Donnerstag, 1. September 2022

Great Women #311: Séraphine

Sie ist eine alte Bekannte, die Frau, die ich heute vorstelle, denn ich kenne sie seit den 1960er Jahren. Da waren ihre faszinierend-flirrenden Werke in meinem Deutsch-Lesebuch - "Wort und Sinn" vom Schöningh- Verlag - abgebildet und inspirierten mich zu eigenen Werken. Heute ist sie zumindest hierzulande so gut wie vergessen: Séraphine.


Séraphine Louis kommt am 2. September 1864, also morgen vor 158 Jahren, in dem Dorf Arsy im Département Oise in der Region Hauts-de-France zur Welt. Sie ist das jüngste Kind der Zugehfrau Adeline Julie Mayard ( manchmal auch Maillard ) und des Tagelöhners und Holzfällers Antoine Frédéric Louis. Den seltenen Namen Séraphine hat wohl der Pfarrer den Eltern vorgeschlagen, spielen doch die Seraphen - das sind in der Vorstellung u.a. des Alten Testaments feurige Engel, Wächter des göttlichen Thrones - in den Darstellungen in den gotischen Kirchen der Gegend eine bedeutende Rolle.

Séraphines Mutter stirbt, da ist das kleine Mädchen gerade ein Jahr alt. Der Vater folgt ihr 1871, so dass die siebenjährige Séraphine und ihre drei Schwestern als Vollwaisen zurückbleiben und die älteste Schwester die Sorge für die jüngeren Geschwister übernimmt. Sie leben abseits der anderen Menschen und Séraphines Schuldbildung bleibt unter diesen Umständen rudimentär, denn zum Lebensunterhalt muss das Mädchen beitragen, indem es Schafe hütet oder den Bauern bei verschiedenen anderen Tätigkeiten hilft. Sie verbringt viel Zeit in der Natur, liebt Bäume, Blumen und Vögel.

Alsbald wird Séraphine, ein Kind noch, ihrem eigenen Schicksal überlassen und von ihrer Schwester auf eine Stelle als Dienstmädchen in Paris vermittelt. Später tritt sie in Compiègne in den Dienst der Comtesse de Beaumini als Zimmermädchen und Küchenhilfe. 

1881 wird Séraphine dann in die "Kongregation der Schwestern des Convents de la Charité de la Providence" in Clermont (Oise) aufgenommen. Zwanzig Jahre wird sie als Laienschwester bleiben, aber kein Gelübde ablegen. Auch dort wäscht, bügelt, putzt, wachst und poliert sie wie in den privaten Haushalten zuvor. Gleichzeitig taucht sie tief in das religiöse Leben ein und gerät in mystische Stimmungen beim täglichen Beten in der weihrauchgeschwängerten Kirche, umgeben von Bildern der Frömmigkeit. Von da an und ihr ganzes weiteres Leben widmet sie sich der Anbetung der Jungfrau Maria. Warum sie das Kloster 1901 verlässt, habe ich nicht herausbekommen. 

Senlis
(1905)
Danach verdingt sie sich als Putzfrau bei einer Mademoiselle Fraissant nahe Just-en-Chaussée in ihrem Heimatdepartement. Ein halbes Jahr später kündigt sie aus Unzufriedenheit diese Stelle. Auch ihre nächste Stelle bei einer Madame Baudin verlangt ihr einen so schweren körperlichen Einsatz ab, dass sie sich – verbunden mit einem Neujahrsgruß – darüber bei ihrer alten Bekannten Madame Bonnet in Senlis beklagt. Die vermittelt ihr eine Stellung im Ort bei Madame Mouy, deren Mann im Sterben liegt und ihr Dienstmädchen im Krankenhaus, die also sofortige Hilfe dringend nötig hat. 

Die mittlerweile 39jährige geht nun in das Städtchen, 50 Kilometer von Paris entfernt. Senlis ist eine  mittelalterliche Ansiedlung mit engen Gassen, einer beeindruckenden Kathedrale - Notre-Dame de Senlis - und vielen gotischen Kirchen, Klöstern und von hohen Mauern umfriedeten Adelssitzen. Als Madame Mouy nach Paris zieht, mag ihr Séraphine nicht folgen, sondern nimmt eine Arbeit beim örtlichen Advokaten Chambard auf.
Crème-fraîche-Töpfe, bemalt von Séraphine

Etwa 1905 will sie in der Kathedrale von der Heiligen Maria den Befehl erhalten haben zu malen: "Male zur Ehre Gottes!" Sie lässt sich von den bunten Kirchenfenstern inspirieren, besorgt sich Malzeug und malt zunächst Blumen und Früchte auf Papier, Hutschachteln, Schuhschachteln, Camembertdosen und nutzlos gewordene Holz- und Hartfaserplatten, Vasen, Krüge, Flaschen und Teller. Für viele ihrer Bilder verwendet sie eine Emailfarbe namens Ripolin, die 1889 von dem Holländer Carl Julius Riep erfunden worden ist. Diese Farbe haftet auf fast allen Untergründen und ergibt eine leuchtende, sehr wasserbeständige Oberfläche. 

