichtungen weggelegt worden sind, nachdem sie als unwesentlich bis bedeutungslos eingestuft worden waren, während eindeutig männliche Gegenstände einer weiteren Betrachtung unterzogen werden. Marija erkennt, dass diese Gegenstände und ihr Fundort etwas auszusagen haben.

In ihren späteren Jahren wird sie diese ausgesonderten Funde aus vielen Kulturen von Nordeuropa bis zum Mittelmeerraum ausführlich sammeln, katalogisieren und ein Klassifizierungssystem entwickeln. Dadurch kommt sie zu dem Schluss, dass es sich bei den Figuren um etwa sieben unterscheidbare Gottheiten handelt, z.B. Vogel- und Schlangengottheiten in den Schreinen in den Häusern, Schwangere in der Nähe der Backöfen oder Getreidelagerstätten, Gebärende in den Vorhöfen, nahe bei den Feuerstellen.  Weibliche Darstellungen nehmen einen Anteil von 97% an den Funden ein. Aus dieser Tatsache entwickelt Marija ihre Theorie des Göttlichen im Neolithikum, dem "alten Europa", wie sie es nennt. ( Eine Fülle solcher Figuren sind z.B. auf diesem Pinterest - Board zu finden. )

Sie "rekonstruiert" quasi die neolithische Religion. "Religion ist auch nicht korrekt, aber es ist vielleicht das beste Wort, was wir haben", sagt sie einmal gegen Ende ihres Lebens. "Im Neolithikum war die Göttin eine Philosophie, eine Lebensweise. Sie repräsentierte den gesamten Zyklus des Lebenskontinuums."

Marija Gimbutas sieht in der Göttin keine reine Muttergöttin, die allein einen schöpferischen Aspekt verkörpert, sondern sie sieht in ihr die drei Lebensphasen des Menschen untrennbar vereint: Kindheit, Erwachsenenalter und Tod. Diese ist auch kein genaues Abbild des Menschen, sondern ein Abbild aller Lebewesen an sich, weshalb ihre Darstellung nicht auf Schlange, Biene, Bärin, Frosch, Kuh, Schmetterling, Menschenfrau, Herrin der Tiere oder was weiß sonst festgelegt ist.

Da sie, bevor sie Archäologin geworden ist, auch Ethnologie, Linguistik und Volkskunde studiert hat, aber auch wegen ihrer kindlichen Erfahrungen in Litauen, hat sie einen ganz anderen Blick auf die Funde als ihre Kollegen. Sie erfasst die Tradition der Symbolik über die Jahrtausende hinweg, entsprechend ordnet und deutet sie. Darüber erzählt sie einmal James N. Powell hier:
"Archäologie ist wie Klavier spielen. Sie sehen, Sie müssen mit etwas anfangen. Man muss Stile lernen. Man muss Hunderte von Strukturebenen kennen und in Südeuropa und Osteuropa muss man all das wissen, um spielen zu können. Das kostet viel Zeit. Ich habe das jahrelang gemacht, jahrelang, jahrelang." 

Marija Gimbutas "The Gods and Goddesses of Old Europe" wird 1974 veröffentlicht ( die zweite Ausgabe 1982 trägt dann den Titel "The Goddesses and Gods of Old Europe" - das schien den Verlegern acht Jahre zuvor  nicht ratsam ).  

Hat sie schon  in Philadelphia 1956 mit der ersten Präsentation ihrer Theorie über die Ursprünge der indoeuropäischen Sprachen für Aufsehen gesorgt - die Menschen, die sie sprachen, waren Angehörige der Kurgan-Kultur, die im 5. bis 3. Jahrtausend vor unserer Zeit in Südrussland gelebt haben und die die Völker, die weiter nördlich von ihnen gesiedelt haben, unterwarfen - gerät Marija jetzt vollends ins Zentrum eines kulturellen Sturms: Ihre Verlautbarungen ziehen eine große Flut feministischer Veröffentlichungen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien nach sich, werden aufgegriffen in der Wiederbelebung neoheidnischer Rituale ( Neopaganismus im Rahmen des "New Age" ) und erregen diversen Widerspruch auf Kollegenseite.

"Wir leben immer noch unter dem Einfluss dieser aggressiven männlichen Invasion und beginnen erst, unsere lange Entfremdung von unserem authentischen europäischen Erbe zu entdecken... gewaltfreie, erdzentrierte Kultur... und seine symbolische Sprache, deren Überreste in unserem eigenen Symbolsystem verstrickt bleiben", sagt Marija Gimbutas und rüttelt damit an den Fundamenten des Gründungsmythos der europäischen Zivilisation, wird doch die darin fest verankerte männliche Dominanz im Himmel wie auf Erden von ihr in Frage gestellt. Die Vorstellung, dass am Anfang der europäischen Frühgeschichte eine weibliche Gottheit verehrt worden ist und männliche Symbole relativ nebensächlich gewesen sind, unter die Leute, in diesem Falle Archäologenkreise, zu bringen, dazu gehört viel Mut, Nerven, Chutzpe, und sie kriegt natürlich schnell einen auf die Mütze. Und was da alles so "argumentiert" wird! 

