Donnerstag, 9. Oktober 2025

Great Women #433: Lina Loos

Als meine Tochter vor knapp sieben Wochen auf einer Reise nach Pilsen bei einer Stadtführung war, schickte sie mir eine Nachricht: "Du, ich hab da ne Frau für dich entdeckt: Lina Loos." So kam es zum heutigen Beitrag. Denn am heutigen Tag vor 143 Jahren kam sie auf die Welt.


"Ich will aber durch das Leben geformt werden, 
nicht von einem einzelnen Menschen."
.....
"... der 'Sinn der Menschheit' liegt in allen Menschen 
ohne Ausnahme und ohne Auswahl!"


Lina Loos wird also am 9. Oktober 1882 als Carolina Catharina Obertimpfler, jüngstes Kind der Caroline Ockermüller und ihres Ehemannes Carl Obertimpfler, in Wien geboren. 
Das Haus mit dem Café

Der Vater, ein Handelsmann, stammt aus der Wiener Neustadt, die Mutter aus einer wohlhabenden Bauernfamilie in Sieghartskirchen im niederösterreichischen Bezirk Tulln. Die theaterbegeisterten, vermögenden Großeltern haben in Wien den "Adlerhof" gekauft und sind so zu Stadtbürgern geworden. Das ist für die damalige Bevölkerungsentwicklung Wiens typisch, dieser Zuzug aus der Provinz.

Bei der Eheschließung 1873 erhält Caroline Ockermüller als Mitgift das damals angeblich größte Delikatessengeschäft Wiens, den Salzer am Lichtensteig. Schon 1874 haben das Ehepaar einen Sohn, den künftigen Schauspieler Karl Forest, sowie 1875 eine Tochter, die spätere Schriftstellerin Helene Dülberg, bekommen.

Zunächst wachsen die Kinder im Wohlstand mit Gouvernanten auf. Warum die Familie anschließend verarmt und umziehen muss, ist nicht herauszufinden. 

Die Mutter wird Teilhaberin einer Essigfabrik, der Vater wird über diverse Zwischenstationen in der Gastronomiebranche Mitglied der Wiener Kaffeesiedergenossenschaft und erwirbt 1897 das "Grand Café Casa Piccola" in der Mariahilfer Straße, wo sich Künstler, Bohémiens und Literaten zum regen Austausch treffen. Ab 1904 befindet sich über dem Café der Modesalon "Schwester Flöge" der Klimt-Freundin Emilie Flöge ( siehe dieser Post ). Die Bohème wird zur selbstverständlichen Umgebung des jungen Mädchens. 

Die wieder wirtschaftlich stabile Situation der Familie - die Ehe der Eltern Obertimpfler ist wohl eine rechte Hölle - macht es ihr möglich, die Anregungen des Kulturlebens aufzunehmen und zu ihren Bedürfnissen zu machen. Lina besucht das Konservatorium, nimmt dort am Schauspielunterricht teil und ist schon in sehr jungen Jahren eine stadtbekannte Schönheit, entspricht sie doch einem bestimmten Frauenbild der Wiener Intellektuellenszene, der Kindfrau oder femme enfant, dem süßen "Wiener Mädel".

"Weibliche Entdeckungen" vom Theater werden in jenen Tagen bei "Herrenrunden" wie dem Stammtisch des Schriftstellers Peter Altenberg trophäenartig herumgereicht und begutachtet. Im schlimmsten Fall werden sie, da in der Gesellschaft, ähnlich wie Tänzerinnen, als "unsittlich" gebrandmarkt, in der Männerwelt als Gelegenheit für außereheliche Beziehungen missbraucht ( siehe auch dieser Post ). Die diese Zeit prägende Frauenverachtung eines Otto Weiningers ( "Das Weib besitzt kein Ich, das Weib ist das Nichts" ) wird nur vordergründig übertüncht durch die Schwärmereien eines Altenbergs oder die farbenprächtigen Darstellungen des Malers Gustav Klimt.
Mit Peter Altenberg
(1900)