Ein kleines Wasserfarbenbild steht am Anfang der für uns nachverfolgbaren künstlerischen Entwicklung. Durch eine Bleistiftvorzeichnung vorgemalt ist in der Manier der Bauernmalerei eine rote Blumenvase mit einer roten Rosenknospe, einer Weisswurz, einer roten Aster, einem Vergissmeinnicht- und zwei Hahnenfußstängeln und einem aufgeblühten Buschröschen entstanden. 

Während die Ehefrau des Advokaten die künstlerischen Aktivitäten ihrer Aufwartefrau grotesk findet, hält ihr Sohn Séraphine für talentiert und bestärkt sie. Ihre nächste Arbeitgeberin, eine Schneiderin mit Modegeschäft, erhält ebenfalls Bilder von Séraphine, die sie gerne verschenkt.

1906 mietet sie in der Rue du Puits Tiphaine im Haus Nr. 1 eine kleine Dachkammer, in der sie rund 25 Jahre wohnen wird. Dort malt sie nachts und niemand darf ihr dabei zusehen. Wenn sie in der warmen Jahreszeit beim Malen ihr Fenster offen hat, hört man Séraphine auf der Straße Choräle singen, eher schräg als schön, als ob sie in Trance sei bei ihrer Malerei. Séraphine gilt halt als Sonderling. Zu den belächelten Eigenheiten der Frau mit dem flachen, schwarzlackierten Strohhut, einer weiten Pelerine und groben Männerschuhen gehört auch, dass sie mit Bäumen spricht. Sie ist - später etwas durch den Ruhm gemildert - stetes dem Hohn der Stadt ausgesetzt.

Sie hat aber auch eine Freundin in der Gemüsefrau Mandine, die allabendlich aus unverkauften Resten eine Gemüsesuppe zubereitet und sie zusammen mit Séraphine isst. Natrürlich erhält auch diese Malereien der autodidaktischen Künstlerin. Den Lebensmittelhändler Esnaux bezahlt sie für ihren täglichen Rotwein ebenfalls mit ihren Bildern. Der größte Teil dieser frühen Werke geht allerdings bei Entrümpelungen verloren, weil man sich ihres Wertes nicht bewusst ist.

Orange et trois quartiers d’orange
(ca. 1915)
 


"Eines Tages fand ich bei Bürgern auf einem Stuhl ein Stillleben, das mir seltsam den Atem benahm. Das waren Früchte, in schwerer, schöner Materie gebildet, nicht so hingestrichen: das sollen Äpfel sein, sondern sie waren in Schönheit geschaffen und Wirklichkeit geworden. Der junge Cézanne hätte sie gemalt haben können. Ich fragte nach dem Künstler und erhielt zur Antwort ‚Séraphine‘. Als ich damit nichts anfangen konnte, erklärte man mir, dass es meine Aufwartefrau sei, eine Alte, die seit einigen Tagen meine Zimmer machte und der ich noch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.... Als Séraphine am nächsten Tag bei mir ankam, sah sie auf einem Stuhle das Stillleben.“ ( Uhde hatte es seinen Gastgebern gleich für 8 Francs abgekauft. ) „Sie begann zu lachen.  'Monsieur hat mein Bild gekauft? Es gefällt also Monsieur?‘ – ‚Sehr gut. Haben Sie noch mehr?‘  Sie brachte ein halbes Dutzend, von denen jedes einen gleich großen Eindruck auf mich machte, wie das erste. Eine seltene Leidenschaft, ein heiliger Eifer, eine mittelalterliche Glut lebte in diesen Stillleben."
Wilhelm Uhde (1910) 

