Donnerstag, 22. August 2019

Great Women # 191: Nellie Bly

Ganz anders als bei den Lautsprechern unserer populistischen Zeiten sind bei mir Journalisten immer noch durchaus respektable Leute. Und Journalistinnen sind in dieser Reihe immer wieder von mir porträtiert worden, angefangen mit Oriana Fallaci über Martha Gelhorn, Milena Jesenská, Johanna Kinkel, Franca Magnani, Dorothy Parker bis zu Gabriele Tergit, weil ich deren Mut immer wieder beeindruckend finde. Heute stelle ich eine der berühmtesten dieser Berufsgruppe vor: Nellie Bly.


"Accept praise for its worth 
— politeness. 
Be brutally frank with yourself. 
It's safer."

Nellie Bly kommt am 5. Mai 1864 als Elizabeth Jane Cochran in Cochran's Mills, Armstrong County in Pennsylvania zur Welt. Dieser Ort ist von ihrem Vater Michael Cochran einst gegründet worden, dem örtlichen Grundbesitzer & Richter, in zweiter Ehe verheiratet mit Mary Jane Kennedy, aus einer durchaus angesehenen Pittsburgher Familie stammend und ebenfalls verwitwet wie er. Anders als diese bringt er zehn Kinder in die Ehe mit und bekommt mit Mary Jane fünf weitere, von denen Nellie das dritte ist.

Ursprünglich ist der Mann mit irischen Wurzeln Mühlenarbeiter gewesen, bevor er die Mühle selbst erwerben konnte, und ein überzeugter Verfechter der Ansicht, dass durch harte Arbeit und Entschlossenheit alles erreicht werden kann. Das beweist er auch, indem er nach und nach den größten Teil des Grund und Bodens, der das Haus der Familie umgibt, aufkauft. Und in diesem Sinne erzieht er denn auch seine Kinder.

Nellies Geburtshaus in Cochran's Mills
Doch 1870  - da ist Nellie gerade 6 Jahre alt - stirbt er 60jährig. Seine zweite Ehefrau und deren kleine Kinder lässt er in relativer Armut zurück, weil er es versäumt hat, diese ebenfalls in sein Testament aufzunehmen. Mary Jane erreicht vor Gericht immerhin, dass ihr ein Drittel des Vermögens zugesprochen wird und der Rest auf die große Kinderschar verteilt wird. Die minderjährige Nellie bekommt einen Vormund, der ihr Geld verwaltet.

Schließlich sucht die Mutter ihr Heil in einer erneuten Ehe mit einem Bürgerkriegsveteranen, der sich alsbald aber als gewalttätiger Alkoholiker herausstellt, und die nach langem Kampf vor Gericht - Scheidungen sind nicht sehr akzeptiert in der Gemeinschaft -  1879 wieder geschieden wird. Der Stiefvater ist ausfallend & brutal der Mutter gegenüber, und Nellie muss das vor Gericht bezeugen. Aus erster Hand erfährt sie, wie machtlos Frauen gegenüber Männern sind, die ihr Leben ruinieren. So entwickelt sie sich zu einer entschiedenen Verfechterin für mehr Frauenrechte und für die Berufstätigkeit von Frauen und macht sich die Lebensdevise ihres Vaters zu eigen, mit Entschlossenheit  Ziele anzugehen.

Zuerst geht sie mit 15 Jahren auf die Indiana Normal School, um Lehrerin zu werden und um die Familie unterstützen zu können, nachdem ihr Vormund ihr versichert hat, ihr Geld würde für die Ausbildung reichen. Doch schon nach dem ersten Jahr muss sie erkennen, dass dieser durch Missmanagement ihr Geld verplempert hat, und sie ist gezwungen, ihre Ausbildung abzubrechen und mit der Mutter nach  Pittsburgh zu ziehen, wo sie sich mit einer Pension über Wasser halten. Nellie hat aber auch die Hoffnung, in der großen Stadt eine andere Arbeit zu finden. Ihr Talent als auch ihr Interesse am Schreiben hat sie für sich in der Schule entdeckt. Und die Notwendigkeit, als Frau auf eigenen Beinen zu stehen, hat sie am Schicksal der Mutter ja deutlich genug erfahren. 

Doch die Realität lehrt sie auch, wie schwer das in jener Zeit umzusetzen ist.