Lina wird von ihrer Schwester Helene beim Stammtisch Altenbergs im "Löwenbräu" in der Teinfaltstraße hinterm Burgtheater eingeführt. Peter Altenberg, der Prototyp des Wiener Kaffeehausliteraten, schwärmt ausgiebig von Linas "wunderbare[n] aschblonden Haaren, ihre[n] hechtgrauen Augen, ihre[r] ambrafarbige[n] Haut" ( Quelle hier ), stilisiert Lina hinauf zu einem unerreichbaren Göttinnenwesen. Bei ihm heißt sie immer  "die silberne Dame", "Heldenreizerin" und ist die "Ljuba" seiner Prosagedichte .

Doch Lina entspricht dem allem nur eingeschränkt. Schon ihre Großmutter ist eine eigenständige, resolute Persönlichkeit gewesen, und Linas selbstbewusste Mutter, eine "leidenschaftliche Geschäftsfrau" und von "ureigenstem Urteil", unterstützt die Tochter in deren Unabhängigkeitsdrang. Die trägt die modernen, weit flatternden Reformkleider und geht – für Frauen unerhört - allein ins Kaffeehaus, lebt sie doch durch das väterliche Café am Puls der legendären "Wiener Moderne".

Wenn frau Peter Altenberg trifft, dann muss frau zwangsläufig Adolf Loos, seinen 31jährigen Freund, aus dem mährischen Brünn stammend, Architekt, Wegbereiter der Moderne und Ornamentverweigerer, begegnen. Abgesehen von seinen Verdiensten um die Architektur ist Loos ein mehr als merkwürdiger Mensch. So ist er z.B. der Meinung, dass die Kaisersemmel dem Wiener deshalb so gut schmeckt, weil der rohe Teig sieben bis acht Mal mit der schweißnassen Hand berührt werden muss.

Als der blutjungen Lina eine Zigarettendose, die Loos als Anschauungsobjekt für einen seiner Design-Monologe verwendet hat, herunterfällt & zerbricht, erkundigt sie sich, wie sie den Schaden wieder gutmachen könne.  "Heiraten Sie mich!", erwidert der postwendend, so die Legende. "Du bist die Welt, der Kosmos, das Universum – eingezwängt in einen kleinen Frauenleib", schreibt er in der Verlobungszeit - da ist sie wieder, die Kindfrau, vielleicht nichts als ein hübsches kleines "Dummerl".

Ein halbes Jahr später wird die Heirat in die Tat umgesetzt. Loos hat also einen Erfolg bei der Schönen, den ihm Altenberg schwer missgönnt. Der soll sein Trauzeuge sein, ist aber "nicht zu bewegen, so früh aufzustehen", um den Wunsche seines Freundes nachzukommen. Das Paar macht sich per Kutsche auf den Weg nach Eisgrub ( heute Lednice/Tschechien ) in Südmähren, wo ein Onkel von Loos sie am 21. Juli 1902 in der Schlosskapelle des Fürsten Liechtenstein traut. 

1904

Wichtig ist Loos zum einen die Möglichkeit, der blutjungen Frau als ihr zwölf Jahre älterer Mann fortan zu erklären, wie sie die Welt, ihre Zukunft, aber auch die Vergangenheit zu sehen hat, und suggeriert auf diese Weise, ihr Leben beginne erst jetzt mit seinem Erscheinen. Loos zweite Ehefrau wird ihn & seine Anschauungen später so zitieren:

"Wenn die Braut nicht als Jungfrau ins Brautbett steigt, kann sie vielleicht herausfinden, daß ihr Mann gar nichts Besonderes ist, aber die Jungfrau hat keine Vergleichsmöglichkeit, denn sie kennt nichts anderes. Das ist der springende Punkt."

