Donnerstag, 11. Dezember 2025

Great Women #440: Linda Rennings

 
Und wieder ist eine 'Kachel' voll, haben weitere fünfzehn Porträts von spannenden Frauen ein neues Quadrat gefüllt, das neunzehnte übrigens. Und je mehr ich in diese Frauenleben eintauche, um so mehr merke ich, was Frauen leisten & bewirken, ohne im Vordergrund zu stehen, ohne Glamour, Orden, Bezahlung usw. usw. Und - ehrlich gesagt - es macht mich wütend, je mehr ich weiß. Mich faszinieren auch nicht Frauen, die im Sinne von "great" als "großartig" betrachtet werden können. Nein, es sind immer wieder auch Frauen, die an der Stelle, auf die sie das Leben "geworfen" hat, die auf sie zugefallene Aufgabe erledigen. Eine solche Frau habe ich heute für euch, auf die ich schon vor Jahr & Tag in meiner Stadt aufmerksam geworden war. Vor drei Tagen ist sie 62 Jahre alt geworden: Linda Rennings.

"Überlebt haben wir schon in der Mau-Mau-Siedlung 
nicht dank schöner Worte."
.....
"Du kannst jemanden von der Straße runterholen, 
aber du kriegst die Straße 
nie wieder aus dem Menschen raus."
 
Am 8. Dezember 1963 also hat Melissa Linda Rennings in Köln - Mülheim auf der Schäl Sick, wie wir Linksrheinischen, oft abwertend, sagen, das Licht der Welt erblickt. Viel Licht ist da allerdings nicht für das kleine Mädchen: Ihre Mutter überlässt das Baby ihrer 61jährigen Mutter, der Vater ist unbekannt. Sie sei "ein Wanderpokal gewesen", sagt Linda selbst. Der Pokal sei meistens im Besitz der Oma Lina gewesen, "manchmal kam ich auch zur Tante und immer mal wieder zu meiner Mutter, die leider das Sorgerecht behalten hat, obwohl sie Alkoholikerin war und unberechenbar".
 
"Mau-Mau-Siedlung" in Dünnwald
Sie wird in der sogenannten Mau-Mau-Siedlung "Auf der Schildwache" in Köln-Dünnwald, an der Grenze zu Leverkusen gelegen, groß. Mau-Mau-Siedlung heißen damals bundesweit, nicht nur in Köln, die am Rand der zerstörten Städte liegenden provisorischen Elendsviertel. 

Die Bezeichnung ist abwertend gemeint, vergleicht sie doch die Bewohner mit den gegen die Kolonialherren wütenden, zu Recht rebellischen Kenianer während  des gleichnamigen Krieges 1953. Wenn man den Jargon der Bessergestellten genau nimmt, meinen die damit "Assis". Dabei haben die Menschen, die solcherart leben müssen, einfach einen viel größeren Packen an Problemen, die sie in ihrem Alltag stemmen müssen.

Linda wohnt also meist bei ihrer Oma, in einer anderthalb Zimmer - Wohnung mit Wohnküche und Toilette mit Waschbecken, direkt unterm Dach. Es gibt einen Kohleherd, der mit gesammelten Briketts ( die von der "Klüttenbahn" nach Leverkusen gefallen sind ) und im nahen Wald gesammelten Holz befeuert wird, einen Zweiplattenkochherd und eine Wäscheschleuder. Mehr Luxus gibt es nicht, auch nach den Wohlstandsjahren in der jungen Bundesrepublik. Gewaschen wird in einem großen Topf auf dem Kohleherd. Und auf dem Herd wird auch das Wasser für das Baden in einer Bütt erwärmt. Linda geht nie verwahrlost oder schmutzig vors Haus.