Als sie im "Pittsburgh Dispatch", der führenden Zeitung der Stadt, einen Artikel mit dem Titel "What Girls Are Good For" des Schriftstellers Erasmus Wilson, dem "Quiet Observer" der Zeitung, entdeckt, in dem der befindet, Frauen wären am besten im Erledigen häuslicher Arbeiten aufgehoben, die berufstätige Frau hingegen sei "eine Monstrosität" und auch noch die chinesische Politik lobend hervorhebt, weibliche Babies zu töten, um die Frauen vor ihrem unvermeidlichen Schicksal zu bewahren usw. schreibt die junge Frau eine leidenschaftliche Entgegnung unter dem Pseudonym "Lonely Orphan Girl".

Die Replik erregt die die Aufmerksamkeit des Chefredakteurs der Zeitung, George Madden.  Zwar ist die Grammatik verquer, die Zeichensetzung fehlerhaft, aber der Zungenschlag erfrischend unverblümt. Madden setzt eine Notiz in die Zeitung und bittet "Lonely Orphan Girl“, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Nellie tut es und erhält eine Stelle. Für 5 Dollar die Woche beginnt sie 1885 als Reporterin für das Blatt zu arbeiten. Dafür nimmt sie auch einen "nom de plume" an, nach einem Lied des populären Songschreibers Stephen Foster:
Nelly Bly! Nelly Bly!
Bring de broom along,
We’ll sweep de kitchen clean, my dear,
And hab a little song.
Poke de wood, my lady lub,
And make de fire burn,
And while I take de banjo down,
Just gib de mush a turn.
Zu ihren ersten Aufträgen gehört eine achtteilige Serie, in der sie die Arbeitsbedingungen für Frauen in den Fabriken der Stadt  beschreibt und den Lesern einen Einblick gibt in das tägliche Leben und in die gefährlichen, unhygienischen und ausbeuterischen Bedingungen, unter denen Frauen schuften. Bald lassen die Fabrikbesitzer die neugierige Nellie vor verschlossenen Türen stehen. Doch die bleibt unbeeindruckt und verschafft sich "undercover" als zerlumpte Arbeiterin weiter Zugang. Trotz des Erfolgs verbannt man Nellie auf die "Frauenseite", um Artikel über Haarpflege, Mode, Gartenarbeit, Einkaufen, High Society und Hausarbeit zu schreiben.

Nellie in Mexiko (1886)
Aber die lässt sich mit solch unbedeutenden Aufgaben nicht abspeisen und setzt durch, als Auslandskorrespondentin nach Mexiko geschickt zu werden, begleitet von ihrer Mutter als Aufsichtsperson. Ein halbes Jahr beschreibt sie ihren Lesern die Bräuche und das Alltagsleben des unbekannten Nachbarn im Süden. Sie äußert, dass es den Armen von Mexiko-Stadt "tausende Male schlechter ging als den Sklaven der Vereinigten Staaten", deckt die massive politische Korruption auf und kritisiert die Diktatur im Land, als die Regierung einen lokalen Zeitungsreporter inhaftiert. Damit geht sie nach Meinung der Regierung zu weit, und sie muss unter dem Druck einer möglichen Verhaftung nach Pittsburgh zurück, wo sie erneut für die "Frauenseite" schreiben soll. Ihre Kolumnen veröffentlicht sie in ihrem ersten Buch "Six Months in Mexico".

Doch im Frühjahr 1887 hinterlässt sie, 21-jährig, ihren Kollegen einen Zettel: "Ich fahre nach New York. Pass auf mich auf - Bly. "

Voller Zuversicht, in der Stadt etwas zu finden, kommt sie an, sieht sich aber einer zutiefst chauvinistischen Medienszene gegenüber und muss sich als Freelancer über Wasser halten. Doch Nellie wäre nicht Nellie, wenn diese Erfahrung nicht gleichzeitig eine Inspiration wäre:

So hat sie die Idee, Artikel über die New Yorker Zeitungsszene zu schreiben und dazu die Herausgeber zu interviewen. Und die wollen natürlich durch die Bank alle den Artikel über sich lesen. Damit bekommt Nellie einen Fuß in die Tür...

So gelangt sie auch ins Büro von John Cockerill, dem Herausgeber der "New York World", eine der renommiertesten Zeitungen in New York, der ihre Interviews gelesen hat. Ihm unterbreitet sie die Idee, nach Europa zu segeln und dann mit den Ärmsten der Armen unter den Einwanderern auf einem Schiff von Europa nach New York überzusetzen, um authentisch über die Zustände während der Überfahrt und das Schicksal der Einwanderer berichten zu können. Um so weniger Cockerill von dieser Idee begeistert ist, umso mehr schätzt er Nellies Begeisterungsfähigkeit und vermittelt einen Kontakt mit Joseph Pulitzer, dem legendären Besitzer der "World". 