Loos behandelt sie entsprechend. Dass Lina eine Schauspielschule besucht, wertet er ab: "Die ganze Schul war ja nur zum Zeit ausfüllen." "Du wolltest dich selbst erweitern in mir", wird sie ihm in ihrem späteren Schauspielstück "Wie man wird was man ist" ( erst posthum 1994 veröffentlicht ) sagen...

Wichtig ist ihm aber auch auch das bürgerliche, wohlsituierte Gastronomenmilieu, in das der Architekt nun einheiratet, denn das junge Ehepaar wird von den Brauteltern finanziell stark unterstützt. Loos betreibt einen äußerst aufwendigen Lebensstil, es geht ihm aber sowohl gesundheitlich wie finanziell nicht gut. Er leidet an den Nachwehen einer Syphiliserkrankung und ist außerdem von seiner Mutter enterbt worden. Er hat keine eigene Wohnung mehr und lebt vorwiegend in diversen Hotels. 

Dank Lina kann er sich häuslich niederlassen. Die bis heute bekannte Wohnung liegt in der gegenwärtigen Bösendorferstraße, wird von den Schwiegereltern gezahlt und von Loos ganz in seinem Sinne ausgestattet ( die Einrichtung befindet sich heute im Wien Museum ). 

In dieser Wohnung verfestigt er quasi seinen charakteristischen, architektonischen Stil. Berühmt- berüchtigt ist das sterile weiße Schlafzimmer mit weißen Kaninchenfellen auf dem Boden (sogleich veröffentlicht in Altenbergs Zeitschrift "Kunst" ). Doch das ist kein Garant fürs Eheglück.

Solange sich Lina das alles gefallen läßt und dem autoritär-rigiden Loos folgt und ihn unterstützt, geht es einigermaßen gut. Als praktisch veranlagte, dienstbare Ehefrau hält  Lina Probleme und "Allfälliges" von ihrem Mann fern, so dass dieser in der kurzen Zeit, die sie an seiner Seite verbringt, so viele Projekte wie nie wieder in seinem ganzen Leben erarbeiten kann. Seine finanziellen Krisen - er gibt halt gerne mit beiden Händen aus - bleiben in erster Linie an ihr hängen, denn sie muss die vor der Tür stehende Gläubiger mithilfe ihrer Ausstrahlung & vieler schöner Worte abwehren. Nach zwölf Monaten steht ihr der Sinn aber nicht mehr nach ehelicher Selbstaufgabe, sondern wohl eher nach Selbstverwirklichung:

Der Auserwählte für eine Affäre ist ein 18jähriger Maturant des Akademischen Gymnasiums, Heinz Lang, Sohn der in den progressiven Kreisen Wiens bekannten Frauenrechtlerin Marie Lang, in denen auch das Ehepaar Loos verkehrt, Bruder von Erwin Lang, der an einem Nacktporträt Linas malt. Heinz Lang nimmt die Affäre wohl leider viel ernster als die 20-jährige Ehefrau und hofft, sie würde mit Adolf Schluss machen und zu ihm reisen, als er nach bestandener Matura nach England geht. 

Als Adolf Loos Langs Liebesbriefe entdeckt, beendet Lina das Verhältnis und zieht sich auf Empfehlung von Adolf Loos nach Tirol bzw. an den Genfer See und zur Kur in Vevey zurück. Heinz Lang bittet fatalerweise Altenberg um Rat, der ihm – nach den Aufzeichnungen Hugo von Hofmannsthals – antwortet: "Was Sie tun sollten? Sich erschießen. Was sie tun werden? Weiterleben. Weil sie so feig sind wie ich, so feig wie die ganze Generation, innerlich ausgehöhlt, ein Lügner wie ich." Der junge Mann, dessen Lebenszeit zu kurz gewesen ist, um mit Sinn für Ironie ausgestattet zu sein, nimmt den ersten Teil des Rates an und erschießt sich im August 1904. 

Wien hat wieder mal seinen Skandal, Arthur Schnitzler macht daraus ein Stück und viele geben Lina Loos die Schuld an diesem Suizid. 