Die Oma ist 1902 selbst als vaterloses Kind auf die Welt gekommen, in einem Waisenhaus aufgewachsen und hat dann als Kaltmamsell bzw. Hauswirtschafterin gearbeitet. Schließlich hat sie einen Konditor geheiratet, mit dem sie fünf Kinder bekommen hat. Die hat sie alleine durch den Krieg gebracht, ist mit ihnen evakuiert worden und anschließend wieder nach Köln zurückgekehrt. Als ihr Mann aus Krieg & Gefangenschaft heimkehrt, ist er tuberkulosekrank. Er stirbt kurz nach der Geburt von Lindas Mutter. Die Oma verdient den Lebensunterhalt mit dem Putzen von Büros, der Gräberpflege, dem Reparieren von Kleidung. Ihre Nähmaschine darf das Kind nicht anrühren, damit diese Lebensgrundlage nicht kaputt geht. Eine Rente bekommt sie nicht, denn sie bzw. ihre Arbeitgeber haben keine entsprechenden Beiträge entrichtet.

Der Wiener Platz in den 1960er Jahren
"Meine Mutter ist meiner Oma früh entglitten. Das haben ihre anderen Kinder bestätigt..", so Linda. Nachdem diese ihr Kind bei der Großmutter gelassen hat und abgetaucht ist, lässt sie sich erst wieder blicken, als das Mädchen fünf, sechs Jahre alt ist. Die Begegnung mit der ihr fremden Frau ist ein Fiasko, zerstört Linda doch das Kleid, welches sie ihr als Geschenk mitgebracht hat. Die Mutter behält auch trotz ihrer permanenten Abwesenheit - siehe das Zitat oben - das Sorge- & das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Immer wieder wird es in den nächsten Jahren zu gewalttätigen Szenen kommen, wenn die Mutter das Kind zu sich holen will, selbiges sich aber weigert, mitzukommen. Oma und Mutter gehen aufeinander los, doch die Großmutter zieht immer den Kürzeren. Anschließend lebt das Mädchen entweder auf dem Campingplatz, Wohnwagen, Kellerloch oder einem 
"halbwegs annehmbaren Haus irgendwo in der Stadt. Mit immer anderen Männern, die ich nicht kannte und die sie so oft wechselte, dass ich gar nicht hinterherkam.  Der Alkohol war der einzige Begleiter, der beständig an ihrer Seite blieb." ( Quelle hier )

Mit Gewalt umgehen oder sie auszuhalten, ja, sie förmlich zu riechen, das lernt Linda bei einer solchen Mutter. Wenn sie bei ihr ist, geht Linda auch nicht zur Schule, damit keiner die Spuren des Teppichklopfers sieht. 

Bei der Oma ist das anders: Dort besucht sie die Schule "Am Portzenacker", lernt Hochdeutsch zu sprechen, nachdem ihre Lehrerin die Großmutter bei einem Hausbesuch davon überzeugt hat. Die Kinder aus der Mau-Mau-Siedlung treten immer als geschlossene Gruppe in der Schule auf, um kollektiv Stärke zu zeigen, haben sie doch aufgrund ihrer Wohnverhältnisse einen miserablen Ruf. Die Lehrer seien fast alle in Ordnung gewesen. Und als einer geschlagen hat, ist die resolute Oma in die Schule gestürmt. Später besucht Linda die Hauptschule an der Odenthaler Straße.

Dort wird sie eher gehänselt, trägt sie doch nie die angesagten Klamotten. "... den geringschätzigen Blick, das abwertende Urteil, die mangelnde Gleichberechtigung oder Wertschätzung" wird ihr für immer im Gedächtnis bleiben.