Es gibt da eine Geschichte, die die Beiden machen wollen, aber sie haben bisher niemanden gefunden, der dafür geeignet ist. Nun steht da eine sehr junge Frau, fast chronisch lächelnd, vor ihnen: Nellie Bly. Möchte die vielleicht für sie in eine Irrenanstalt gehen?

Das ist also eher der Trip, auf den sie Nellie schicken wollen, nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, auch auf einem Boot zu erreichen und mindestens so viele Entbehrungen von ihr verlangend wie eine Atlantiküberfahrt: Blackwell's Island - in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts das düstere Herz New Yorks mitten im East River zwischen Queens und Manhattan gelegen. Auf der Insel befindet sich ein Gefängnis, ein Hospital für Pockenkranke und eben das "New York City Lunatic Asylum". Diese psychiatrische Anstalt ist gefürchtet und berüchtigt. Und dorthin soll sich Nellie undercover für zehn Tage einliefern lassen & verrückt spielen, um den Zeitungslesern berichten zu können, wie es dort wirklich zugeht. 

Um inkognito  in eine solche Einrichtung zu kommen, muss man allerdings erst einmal dafür sorgen, dass man eingewiesen wird. Die Reporterin muss ausgebildeten Ärzten, Spezialisten der Psyche, weismachen, dass sie irre ist. Doch das stellt sich als weit leichter heraus, als in der Anstalt die geistige Gesundheit anschließend unter Beweis zu stellen. Doch für ihre Entlassung nach zehn Tagen werde er sorgen, verspricht Pulitzer.

Es ist atemberaubend, wie diese junge Journalistin die - wahrscheinlich ihre einzige -  Chance nutzt und den Auftrag mutig umsetzt: Sie quartiert sich in ein Behelfsheim für Frauen ein, zieht vorher verschlissene Kleidung an, in ihren Taschen etwas Kleingeld, einen Bleistift und ein Notizbuch ( um sich damit nicht zu entlarven, hat sie das Büchlein zuvor seitenweise mit unzusammenhängenden Phrasen und paranoiden Behauptungen vollgeschrieben ). Ihre Mitbewohnerinnen versetzt sie in Angst und Schrecken, bis eine klagt: "Noch bevor es morgen wird, wird sie uns alle umbringen." Und nach weiteren nächtlichen Merkwürdigkeiten wird am nächsten Morgen die Polizei verständigt. Einen Gerichtstermin, einige Gespräche mit Medizinern und eine Nacht in einem Krankenhaus später hat Nellie ihr Ziel erreicht: Sie wird von vier Fachärzten für geisteskrank erklärt! 

Blackwell's Island (ca. 1865 )


Der Empfang auf Blackwell's Island ist alles andere als herzlich: Auf die Frage "Was ist das hier für ein Ort?"lautet die Antwort: "Ein Ort für Irre, von dem du niemals wieder wegkommen wirst."
1600 Insassen befanden sich damals in der Anstalt, doppelt so viele, wie die Einrichtung eigentlich fassen kann. Auf Nellies Station waren 45 Patientinnen untergebracht. Das Essen bestand die meisten Tage aus verschimmeltem Brot mit ranziger Butter, zähen, kalten Fleischbrocken, wässriger Suppe oder verdorbenen Früchten. Die hygienischen Zustände waren bestürzend: Einmal wöchentlich wurden die Patientinnen gebadet, und zwar alle in einer Wanne, die morgens einmalig mit Wasser gefüllt worden war. Viele Stationsschwestern ließen keine Gelegenheit aus, die Patientinnen zu drangsalieren, zu beleidigen und zu misshandeln. "Aufsässige" kamen ins "Retreat", eine Abteilung, in der mit Gewalt auf die Patientinnen eingewirkt wurde bis hin zu schweren Verletzungen. Wurden die Ärzte darüber informiert, zog das noch brutalere Züchtigungen nach sich, hielt man doch solche Berichte für Wahnvorstellungen der Kranken. Ohnehin fand eine Behandlung durch die Ärzte praktisch nicht statt.
Nellie selbst benimmt sich ab dem Moment, in dem sie in der Psychiatrie gelandet ist, wieder völlig normal und merkt schnell, dass das keineswegs zu einer umgehenden Entlassung führt: "Je vernünftiger ich redete und handelte, für desto verrückter hielt man mich." Auch andere Patientinnen sind nicht krank, sondern Einwanderinnen, die sich nicht verständlich machen können. Andere sind einfach zu arm, um für sich selbst sorgen zu können. "Sie sind geisteskrank", stellt der Doktor fest, "und leiden unter Wahnvorstellungen", als Nellie ihm ihre Erkenntnisse mitteilt.