"Es waren jedoch eher die Rituale einer sich überlebt habenden Gesellschaft, die weithin herrschende Doppelmoral und die potemkinschen Scheinwelten, an denen viele Menschen, auch die an sich fortschrittlich denkende Lina Loos, weiterhin festhielten, die zu diesem Unglück geführt hatten", urteilt Michaela Lindinger ( Quelle )

Lina entflieht der Aufregung im Januar 1905 zur Theatertruppe von Heinrich Conried in die Vereinigten Staaten, wo sie unter dem Namen Cary Lind die Luise Miller in Schillers "Kabale und Liebe" in New Haven spielt. Sie kehrt aber schon im Mai nach Europa zurück. Die "Trennung von Tisch und Bett" von Adolf Loos erfolgt dann gleich im Juni. Die heute übliche zivilrechtliche Scheidung ist in der Monarchie und auch lange danach juristisch nicht vorgesehen. Legal ist, basierend auf der damaligen Rechtslage, die noch bis 1978 Bestand haben wird, dass jegliches Eigentum der Frau mit der Eheschließung in das Eigentum des Mannes übergeht, so dass Lina ihre Wohnung in der Bösendorferstraße verlassen muss. Sie kommentiert den Sachverhalt im Nachhinein:

"Wir werden darauf bestehen, daß Frauen, welche Möbel und Wohnung mitbringen, wenn sie heiraten, eine solche Wohnung auf ihren Namen schreiben lassen, sodaß sie bei einer eventuellen Scheidung nicht einfach vor die Tür gesetzt werden können."

Ihre kurze Ehe trägt ihr fortan das Prädikat "die Frau von" ein. Doch sie ist kein Zubehör:

1911
In ihrem Stück, in dem sie ihre Ehe reflektiert, antwortet Lina auf die Frage ihres Mannes, was denn nun aus ihr werden solle nach ihrem Ehe-Aus: "Ich selbst.

Bald nach der Scheidung bezieht sie eine ruhige, von grünen Weinhängen umgebene Wohnung in der Sieveringer Straße 107. Diese Wohnung, die zunächst nur als Sommerwohnung gedacht ist und noch von Loos gestaltet, wird ihr neuer Lebensmittelpunkt. Die sachlich-bescheidene Ausstattung entspricht allerdings ganz ihren Bedürfnissen.

Es bildet sich später auch eine Art Salon um diesen Ort, wo sie sich mit ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zum regelmäßigen Austausch trifft.

1906 schreibt Peter Altenberg in einem Brief an sie: "In diesem Blick liegt die Unabhängigkeit von der Mann-Sklaverei!... für mich sind Sie das Opfer allerschamlosen Sexualität des Mannes, dem nichts heilig und künstlerisch ist..."

1907 muss Lina wegen eines Lungenleidens  mehrere Monate in einem Sanatorium im Schwarzwald verbringen, 1914 noch einmal in Davos.

Dafür, das sie von sich sagt: "Ich möchte lieber gar nichts arbeiten", ist sie eine recht umtriebige Frau. Irrwitzigerweise ist es Alfred Loos gewesen, der Lina den Weg zu Publikationen im Feuilleton gewiesen hat, als er 1904 einen ihrer Briefe im "Neuen Wiener Tagblatt" veröffentlicht hat. Darin hat sie nämlich die Schwäche der Zeitgenossen, Kirchen stilbrechend zu renovieren, kritisiert - ganz im Sinne ihres Mannes.