"Die Attraktion im Alltag waren wir Kinder. Gameboys gab es keine, Internet und Social Media waren noch nicht erfunden, wir mussten miteinander vorliebnehmen, uns unsere Spiele selbst ausdenken und sie gemeinsam zu einem guten oder schlechten Ende bringen. Wir erlegten keine Bildschirmmonster, sondern verprügelten uns gegenseitig, wenn es sein musste. Danach vertrugen wir uns wieder. Früher oder später."
"Das Entscheidende waren wir Pänz", nicht die Schule. Doch die Oma sorgt dafür, dass das Mädchen nicht im Heim landet und einen ganz guten Abschluss nach der zehnten Klasse macht. Noch mehr bringt sie ihr die Bewältigung des Alltags bei, wie man Krisen überwindet, wie man kämpft: "Aufgeben ist keine Option." Kraft wird ihr diese wichtige Bezugsperson ihr ganzes Leben lang geben. Was die Oma nicht kann: In den Arm nehmen, "zärtliches Kuscheln und Streicheln". Das bedeutet für die alte Frau, dass man sich hängen lässt.

Mit sechzehn beginnt Linda eine Lehre zur Fleischereifachverkäuferin, hat einen ersten Freund, bald auch eine eigene Wohnung im selben Haus wie die Oma. Diese  wird sehr krank, und die Rollen kehren sich um. Linda will ihren Tod kurz vor ihrem 18. Geburtstag, am 29. November 1981,  nicht wahrhaben, bricht zusammen, als sie im Sarg weggebracht wird. Ihren Geburtstag, so nahe am Sterbedatum der wichtigsten Person in ihrem Leben, wird sie erst wieder mit fünfzig feiern können.

Zum Glück hilft ihr eine Nachbarin, Wohngeld zu beantragen, denn Linda kann ohne Unterstützung ihrer Großmutter die Wohnungsmiete von ihrem Lehrlingsgehalt nicht bezahlen. Trotz ihrer Trauer behält sie aber eine gewisse Lebenslust, sie ist ja noch jung & hübsch, geht gerne aus zum Tanzen. ( Fotos aus jenen Jahren hat sie keine mehr. )

Sie lernt einen Mann kennen, verlobt sich 1983 mit zwanzig Jahren. Harald, Monteur bei Ford, verwöhnt sie geradezu maßlos. Sie ziehen zusammen in die Wohnung der Oma, seine Familie, die Linda ablehnt, wohnt um die Ecke, allerdings in einem Einfamilienhaus. Linda versucht sich unter dem Druck als perfekte Hausfrau. 

Wildpinkler am Dom im Karneval © Archiv Robert Lebeck
Beim Karnevalfeiern mit Freundinnen trifft sie dann auf einen jungen Mann, der ihr auf Anhieb gefällt und mit dem sie die Nacht verbringt. Prompt wird sie schwanger. Sie ist jetzt 26 Jahre alt. 

Ihre Prinzipien - "Wenn eine Frau schwanger wird, trägt sie das Kind aus." - halten sie von einer Abtreibung ab und lassen sie sofort an eine Heirat denken. Ob ihr Karnevalsflirt der Richtige ist, spielt keine Rolle, denn ihr Kind soll einen Vater haben. Es alleine großzuziehen, traut sie sich nicht zu.

Doch sie kommt unter Umgehung des Regens direkt unter die Traufe: Der Mann, selber aus ärmlichen Verhältnissen stammend, zieht nur mit einem Koffer bei ihr ein und lässt sich von Linda aushalten: "Ich war die Macherin, ihm ist es bei mir gut gegangen." Sie arbeitet so hart, dass sie ihm die Möglichkeit für eine eigene Firma als Pflasterer schaffen kann, akquiriert Kunden, verschafft ihm eine Möglichkeit als Subunternehmer bei einer Baufirma. Obwohl er älter ist als sie, ist sie sein Kindermädchen. In die Gänge kommt ihr Mann nicht. Sein Versagen, sein Schmarotzertum verdeckt er mit Schlägen.

Linda akzeptiert drei Jahre lang, wie viele Frauen aus ihrem Bekanntenkreis, diese Unterwerfung unter patriarchalische Verhaltensweisen. "Feminismus [ist] ein Kartoffelsorte vom Mars", so wird sie ihre Unbeleckheit später charakterisieren. Damals weiß sie sich "eins mit dem allgemeinen Gefühl und dem Gesetz". 