Das schreibt der deutsche Kunsthändler und -sammler Wilhelm Uhde, der 1912 abseits vom lauten Paris in Senlis einen ruhigen Platz zum Arbeiten gefunden hat, in seinen späteren Erinnerungen. So beginnt eine tragische deutsch-französische Geschichte. Uhde, der schon Werke der damals noch unbekannten Künstler Pablo Picasso, Georges Braque und des "Douanier" Henri Rousseau gekauft hat, präsentiert Séraphines Werke den Freunden in Paris. Und die sind begeistert. Uhde ist ein hervorragender Kenner der zeitgenössischen Kunst, "ein Geburtshelfer der Avantgarde". Ihre Bilder auszustellen oder zu verkaufen, lehnt Séraphine allerdings ab.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges muss Uhde als "feindlicher Ausländer"  Frankreich verlassen und nach Deutschland zurückkehren. Die Folgen: Die Einrichtung seiner Wohnung in Senlis wird verkauft, und damit auch die Bilder Séraphines, die er erworben hat. Wo sie gelandet sind, wird er nie herausfinden.  

1924 kehrt Uhde in seine Wahlheimat Frankreich zurück, nachdem er die dafür erforderlichen Bürgschaften geleistet hat. Er  beginnt nun, eine neue Sammlung aufzubauen. Séraphine ist inzwischen gut über sechzig Jahre alt, als er 1927 zusammen mit seiner Schwester wieder Kontakt zu ihr aufnimmt. Anlass ist eine Ausstellung heimischer Künstler - "Exposition de la Société des Amis des Arts de Senlis"- im Rathaus der Stadt, darunter auch Séraphine. 

L'arbre de vie
(1928-30)

"Ich diene nicht mehr bei Leuten", erzählt sie Uhde, "aber es ist furchtbar schwer, denn ich bin alt und ein Anfänger, der nicht viel kann." Uhde ist völlig anderer Meinung, stellt ihr große Leinwände für Gemälde zur Verfügung und kauft alle ihre Bilder auf, vermittelt ihr Kontakte zu anderen Interessenten und stellt ihr in Paris bessere Aussichten vor. Séraphine weigert sich aber, Senlis zu verlassen. 

L’arbre de paradis,
(1929-30)

Immerhin kann Uhde sie in vielen Gesprächen aufbauen und ermuntern und es beginnt die produktivste Phase ihres Lebens. In schlaflosen Nächten malt sie ein Meisterwerk nach dem anderen, drei bis vier pro Monat und in einem Zeitraum von drei, vier Jahren entsteht ein einzigartiges künstlerisches Werk begleitet von einem kurzen Ruhm und einigem Geld, das sie mit vollen Händen ausgibt. Sie ist inzwischen sehr überzeugt von sich und zeichnet ihre Werke mit "Séraphine Louis Maillard - sans rivale". Uhde adelt sie als "Séraphine de Senlis".

ca. 1927

Alles beginnt sich aufzulösen, als bedingt durch die Weltwirtschaftskrise Uhde nicht mehr genug Ausstellungen bzw. Verkäufe ihrer Bilder organisieren und nicht mehr für alle Schulden Séraphines aufkommen kann. Der qualvolle Tod seines Lebensgefährten stürzt ihn selbst in eine große persönliche Krise und er zieht sich zurück.

Séraphine, die als Zugehfrau eine klar umrissene soziale Stellung gehabt hat, verliert sich nun in ihren Fantasien von Reichtum & Weltruhm, ihren Ängsten & Verfolgungswahn und ihren wahnhaften Anschuldigungen. Auf den Straßen von Senlis verkündet sie den Weltuntergang und hört auf zu malen. Ihr virtuoser Umgang mit der Farbe, ihre Malerei hat bis dahin "die Bruchstücke ihrer Persönlichkeit" zusammengehalten, ab 1930 manifestiert sich nun immer mehr eine psychische Erkrankung. 

Der "Courrier de l’Oise" berichtet am 7. Februar 1932, dass am 31. Januar 1932 das geistig verwirrte Fräulein Séraphine Louis, die sich als Malerin bezeichne, in das Krankenhaus von Senlis eingeliefert worden sei. Und weiter, dass diese stadtbekannte Senliser Erscheinung sicherlich bald in ein Asyl überführt würde, "wo ihr alle Fürsorge zuteil werden wird, die sie benötigt."

Tatsächlich wird Séraphine am 25. Februar 1932 in die psychiatrische Anstalt von Clermont-de l’Oise eingeliefert. Ein Arzt notiert: "Sie leidet unter chronischer Psychose, einhergehend mit Größenwahn, Malerin, hat seit Jahren zunehmend Halluzinationen.... Aufnehmen!" Uhde besucht sie noch dort, versucht ihre Unterbringung noch zu verbessern, doch die Ärzte stellen sich eher quer.