Weiteren Zeitungsveröffentlichungen nach der Trennung folgt ein weiteres Theaterengagement in Amerika, als Lina Lind gastiert sie 1906 in St. Petersburg, 1907 als Linda Vetter wieder in Wien. Ihr ist für ihre Selbstbestimmtheit elementar, auf eigenen Beinen zu stehen. Schauspielerei und feuilletonistische Schriftstellerei sind zu dieser Zeit die typischen Berufsbilder für kreativer Frauen. Es gibt Belege, dass Lina diese Tätigkeiten aber nicht aus Berufung & Leidenschaft betreibt, sondern sie ihr Mittel zum Zweck des finanziellen Überlebens sind:

"... nachdem ich aber leider einen Beruf ausüben muß, so bin ich am liebsten beim Theater. In den meisten weiblichen Berufen versäumt man nur acht Stunden des Tages 'Leben'! Im Theater fühlt man die Zeit noch intensiver, ja man erlebt noch unerlebtes Leben dazu. Für Menschen, die nicht gern etwas versäumen, ist es ein guter Beruf, auch wenn man nicht zu den ‚Berufenen‘ gehört."

Gänzlich finanziell auf sich allein gestellt wird sie aber erst nach Ende des 1. Weltkrieges sein, als ihre Eltern die "Casa piccola" aufgrund ihrer ökonomisch prekären Lage verkaufen müssen und ihre Tochter nicht mehr unterstützen können. Der Vater hat sein gesamtes Vermögen in Kriegsanleihen angelegt und verloren. Er ist danach aber immer noch im Kaffeehaus tätig, bis er im Februar 1927 stirbt. DieMutter lebt schon seit 1921 nicht mehr.

Von links nach rechts: Franz Theodor Csokor, Adolf Loos, Egon Friedell
Lina schreibt Texte, hauptsächlich Feuilletons und Essays, in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen, darunter das "Neue Wiener Journal", das "Neue Wiener Tagblatt", der "Querschnitt" und "Die Dame". Ihre Beiträge zeichnen sich durch Mutterwitz aus. Am schönsten sind ihre Beobachtungen der normalen "Leut" beim Heurigen & im Kaffeehaus - zutiefst wienerisch.

Die "Kunst der Lina Loos", besteht also darin, dass "sie Alltagsthemen auf eine pointierte, zugängliche Art und Weise zu vermitteln vermag, ohne obsolet oder trivial zu sein. Ihre Worte wirken zunächst beinahe „naiv“, üben aber auf leichtfüßige Manier Gesellschaftskritik, demaskieren subtil doppelmoralische Geschlechterstandards oder andere soziale Disparitäten", urteilt an dieser Stelle Anja Krobath.

Ab 1927 werden ihre Feuilletons fixer Bestandteil der Wochenausgabe des "Neuen Wiener Tagblatts", eine der auflagenstärksten Zeitungen Österreichs. Im Feuilleton veröffentlicht sie auch Aphorismen, deren Zynismus bis heute kaum an Biss verloren hat. Peter Altenberg scheint ihr ein stilistisches Vorbild zu sein. Sie wird heute als die als die "weibliche und durchaus feministische Seite der Wiener Kaffeehausliteratur" angesehen (Gürtler und Schmid-Bortenschlager). Männer & die Ehe kommen bei ihr nicht gut weg: 

"Aber ich kann meine Schadenfreude nicht verhehlen, wenn ich lese und sehe, was die Männer mit ihrer Gescheitheit aus der Welt gemacht haben - schlechter hätten wir Frauen es auch nicht machen können. Vielleicht auch nicht besser, denn die seinerzeit gelieferte Männerrippe scheint nicht erstklassig gewesen zu sein." ( Quelle hier )

Schauspielernd ist sie auch in Berlin, Leipzig, Frankfurt/Main und München anzutreffen, daneben als Diseuse auch in Kabaretts wie dem "Nachtlicht" und unter ihrem Künstlernamen Lina Vetter in der Folgeeinrichtung "Fledermaus", der Heimstätte des klassischen Wiener Kabaretts in der Kärntner Straße. Bei der Eröffnung des Etablissements darf sie den Prolog sprechen. "Hauspoet" ist Peter Altenberg und ab 1908 Egon Friedell, der Lina ebenfalls wie so viele andere berühmte Zeitgenossen zeitlebens verehren wird: Er betrachtet sie als sein "Lebensmensch", "seine Madonna". Seinen Heiratsantrag lehnt sie ab. Auch seine Muse mag sie nicht sein. "Ich suche einen Mann der mich liebt - als Lina Loos." Für sie bleibt er ein wichtiger Freund, eben nur nie Liebhaber. Stattdessen verlobt sie sich mit einem Dr. Herbert Fries aus einer Familie, der die Inzersdorfer Nervenheilstätte gehört, in der auch Peter Altenberg & Josef Weinheber Hilfe gesucht haben. Fries wird allerdings in den ersten Kriegstagen in Russland fallen.