Auf 35 Quadratmetern muss sie mit dem Mann das Trennungsjahr aushalten, bevor sie geschieden werden kann. Immer wieder ist sie schon vorher ins Frauenhaus geflüchtet, aber zurückgekehrt, weil der Mann Stein & Bein geschworen hat, er werde sich ändern. Schließlich holt sie die Polizei aus den unsäglichen Verhältnissen, weil Nachbarn Alarm geschlagen haben. Doch jetzt wird auch das Jugendamt wegen der kleinen Tochter eingeschaltet. 

So wichtig Frauenhäuser seien, schreibt Linda, so wenig beglückend bzw. stabilisierend ist der Zustand dort, die Aussichten düster und psychisch belastend. Die drohende Inobhutnahme ihrer Tochter durch das Jugendamt lässt sie zwangsläufig aktiv werden, und sie tritt nicht gerade angemessen beim Sozialamt auf, aber mit einigem Erfolg. Schließlich findet sie eine neue "Behausung" ( ihre alte Wohnung hat der Mann ausgeräumt ). 

Bei der Scheidung wird um jeden Löffel gestritten, doch die "gruseligen Erfahrungen in meiner Ehe und in diesem Scheidungsverfahren [haben] mich noch nicht geheilt", konstatiert sie in ihrem Buch. Sie ist mittlerweile 34 Jahre alt und überzeugt, alles würde besser werden. Zwei Jahre nach ihrer Scheidung verliebt sie sich wieder in einen wesentlich jüngeren Mann. Der Neue arbeitet sogar! Das Wohlergehen ihrer Familie wird nicht nur auf ihren Schultern lasten! Doch weibliche Unterordnung ist für sie erst einmal keine Option mehr. Sie macht den Mund auf, nimmt nicht mehr alles hin.
"Er hat mich zwar nicht in der Hochzeitsnacht verprügelt. Aber es dauert nicht lange, und auch dieser Mann begann, mich zu schlagen."

Warum sie nicht sofort ihre Koffer gepackt hat, ist ihr bis heute ein Rätsel.

"Der Schlag eines geliebten Menschen, so meine Erfahrung, schockiert und lähmt nicht nur - er hält auch fest. Es sei denn, er veranlasst sofort zur Flucht. Was sicherlich die bessere Reaktion ist. Aber hast du die verpasst, hat der Typ dich nicht in die Flucht geschlagen, dann nagelt er dich mit seiner Gewalt fest.

Relativierung, Beschönigung nehmen nun Raum im Kopf ein, am Ende ist es sogar die nackte Angst, die zum Bleiben drängt. Das Selbstbewusstsein geht dabei in Stücke. Linda funktioniert nur noch wie eine Maschine. Ihr Mann, durchaus kriminell, landet vor Gericht. Sie zahlt die Kaution, er verstößt gegen seine Bewährungsauflagen und muss schließlich ins Gefängnis ( von seinen Vorstrafen hat sie nichts gewusst ). "Für Männer hatte ich keine gute Hand", sagt Linda. "Meine Mutter hat es mir so vorgelebt."

Sie leben in Elsdorf bei Köln. Dort ­schafft sie das Geld für den Lebensunterhalt heran mit einer festen, sozialversicherungspflichtigen, tarifentlohnten Stelle als Gebäudereinigerin an der dortigen Grundschule und zwei Jobs morgens vorher in einer Apotheke und abends hinterher bei "netten Leuten", aber immer ohne Sozialversicherung und Steuer.  Die Tochter entflieht dem häuslichen Elend mit vierzehn. 