Das fängt mit Kleinigkeiten an wie der Gewohnheit der Kritiker, das Wort Göttin in Anführungszeichen zu setzen, worauf beim Wort "Gott" keiner käme. Da wird betont: "Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler würde eine solche Behauptung ( gemeint ist die von einer Religion der Göttin; Erg. durch mich ) verteidigen. Solche simplistischen 1900-Theorien über "Stadien der Zivilisation" wurden schon vor langer Zeit aufgegeben." 

Stattdessen wird immer wieder das Patriarchat als naturgegeben und damit zur einzig wahren Lehre erhoben. Dabei wird u.a. geflissentlich ignoriert, dass Marija Gimbutas nie vom Matriarchat gesprochen hat, das hält sie nämlich für wissenschaftlich nicht haltbar ( 1991 distanziert sie sich davon noch einmal ausdrücklich). Bei ihr wird man auch nicht die Behauptung finden, die neolithischen Kulturen seien von Frauen beherrscht worden  ("dominated by women"). 

"Sleeping Lady"
( Hal Saflieni Hypogeum, Malta )
Natürlich greift man sie auch als Person an, nennt sie eine Exzentrikerin, wirft ihr vor, sie ginge zu weit und meint die Kritik untermauern zu können, indem man Kollegen so zitiert: " Most of us tend to say: Oh my God, here goes Marija again".

Der Gipfel männlicher Verblendung wird in meinen Augen mit den Verlautbarungen des Peter J. Ucko, britischer Anthropologe & Archäologe, erreicht, für den die gefundenen Figurinen mit stark ausgeprägten weiblichen Geschlechtsmerkmalen "Sexpuppen" seien. Selbst das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" meint darauf reißerisch, das Konzept der neolithischen Großen Mutter sei in der akademischen Welt zusammengebrochen ( "'SEX-PUPPEN' , die sich sexuell unausgelastete Steinzeit-Männer zu pornographischen Zwecken hergestellt" haben... ).

"Venus mit dem Horn"
( Laussel, etwa 25.000 Jahre alt ) 
Einen endgültigen Todesstoß versucht der kanadische Professor für religiöse Studien, Philipp G. Davis, den gimbutasschen Theorien zu versetzen, indem er behauptet:
"... selbst dort, wo es Hinweise auf die Verehrung einer Göttin in frühen Gesellschaften gibt ( was selten ist ), so waren die göttinzentrierten Gesellschaften gewalttätiger als die patriarchalen Gesellschaften. Die Behauptung, dass Spiritualität, die auf eine weibliche Gottheit fokussiert ist, notwendigerweise zu Frieden, Harmonie und Gleichheit führe, kann eindeutig widerlegt werden.
Den Beweis bleibt er dann aber wieder gerne schuldig, auch dafür, das Vorhandensein einer weiblichen göttlichen Vorstellung in der Frühgeschichte sei nichts anderes als "eine feministische Erfindung".

Doch nun wieder zurück zum Leben der Archäologin, die in den Jahren 1977 - 80, zum Team der UCLA und der Universität von Genua gehört, welches an den Ausgrabungen in der Scaloria Grotte im italienischen Apulien beteiligt ist. Zwischendurch organisiert die inzwischen 58jährige die erste interdisziplinäre Konferenz zum Thema "Die Transformation der europäischen und anatolischen Kultur". 1981 erhält sie die Gelegenheit, mit Unterstützung der Fulbright- Gemeinschaft und der "American Academy of Sciences" für zwei Monate in ihrer Heimatstadt Vilnius Vorlesungen zu halten, die von sehr vielen Menschen besucht werden. 1985 veröffentlicht sie dann auch ein Buch, dass sich speziell mit Litauen beschäftigt.