In Friedells berühmten "Goethe" - Sketch in der "Fledermaus" tritt sie als Freundin des Abiturienten Friedell auf. Theater und Leben zeigen wechselseitige Beziehungen. Das Stückerl geht mehrere Hundert Mal über die Bühne und wird noch heute gelegentlich von Gymnasiasten aufgeführt. Lina wird als "anmutige und reizende Diseuse" beschrieben, die aber nur "Belanglosigkeiten" zu bieten hat.

Aber nicht nur Männer zieht Lina in ihren Bann, auch Frauen wie Alma Mahler, Berta Zuckerkandl (siehe auch dieser Post ) oder Grete Wiesenthal, die Tänzerin, besuchen gerne ihren Salon. Sie verkehrt nach wie vor unermüdlich in der Wiener Kaffeehausszene - nach dem Krieg im Café Central - rund um Altenberg, Friedell, aber auch Alfred Polgar, einer der bekanntesten Autoren der Wiener Moderne, und Franz Theodor Csokor, Dramaturg am Volkstheater, in dessen Ensemble Lina Mitglied sein wird, sowie der berüchtigte Karl Kraus. 

Die Beziehung mit Csokor entwickelt sich zu einem Liebesverhältnis, aus dem eine lebenslange Freundschaft werden wird – für ihn bleibt sie sein "Lebensmensch". Doch Lina mag einfach nicht als Frau überhöht werden, sie mag auch nicht die "Freie Liebe ich bin für die Befreiung der Liebe, das ist etwas ganz anderes."

"Sie sind eine Rahmabschöpferin des Lebens", meint Altenberg, der 1918 stirbt, zu ihr. Und Lina entgegnet:"Und das bin ich, weil ich schon früh erkannt habe - obenauf schwimmt die Sehnsucht!"

1921 spielt Lina am Raimundtheater und wird 1924 Mitglied - beide Theater werden vom avantgardistischen Rudolf Beer, einem Theaterenthusiasten von unerschöpflicher Vitalität geleitet - des Deutschen Volkstheaters in Wien, an dem zuvor schon ihr Bruder Karl Forest gespielt hat; hier wird im gleichen Jahr ihr Einakter "Mutter" zum 10. Jubiläum des internationalen Frauentags uraufgeführt. 

Bis 1933 ist sie dabei. Dann meldet sie sich zu einem "Kurzdrama" in der Nervenheilanstalt Steinerhof an. Dort stellt sie fest, dass ihr Leben "netter" ist als am 21. Juli 1902. Kurz danach stirbt Adolf Loos mit 62 Jahren.

Lina folgt schließlich Rudolf Beer an das von ihm geleitete Theater "Scala". Sie ist zumeist nur noch in kleinen Rollen zu sehen, denn sie leidet furchtbar an Lampenfieber. 1938 beendet sie die Schauspielkarriere, denn am Theater in der Josefstadt will sie nicht spielen, weil damit ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus verbunden ist.

Zusammen mit dem bekannten Schauspieler Rudolf Forster wagt Lina sich 1937 noch einmal an etwas Neues: ein ausführliches Treatment für einen Tonfilm: "Schau in die Ewigkeit (Legende vom inneren Licht)". Doch aus dem Manuskript wird kein Film, obwohl sich Lina das primär aus ökonomischen Gründen gewünscht hätte.