Nach sieben Jahren in dieser Ehe hat Linda einen Zusammenbruch. "Ich habe Stimmen gehört und Bilder gesehen, am Ende konnte ich nicht mal mehr meinen Namen sagen." Der Job ist weg, der Mann auch und alsbald dann auch die Wohnung. Im Herbst 2006 erfolgt die Zwangsräumung mittels Gerichtsvollzieher, Polizei, zwei Leuten vom Ordnungsamt und zwei Möbelpackern. Unten vor der Tür steht ein LKW für ihre Einrichtungsgegenstände. Sie ist nicht in der Lage, irgendwas für sich einzupacken, muss die Schlüssel abgeben und steht nur mit einer Jacke auf der Straße. Sie hat nicht einmal danach gefragt, wohin ihre Möbel gebracht werden. 43 Jahre ist sie alt und nichts ist ihr als Erinnerung geblieben. Dafür jede Menge Geldforderungen: Mietschulden, Kosten für die Räumung und die Lagerung.

Sie läuft in den Straßen umher, verdrückt sich in Hauseingänge, schläft in Treppenhäusern. Sieben Jahre hat sie im Ort gewohnt - für die Mitbürger ist sie offensichtlich unsichtbar geworden. Hilfe bietet ihr niemand. Sie erinnert sich schlussendlich an ihre Oma und macht sich auf den Weg zum Friedhof in Dünnwald. "Da, und nur da", sagt sie, "habe ich mich sicher gefühlt."

Friedhof Dünnwald
CC BY-SA 3.0
Für rund eineinhalb Jahre schläft sie auf dem Friedhof, ganz in der Nähe der ehemaligen Grabstelle ihrer Oma. Sie weiß nicht, ob sie sich noch eine Decke organisiert hat. Sie halluziniert, der Kohleofen der Oma wärmt sie doch, die Oma hat doch noch in der Nacht ein Brikett nachgelegt, eingewickelt in eine feuchte Zeitung, damit es möglichst nur langsam durchbrennt. Wenn im Dunkeln die roten Grablichter brennen, findet sie das heimelig, spenden die ihr doch Trost, wenn sie im Gras liegt. 

Die Friedhofsbesucherinnen, die tagsüber kommen, nehmen sie wahr, sind aber irritiert, wagen sich nicht zu nähern. Linda "containert", bettelt also nicht und verschwindet immer mehr ins innere Exil. Als die Leute merken, dass Linda ihnen nichts tut, stecken sie ihr etwas Geld zu. Sie erinnert sich an den Kiosk in der Nähe, kauft sich Zigaretten, Cola oder Kaffee. Niemand denunziert sie bei der Friedhofsverwaltung. Irgendwann allerdings ist die Hoffnungslosigkeit so groß - die Oma kommt nicht helfen - dass Linda nicht mehr leben will. Doch es erreicht sie gerade noch der Zuspruch einiger Friedhofsbesucher, sie solle das Café Auszeit des Sozialdienstes katholischer Frauen in der Kölner Innenstadt aufsuchen, damals noch am Hansaring.

Ihr gelingt es tatsächlich, dort hinzukommen, um völlig anonym den angebotenen Kaffee zu trinken, um dann die Einrichtung allerdings immer wieder fluchtartig zu verlassen. Doch irgendwann gelingt es den Sozialarbeiterinnen, Linda zu einer Übernachtung in der Notschlafstelle der Sozialdienstes zu überreden. Sie lernt beide Einrichtungen, das Comeback und das Haus Rosalie, bei mir um die Ecke im ehemaligen Kindergartengebäude mein Tochter von Vinzentinerinnen geführt, kennen. Dort nutzt sie die Duschen, eilt dann aber auch schnell wieder zu ihrem Friedhof.