Von Pflege und Behandlung kann in dieser Einrichtung nicht die Rede sein: Statt 160 Patienten beherbergt der Pavillon, in dem Séraphine untergebracht ist, 1938 die doppelte Anzahl. Die Mehrheit der Ärzte und Krankenpfleger wird mit Beginn des Zweiten Weltkrieges eingezogen, andere fliehen vor der anrückenden deutschen Wehrmacht, die Anstaltsinsassen bleiben sich weitgehend selbst überlassen. Die Wäscherei funktioniert bald nicht mehr, die Toiletten auch nicht. Viele schlafen im Winter nackt auf dem Boden. Es gibt nicht genug zu essen, worüber sich Séraphine immer wieder beklagt. Im Sommer 1942 reißt sie schließlich Kräuter aus, um überhaupt etwas zu essen zu haben. Die psychiatrischen Kliniken des Landes werden unter der deutschen Besatzung zunehmend mangelhaft versorgt, so dass viele Insassen an Hunger und Verwahrlosung sterben, wahrscheinlich auch Séraphine. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer "extermination douce", einer angeblich "sanften", in Wirklichkeit eher grausam sich hinziehenden, allmählichen Vernichtung von etwa 45 000 Insassen psychiatrischer Anstalten in Frankreich ( zu diesen Menschen gehört auch die Bildhauerin Camille Claudel - siehe dieser Post ).

Séraphine stirbt am 11. Dezember 1942 in Clermont und wird auf dem örtlichen Friedhof in einem anonymen Massengrab bestattet. Niemand ist dabei anwesend. 

Erst im April 2005 wird auf dem Friedhof in Senlis eine schlichte Tafel eingeweiht mit dem von Séraphine gewünschten Text.

Der Kulturhistoriker Harald Keller erkennt 2008 einen Zusammenhang zwischen den von Séraphine benutzten Farben und ihren intensiven, psychedelisch anmutenden Bildern. Die Künstlerin hat ja nachweislich mit hoch toxischen Materialien, für die heutzutage strenge Schutzregeln gelten, gearbeitet, in einem winzige Atelier, das zugleich ihr Wohnraum gewesen ist, in dem sie aß und schlief. Von entsprechenden Vergiftungserscheinungen, die Trugbilder und Wahnvorstellungen erzeugen können, kann man zu Recht ausgehen.

Nachdem sie 1955 noch auf der documenta 1 in Kassel gezeigt worden ist, ist sie bei uns doch alsbald in der Versenkung verschwunden und erst 2008/09 in der Fondation Dina Vierny im Musée Maillol in Paris wieder aufgetaucht. 2008 kommt auch die Filmbiografie des Regisseurs Martin Provost heraus, die 2009 sieben Césars, darunter in den Kategorien "Bester Film" und "Beste Hauptdarstellerin" (Yolande Moreau), erhält. Zehn Jahre später gibt es einen Dokumentarfilm "The Lost Ones: Séraphine de Senlis - Malerei und Wahnsinn" von Mathilde Hirsch, der bei Arte gezeigt worden ist.





5 Kommentare:

  1. Tja, ob da ein Zusammenhang zwischen den giftigen Farben und der Krankheit besteht, wer weiß... jedenfalls ein schreckliches Schicksal, das die arme Frau erleiden musste. Ein sehr interessantes Portrait, vielen Dank dafür!

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  2. Séraphine de Senlis kannte ich gar nicht. Was für eine beeindruckende Malerin und ihre Werke.
    Das es einen Zusammenhang geben kann zwischen den giftigen Farben und ihrem Geisteszustand, glaube ich sofort. Welche Tragödie, dass sie in einer solchen Einrichtung am Schluss leben musste und dort auch starb.
    Manche Menschen haben im Leben wirklich wenig Glück und es ist nie die richtige Zeit für sie und ihre Talente...
    Danke, dass Du sie uns hier vorgestellt hast.
    Liebste Grüße von Sieglinde

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  3. Was für ein berührendes Schicksal! Die Bilder beeindrucken durch ihre Kraft, die die Malerin in sie hineingelegt hat. Gut, dass man sie noch einmal wieder entdeckt hat.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Ich habe es nicht geschafft den ganzen Beitrag zu lesen, aber ich LIEBE die Bilder!!!! LG Susanne

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  5. Liebe Astrid,

    eine wieder ganz besondere Frau hast Du da ausgegraben. Das Schicksal ist echt oft grausam. Mein Bruder hat sie auch nicht gekannt war aber auch ganz angetan von dieser Lebensgeschichte, danke dafür!!

    Liebe Grüße
    Kerstin und Helga

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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