Über Österreich wird der Himmel dunkel, aber auch der persönliche über der nunmehr bald 56 Jahre alten Lina Loos:
Am 16. März 1938 springt Egon Friedell - Lina: "Wir waren vierzig Jahre befreundet!" -aus einem Fenster seiner im 3. Stock gelegenen Wohnung, während die Haushälterin mit den Gestapo-Männern spricht. Nach einer Verhaftung und schweren Misshandlung durch die Nationalsozialisten nimmt sich Rudolf Beer am 9. Mai 1938 das Leben. Franz Theodor Csokor kann noch nach dem "Anschluss" nach Polen emigrieren, bis er über Bukarest & Belgrad weiter nach Korcula flüchten muss. Alfred Polgar ist mit seiner Frau gerade in Zürich, darf ohne Arbeitserlaubnis nicht bleiben und flieht weiter nach Paris. Dr. Ilse Friedmann, eine Cousine Friedells, und ihre Lebensgefährtin Margarete "Gretl" Gerngross, Tochter eines ehemaligen Warenhausbesitzers von der Mariahilferstraße, beide aus dem engeren Kreis um Lina, begehen Anfang September 1939 gemeinsam Selbstmord. 

Ihr selbst blieb nichts anderes übrig als "im Reich des Antichristen" ( Friedell ) zu verbleiben. Da soll frau sich nicht zurückziehen? So wirklich tut Lina Loos das eben doch nicht: Am 9. November 1938 in der Progromnacht sucht sie die Stätten der Ausschreitungen und Verwüstungen auf und sagt immer wieder laut und deutlich die Worte: "Ich bin Zeuge!" - "Ich bin Zeuge". Glücklicherweise wird sie nicht verhaftet. 

Lina kämpft jetzt, da spielunfähig, um eine Invaliditätspension und bekommt schließlich eine Rente von 81,90 Reichsmark zugesprochen. Obwohl selbst gesundheitlich beeinträchtigt, kümmert sie sich noch um ihren kranken und mittellosen Bruder. Karl Forest wird letztendlich im Rahmen der "Euthanasie" im Wiener Altenheim Lainz am letzten Maitag 1944 durch eine Luftinjektion ermordet werden.

Neben der Lungenerkrankung macht ihr auch eine solche der Niere zu schaffen, aber besonders intensiv leidet sie "wie ein Hund an dieser Zeit". Ihre Freundin Leopoldine Rüther, eine Illustratorin, die sie in den 1930er Jahren kennengelernt hat, betreut Lina in ihrer Sieveringer Wohnung. Von Csokor wird sie aus dem Ausland immer wieder finanziell und durch Pakete unterstützt.

Bis 1943 verfasst sie noch ab und an Artikel für das "Neue Wiener Tagblatt". Sie arbeitet an einem philosophischen Werk mit dem Titel "Primitive Vorstellungen einer Frau vom Uranfang bis zum Ende allen irdischen Geschehens", eine Art Collage aus Bildern, Zeichnungen, Erzählungen, Reflexionen über die verschiedenen, grundlegenden Aspekte vom Sinn des menschlichen Seins. Der Entwurf bleibt Fragment, und Lina selbst verbirgt dieses Denkgebäude vor ihrer Umgebung. Sie schreibt außerhalb des Feuilletons vor allem für sich selbst, denn die meisten ihrer Werke landen in der "Schreibtischlade, die ‚Causa‘ als erledigt betrachtend". Nur wenige Texte werden noch zu Lebzeiten den Weg aus dieser Lade nehmen. Was ihr gelingt, ist ein Gedankengebäude zu errichten, aus dem sie Kraft ziehen kann, wo ihr doch eine äußere Flucht unmöglich ist.