In der Kleiderkammer des Sozialdienstes kann sie sich Kleidung aussuchen. Auf 45 kg ist sie inzwischen abgemagert und um Jahre gealtert. Das Ende dieser Zeit kommt erst, als nach einer Übernachtung im Haus der Amtsarzt & die Polizei vor der Tür stehen. Der Arzt setzt ihr eine Spritze, und Linda kommt erst wieder zu Bewusstsein, als sie an ein Bett in der Psychiatrie gefesselt ist. Dort wird sie weiter sediert, denn sie droht alles kurz & klein zu schlagen. Sie leidet furchtbar darunter, nicht mehr an Licht & Luft, unter Bäumen & Vögeln zu sein. Als ihr Verstand in Teilen wieder auftaucht, denkt sie erneut an Suizid. Das dreiviertel Jahr in der Geschlossenen ist "Horror pur" gewesen, erzählt Linda hinterher. Die Medikamente, die Enge, die Fremdbestimmung. "Wenn ich auch im Nachhinein sagen muss: Es war wahrscheinlich die Rettung."

Linda verweigert sich zunächst jeder Therapie – bis ihre Tochter auftaucht und sie bittet, Hilfe anzunehmen. "Da dachte ich: Es kann nicht sein, dass dat Kind sich für dich schämt." Als sie das erste Mal wieder nach draußen, zu einem Kiosk, gehen darf, wird ihr ein Bodyguard zur Seite gestellt. Das triggert ihre Gewalterfahrungen mit ihren Männern. Außerdem ist sie entmündigt worden. 
"Ich kann nicht beurteilen, ob die Tortur einer Psychose nur durch die Torturen der Psychiatrie aufgebrochen werden kann. Ich fand die Behandlung... grausam, unmenschlich und zerstörerisch." Und an anderer Stelle: "Ich war doch schon so oft Opfer von Gewalt gewesen. Konnte mich nur noch mehr Gewalt retten?"

Nach der Klinik wird sie in einer Wohngemeinschaft für psychisch kranke Obdachlose mit vier weiteren Frauen untergebracht. "Himmelschreiend" nennt sie die Bedingungen, denn es gibt keine Angebote für einen geregelten Tageslauf. 

Café Auszeit am Mauritiussteinweg
Linda begibt sich jeden Morgen ins Café Auszeit, so früh es möglich ist. Wenn sie ihren Kaffee getrunken hat, kehrt sie in ihre WG zurück. Manchmal leiht sie sich einen Hund aus, um ihn auszuführen. Dabei kommt sie im  Park in Kontakt mit "normalen" Leuten.  Im Nachhinein, findet Linda das unbedingt notwendig für Menschen in ihrer Situation. Das sei der "Schlüssel zu einer erfolgreichen Rückkehr aus der Obdachlosigkeit". Damit bricht sie aber die Regeln der Einrichtung, in der sie wohnt, und es gibt etliche Konflikte.

Ein Glücksfall ist auch die Bekanntschaft mit einer Franziskanerin, Franziska Passeck, die sich in der Obdachlosenhilfe Gubbio in der Kölner Südstadt, in der Ulrichgasse in der ehemaligen Franziskanerkirche, engagiert, die mit Linda spricht, sie wie einen Menschen behandelt und ihre religiösen Erinnerungen wieder wach ruft.

Da Linda auch kein festes Taschengeld bekommt, sondern jede Ausgabe gut begründen muss ( sogar der Zimmerkühlschrank wird regelmäßig kontrolliert ), sammelt sie Pfandflaschen, um an Bargeld für Zigaretten zu gelangen. Immer wieder flieht sie vor der Bevormundung in der WG und ihr Betreuer ist auch keine Unterstützung, steht er doch nicht auf ihrer Seite. Zwangseinweisen kann man sie allerdings nicht mehr so leicht wie früher. Und wieder hat sie auch einmal Glück, denn sie gerät an eine Ergotherapeutin, die nicht nur mit ihrem Körper & Kopf arbeitet, sondern auch Dinge mit Linda tut, die nicht zu ihrem Job gehören und die ihr zu den Kräften verhilft, die immer noch in ihr schlummern.