Marijas interdisziplinärer Ansatz führt zur Entwicklung des von ihr als "Archäomythologie" bezeichneten Fachgebiets, und sie bringt die Ergebnisse ihrer umfangreichen Nachforschungen immer mehr in einen Zusammenhang:
"... und dann wurde ich ziemlich überzeugt, dass hier etwas ist! Und ich hatte am Anfang keine Ahnung, dass ich es finden sollte. Und dann faszinierte mich das, und dann folgte ich immer mehr und immer mehr und hatte dann eine Gruppe, dann sah ich, dass es eine andere Gruppe gab, einen anderen Komplex symbolischer Bedeutungen, dann eine dritte, und so war es wie ein Puzzle-Spiel zu spielen. Dann begann ich zu verstehen, was ich 'die Sprache der Symbolik der Göttin' nenne", erzählt sie später James N. Powell.
Das erste Ergebnis dieser Arbeit ist das Buch "The Language of the Goddess", das 1989 in den USA erscheint ( den deutschsprachigen Leserinnen wird es erst zugänglich, als der Zweitausendeins - Verlag es 1995 herausbringt ). 1991 folgt "The Civilization of the Goddess"  ( bei uns 1996 ). Damit gibt Marija Gimbutas nicht nur Fachleuten, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit einen neuen Einblick in den Reichtum und die Vielfalt der frühesten Gesellschaften in Europa und gleichzeitig eröffnet sie die Vision einer Spiritualität, die sich von den bei uns vorherrschenden monotheistisch - patriarchalen Anschauungen gründlich unterscheidet.

In Litauen
In diesem, ihrem Hauptwerk, stellt sie noch einmal ausgiebig dar, dass die friedlichen, frauenzentrierten, agrarisch geprägten "alteuropäischen" Kulturen über einen Zeitraum von zweitausend Jahren von Reiternomaden aus der russischen Steppe immer wieder überrannt worden sind, den schon erwähnten Angehörigen der "Kurgan-Kultur", die proto-indoeuropäische Sprachen gesprochen haben.

Im Gegensatz zu den überrannten Kulturen sind die eindringenden Nomaden kriegerisch & hierarchisch organisiert gewesen und haben Himmelsgötter verehrt. Durch ihre stetigen Überfälle haben sie die auf Ackerbau basierten alteuropäischen Sozialstrukturen zerstört und die langlebige  Zivilisation mit ihren Glaubensvorstellungen und Traditionen zerstreut & überlagert. Diese radikale Veränderung, die Marija Gimbutas auch immer wieder mit der in Amerika nach der Entdeckung und Kolonisation vergleicht, und die von ihren Gegnern immer wieder in Frage gestellt worden ist und wird, ist durch spätere archäologische, historische, genetische wie linguistische Forschung in vielerlei Hinsicht bestätigt worden.

Von den vielen Auszeichnungen, die ihr im Laufe ihres Lebens verliehen werden, bedeutet der Ehrendoktor ihrer alten Alma Mater, der Vytautas-Magnus-Universität Kaunas, ihr am meisten, der ihr 1993 verliehen wird. Da ist sie schon schwer krank. Am 2. Februar 1994 erliegt sie, 73jährig, im U.C.L.A. Hospital in Los Angeles ihrem Krebsleiden. Die außerordentliche Wertschätzung, die ihr vor allem auch in ihrer alten Heimat entgegengebracht wird, zeigt sich noch einmal bei ihrem Begräbnis auf dem Friedhof Petrašiūnai in Kaunas, an dem Tausende teilnehmen.

Hinterlassen hat sie zwanzig Bücher und dreihundert wissenschaftliche Artikel. Posthum erscheint 1999 noch "The Living Goddesses", das von Miriam Robbins Dexter, Doktor der alten indogermanischen Sprachen, Archäologie und vergleichender Mythologie an der UCLA, ergänzt worden ist. Ihren Nachlass bewahrt das OPUS Archiv und Forschungszentrum in Santa Barbara.

War der Grund für "unsere" Bekanntschaft anfangs ein recht banaler, haben die letzten beiden Bücher Marija Gimbutas Erinnerungen, Bilder, bis dahin wenig Sichtbares, das im Kern meines Innern von kleinauf da war, für mich sichtbar gemacht. In der Geschichte und Vorgeschichte, für die ich mich immer interessiert und die ich als Fach ja auch studiert habe, konnte ich mich als Frau nie wiederfinden, handelte sie zum größten Teil nur von Männern. Mit meiner realen Erfahrung hatte so vieles überhaupt nichts gemein und doch war da eine Ahnung. 

Dank des Engagements von Marija Gimbutas und ihres interdisziplinären Ansatzes weiß ich, was in der Vergangenheit passiert ist, fühle ich mich bestätigt und ermuntert, am Ball zu bleiben und meinen Beitrag zu leisten, den Beitrag der Frauen zum Gelingen einer Gesellschaft immer wieder darzustellen.

Ihr Hauptwerk habe ich aus dem Dunkel meines Bücherregals befreit und erfreue mich nun hin und wieder an all den schönen Kunstwerken, die darin zu finden sind.