Noch während des Krieges tritt sie dem"Österreichischen Friedensrat" bei und wird Vizepräsidentin des "Bundes demokratischer Frauen". In ihren autobiografischen Aufzeichnungen schildert Lina die letzten Kriegstage und den Einzug der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie berichtet, sie habe die Sowjetsoldaten durch die Übergabe von Brot und Salz, einer alten Willkommens- und Friedensgeste, umgestimmt, so dass Übergriffe in ihrem Wohnbezirk ausgeblieben sind. Doch das ist wohl nur die halbe Wahrheit: Auch ihre Wohnung wird ausgeplündert, manches auf der Bühne Getragene trägt sie nun im Alltag, sie steht in der Schlange beim kommunistischen Kulturstadtrat, um einen Zuschuss zu bekommen.

Das letzte Foto von Lina Loos
(1947 oder 1949)
Im Alter beginnt sie tatsächlich noch etwas Neues, publiziert wieder und engagiert sich zum ersten Mal in ihrem Leben politisch. Bisher eine ausgesprochene Individualistin, die sich Entfaltung des Individuums eingesetzt und die Verwirklichung eigener Lebensentwürfe, aktiviert sie sich sich nun in der Frauenorganisation, die der kommunistischen Partei nahesteht und ihr später angehört. Sie veröffentlicht im "Wiener Tagebuch" und in der "Stimme der Frau", der Zeitschrift des "Bundes demokratischer Frauen", dessen Vorsitzende die Architektin Grete Schütte-Lihotzky wird ( siehe auch dieser Post ). Lina Loos ist im Österreichischen Friedensrat aktiv und wird 1948 Mitglied im wiedergegründeten österreichischen PEN-Club.

1947 kommt ihr einziges Buch heraus, bezeichnenderweise "Das Buch ohne Titel" geheißen, illustriert von Leopoldine Rüther. Es enthält eine Sammlung von autofiktionalen Geschichten und feuilletonistisch-erheiternden Anekdoten – fast alle bereits in verschiedenen Zeitungen publiziert, also aus der Welt von gestern. Von der Presse wird es als Werk eines "weiblichen Altenbergs" gepriesen. Sie selbst scheint nicht eine so hohe Meinung von sich zuhaben:

"Ich habe eine berühmte Namensvetterin – Anita Loos -, die ein Buch geschrieben hat, ‚Blondinen bevorzugt‘, das ich nicht kenne. Es scheint aber ausgezeichnet zu sein, da niemand auch nur im Traum eingefallen ist, mich für die Autorin zu halten." 

Am 6. Juni 1950 stirbt Lina Loos qualvoll im Wiener Allgemeinen Krankenhaus an den Folgen eines "bösartigen Bauchfellgewächses". Ihren Körper gibt sie zur Obduktion frei. Ihr "Testament": 

"Ich bin mir nicht einmal immer klar darüber geworden, was eine große Idee ist. Heute weiß ich es: Sich einsetzen, zu kämpfen, wenn nötig zu sterben für das Wohl aller Menschen."
Das ist mal eine Quintessenz eines Menschenlebens, die möchte frau jedem auf die Agenda schreiben, dem die moralische Selbstdarstellung wichtiger ist als das eigentliche Anliegen, wie es im unterdessen sich nahezu krankhaft ausbreitenden Kulturkampf der Fall ist. Da geht es eben nicht drum, die Welt besser zu machen. So entwickeln wir uns nicht weiter.
 
Über vierzig Jahre dauert es nach ihrem Tod, bis der von Adolf Opel herausgegebene Band "Wie man wird, was man ist" durch die Publikation vieler unveröffentlichter Nachlasstexte die Entdeckung der anderen Lina Loos, nicht nur die "Frau von...", ermöglicht, eine die "schreibt, was sie will". 

Danke, liebe S., dass du so Anteil nimmst an meinen Interessen und mich auf sie aufmerksam gemacht hast! Dir widme ich diesen Post, denn du bist wie Lina der Überzeugung "sich vom männlichen Gehirn nicht mehr imponieren zu lassen - als unbedingt nötig ist". Gemeinsam haben wir diese Frau heute aus dem Schatten befreit.

                                                                                



 

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