Nach drei Jahren in der WG wendet sich Linda an das Amtsgericht. Bei dem Brief hilft ihr die Ergotherapeutin. Die Richterin beauftragt einen Gutachter, der die WG aufsucht und offensichtlich ein positives Urteil abgibt. Linda wird vorgeladen und zeigt sich in der Lage, den Aussagen ihres Betreuers zu widersprechen. Die  vorgeschlagene gelockerte Betreuung lehnt sie ab. 

Und so wird sie wieder frei. Es gelingt ihr auch ohne Unterstützung eine Wohnung in Köln-Mülheim zu finden. Fünf Jahre hat es insgesamt gedauert, bis sie wieder selbstbestimmt leben kann. Inzwischen ist sie 48 Jahre alt. Ein Glücksschauer überkommt sie, als sie ihre noch leere Wohnung aufschließt. Und sie denkt: Du hilfst in Zukunft Menschen, denen eine eigene Wohnung als Schutzraum verwehrt ist, kümmerst dich um die Nöte und die Sichtbarkeit obdachloser Frauen.

Linda lebt von einer Minirente plus Grund­sicherung ( jetzt aufstockendes Bürgergeld ), ist sie doch erwerbsunfähig aufgrund ihrer Psychose und einer COPD. Außerdem haben ihre Knochen unter dem Draußenleben gelitten. Nicht arbeiten zu können, ist für sie allerdings hart. 

Aber sie kann die Obdachlosenzeitung für Mülheim - "Draussenseiter" - verkaufen, später sogar eigene Beiträge speziell zur Lage der obdachlosen Frauen verfassen, obwohl ihr das nötige Selbstbewusstsein fehlt, ist sie sich doch bei den Behörden immer "minderbemittelt" vorgekommen. Noch etwas später wird eine Hundekolumne dazu kommen.

Im Sommer 2012 ruft Linda eine Selbsthilfegruppe ins Leben. Sie schafft es, Geld für die Raummiete beim Paritätischen Wohlfahrtsverband zu "ergattern". Jede Obdachlose, die will, kann immer donnerstags kommen & erzählen, was sie will. Oft geht es um die sogenannten Wohnungsfreier, die Frauen ansprechen, die auffallend lange auf derselben Parkbank sitzen, und denen eine heiße Dusche und ein Bett anbieten. Was in diesem Bett passieren soll, ist klar. Es gibt genug obdachlose Frauen, die verfroren und verdreckt genug sind, um das menschenunwürdige Angebot anzunehmen...

Schließlich kann Linda selbst eine einjährige Ausbildung zur "Genesungsbegleiterin" für Menschen mit Psychiatrie-Diagnose absolvieren. Die muss sie selbst bezahlen, kann aber den Landschaftsverband Rheinland als Kostenträger gewinnen ( mittlerweile wird die Ausbildung vom Jobcenter bezahlt ). Die Ausbildung zwingt zur Selbstreflexion, und Linda gewinnt Einsichten beim Betrachten ihrer eigenen Geschichte, ihren "Untiefen". Am Ende merkt sie, wie sehr sie diese Ausbildung vorangebracht hat.

Den Verein "Heimatlos in Köln" ( H.i.K ) gründet sie 2014, Vereinssitz ist ihre Wohnung, finanziert wird er durch Spenden. "Ich bin einfach ins kalte Wasser gesprungen und hatte überhaupt keinen Plan." Inzwischen weiß sie, dass sie belastbare Mitstreiter braucht, die auch eine Ahnung von der Sache haben.

Sie will mit dem Verein ganz bewusst nur die Frauen, die auf der Straße leben, unterstützen, die – so ihre Beobachtung - von der Gesellschaft noch viel stärker übersehen werden als obdachlose Männer. Gerade mal 21 Notschlafplätze gibt es in Köln für Frauen, davon nur neun mit Hund. "Dabei darf man gerade den Frauen ihre Hunde nicht wegnehmen", sagt Linda. "Das sind doch ihre Beschützer!" Frauen auf der Straße sind stets in der Gefahr überfallen, vergewaltigt oder von Zuhältern bedrängt zu werden.