9 Kommentare:

  1. Guten Morgen liebe Astrid, wieder soviel reichhaltiger Stoff zum eigenen weiterlesen, forschen etc, - von Dir so gut aufgearbeitet und präsentiert! Ich musz zu meiner Schande gestehen, dasz mich Archäologie und Verwandtes nie interessiert hat, obwohl (oder gerade weil) ich eigentl. aus einem archäol. interessieerten Elternhaus komme, wo das aber alles nicht kindgerecht war und mich das Unverstandene, doch zwangsweise Stundenlange daran zu Tode langweilte bzw. für den Rest des Lebens abschreckte - -
    Der Name M. Gimbutas ist mir dennoch bekannt...

    Was mir am Anfang des Artikels in den Kopf kam, hat jetzt eigentlich garnix mit M.G. zu tun, aber vielleicht sprechen Dich als Stick-Interessierte die schönen farbigen Bücher von Belinda Downes auch an, hier nur mal ein Zufälliges, Du findest beim Suchen ganz sicher mehr, teils nur in Englisch, aber das tut da nix, denn die Märchen sind eh bekannt, die sie textil illustriert hat
    https://www.rebuy.de/i,2681181

    Und noch etwas fiel mir ein, ein unspektakulärer Gegenwartsfilm, der die Bestattungsriten der Merja zum Thema hat, ich habe ihn sehr gern gesehn, ich mag solche Filme
    https://de.wikipedia.org/wiki/Stille_Seelen
    Eigentlich ist das alles jetzt völlig off Topic.... aber vielleicht wieder etwas Inspirationsfutter für Dich (?)
    Januarfeuchtkühle Grüsze, aber herzlich gemeint
    Mascha

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  2. Ja, dieses Herabschauen auf *bäuerliches* Kulturgut, *einfache* Lebensweisen, dabei ist diese doch so wichtig. Da viele meiner Vorfahren aus diesem Bereich waren und sind, schon seid Generationen, habe ich vielleicht einen anderen Blick auf diese Geschichte. So waren die Frauen dort schon immer selbstbewußt und eigenständig und gleichberechtigt. Ohne sie gab es nämlich keine Zukunft! So war es sicher auch schon in der Frühgeschichte.
    Was für ein interessantes Portrai wieder einmal! Danke Dir.
    Liebe Grüsse
    Nina

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  3. Marija Gimbutas war eine bewundernswerte und weltgewandte Frau. Sie hat uns Frauen eine neue Weltanschauung gelehrt. Ich habe mich dann damals auch viel mit feministischer Theologie befasst und nun endlich als alte Frau auf Malta vor drei Jahren u.a. auch die "Sleeping Lady" besucht.
    Wie Du schon schreibst: "Mit meiner realen Erfahrung hatte so vieles überhaupt nichts gemein und doch war da eine Ahnung."
    So ging es mir auch als Mädchen vom Land, das als junge Frau in der Stadt dann "wusste", dass da noch mehr war und u.a. durch Marija Gimbutas auf die Spur kam.
    Ein sehr spannendes Portrait, ich sage herzlichsten Dank,
    Sieglinde

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  4. Liebe Astrid,
    "Die Sprache der Göttin" steht bei mir seit 1995 im Bücherregal. Dein ausführlicher Artikel über Marija Gimbutas regt mich an, es einmal wieder herauszuholen und anzuschauen sowie nachzulesen. Danke.
    Viele liebe Grüße, Synnöve

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  5. Marija Gimbutas hat in ihrem Fachgebiet einiges erreicht und geprägt. Eine imponierende Persönlichkeit.
    Wieder ein Fenster, dass du bei mir aufgestossen hast. Danke!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  6. Sie war wirklich rundum außergewöhnlich. Immer wieder erstaunlich, wie schwer es Männern auch heute noch fällt, die Bedeutung der Frauen wahrzunehmen. Ich schwanke immer zwischen Ärger und Mitleid.
    LG vom Meer
    Magdalena

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  7. Liebe Astrid,
    ein feines Porträt einer starken Frau, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Weg unbeirrbar ging. Danke für die Vorstellung.
    Einen schönen Sonntag, Marita

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  8. wieder ein schönes und ausfürhrliches Portrait
    sehr interessante Forschungen hat sie betrieben
    es bestätigt mir das was ich irgendwie immer im Kopf habe
    in grauer Vorzeit muss die Frau verehrt worden sein
    den sie gebahr das Leben
    da konnte der Mann sich noch so anstrengen ..
    dazu war er nicht fähig
    wann und warum sich das geändert hat ..keine Ahnung
    jedenfalls denke ich so ;)

    liebe Grüße
    Rosi

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  9. danke dir für die ausführliche Recherche und Vorstellung dieser außergewöhnlichen Wissenschafterin! Ich beschäftige mich schon lange mit diesem Themenkreis, kannte Marija Gimbutas aber bisher nur oberflächlich.
    lg

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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