Einen solchen Beschützer hat Linda übrigens selbst bereits in Clayd gefunden, den sie kurz nach ihrem Wohnungseinzug als Welpen, krank und apathisch, einer zwielichtigen Hundehändlerin geradezu "entrissen" hat.

Während der Pandemie muss Linda sich aufgrund ihrer angeschlagenen Gesundheit besonders zurückziehen. Ihre Unterstützung besteht jetzt aus Gutscheinen für Supermärkte, damit die Menschen ohne Vorgaben selbstbestimmt einkaufen können, auch Hilfsgüter wie Hygieneartikel, Hundefutter und Getränke werden im Hot Spot in Köln-Mülheim verteilt. In der Pandemie macht sie sich auch stark dafür, dass die Containertoiletten, die zu einem Biergarten in der Mitte des Wiener Platzes in Mülheim gehören, für alle zugänglich werden. Eine öffentliche Toilette gibt es nämlich nicht. Irgendwann lässt sich die Stadt breitschlagen und unterstützt das Vorhaben, zahlt Material und das Reinigungspersonal. 

Linda wird auch zu einer gefragten Gesprächspartnerin in den Medien. Für all ihren Einsatz wird ihr 2023 die "Alternative Kölner Ehrenbürgerschaft" zusammen mit Gerhard Baum verliehen, der auch die Laudatio auf sie hält.

Das Neue Jahr 2024 fängt nicht gut für sie an: Sie landet wegen ihrer Lungenerkrankung auf der Intensivstation:

"Ich dachte, ich komme nicht mehr hoch, aber ich will den Verein nicht aufgeben, das ist mein Lebenswerk – der Gedanke hat mich doch wieder hochgebracht. Man muss immer wieder aufstehen." 

Es wird Monate dauern. Im Oktober kommt endlich auch ihr Buch "Rebellin der Straße - weiblich und wohnungslos" heraus.

Sie macht nun täglich Krafttraining, geht am Rollator, fährt mit dem E-Mobil zu den Obdachlosen auf dem Wiener Platz. Diesen Frauen bringt Linda Nützliches vorbei, praktisch, nicht zu schwer, Tierfutter zum Beispiel, Haarbürsten, Tampons oder Feuchttücher. "Mir ist es wichtig, dass sich Frauen unterwegs versorgen können." - "Mir geht’s gut. Ich brauche nicht viel. Zu meiner Tochter habe ich Kontakt.

Innerlich sieht sie sich als Berber, immer mit einer gepackten Tasche in der Diele:

"Ich muss den Himmel sehen. Das war schon als Kind so, wenn ich auf dem Rasen lag und hinaufschaute. Das war auf dem Friedhof so, als mein anderes Leben anfing. Das ist noch heute so. Ich ersticke ohne diesen Blick hinauf. Wenn ich zu Hause aufwache, reiße ich zuallererst das Fenster auf, ich muss den Himmel ­sehen. Und sollte es kalt sein, zieh ich mir ein Jäckchen über. Der Himmel ist unendlich. Ich bin frei, wenn ich dort hinaufschaue. Ich bin in der Unendlichkeit, ich bin in keiner Schublade, ich bin nicht in der Armut."

Ich bin froh, dass ich es nach fast zehn Jahren geschafft habe, euch die "Kölsche Linda" an dieser Stelle vorzustellen. Ihre Geschichte aufzuschreiben, hat mich sehr aufgewühlt.

                                                                               

Wer sich noch weiter über Obdachlosigkeit von Frauen informieren will, dem sei dieser Artikel empfohlen. Und hier findet ihr noch weitere, aufregende Frauenporträts:








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