Bei ihr sorgt nach zehn Tagen ein Anwalt für ihre Entlassung. Fünf Tage später wird ihr Bericht veröffentlicht und löst einen Skandal aus - ein Glanzstück des frühen investigativen Journalismus! Über Nacht wird Nellie zur Starreporterin der "New York World". Zuerst erscheint der Artikel als Zweiteiler und sorgt damit für so großes Aufsehen, so dass Nellies Erlebnisse noch im selben Jahr unter dem Titel "Ten Days In A Mad-House" als Buch erscheinen. Nur Tage nach Erscheinen der Reportage wird eine Kommission eingesetzt, die die Zustände in der Einrichtung kontrollieren soll. Tatsächlich erreicht sie, dass sich die Zustände bessern und Einrichtungen modernisiert werden und mehr Geld für Essen und Personal aufgebracht wird.

1888
Den Weg, den Nellie nun als Journalistin beschritten hat, geht sie weiter: Sie gibt sich als Dienstmädchen, Revuetänzerin, Fabrikarbeiterin aus, lässt sich im Central Park von Zuhältern ansprechen, um deren Verführungsmethoden dokumentieren zu können, mimt eine Geschäftsfrau, um einen erfolgreichen Lobbyisten der Bestechung zu überführen. Die Überschriften ihrer Artikel werden immer sensationsheischender - "Wie ich einmal ein Kind verkaufte" -, und Nellie zeigt immer größeren Wagemut & Verstellung und bringt persönliche Opfer. Was sie nicht hat, ist stilistische Brillanz. Sie ist auch eine nur sehr durchschnittlich begabte Schriftstellerin. Und sie ist auch keine, die ihren Lesern strukturiert Informationen bietet oder bei ihren Recherchen in die Tiefe geht. Dafür steht ihr persönliches Erleben im Vordergrund, und sie wirkt wie ein naives junges Wesen, das einen soliden Sinn für soziale Ungerechtigkeit hat. Darauf beruht ihr Erfolg. "Girl Stunt Reporting" wird das Joe Pulitzer als großer Förderer des eher leichtgewichtigeren Enthüllungsjournalismus das nennen. Nellie bringt mit ihren Reportagen den Journalismus als Vierte Gewalt im Staat erheblich weiter, auch wenn sie nicht die erste Frau unter den  "Muckrager"( "Mistkerlen" ) ist ( das ist die sieben Jahre ältere Ida Tarbell ).

Vom Erfolg seiner Zeitung kann Pulitzer das höchste Haus zur damaligen Zeit in New York finanzieren, gleichzeitig mit dem berühmtesten Projekt der Reporterin Nellie Bly: 

Im November 1889 bricht sie nämlich auf, um das berühmte Buch "In 80 Tagen um die Welt" von Jules Verne zu unterbieten. Sie reist mit einer gewöhnlichen Handtasche, die Folgendes enthält:
"Zwei Reisemützen, drei Schleier, ein Paar Pantoffeln, einen kompletten Satz Toilettenartikel, ein Tintenfass, Füllfederhalter, Bleistifte und Durchschlagpapier, Stecknadeln, Nadel und Faden, einen Schlafrock, einen Tennis-Blazer, eine kleine Flasche und einen Tasse, diverse Garnituren Unterwäsche, einen großzügigen Vorrat  an Taschentüchern und Rüschen und, am unhandlichsten und Sperrigsten, einen Tiegel Cold Cream, damit mein Gesicht Angesicht der vielfältigen mit bevorstehenden Wetterlagen nicht rissig würde".
Von einem Schneider hat sie sich ein Kleid machen lassen, dass sie drei Monate lang durchgehend tragen kann. Darüber trägt sie einen karierten Regenmantel und so ausgestattet wird sie auch den Lesern präsentiert.

Elizabeth Bisland
Am 14. November 1889 beginnt ihr episches Abenteuer an Bord des Ozeandampfers "Augusta Victoria", allerdings mit dem Kopf über der Reling, denn sie ist noch nie zuvor mit einem Schiff gefahren. "Kann der große Traum von Jules Verne auf die Realität reduziert werden?", fragt ihre Zeitung ihre Leser, die sie mit Meldungen aus ausländischen Häfen versorgt.

Als sie Frankreich erreicht, trifft sie sogar den zweifelnden Jules Verne, der ihr aber seinen Applaus verspricht, sollte sie die Erdumrundung in kürzerer Zeit schaffen. 

Die meiste Zeit der Reise verbringt sie alleine und auf Schiffen, wie der "Augusta Victoria" von New York nach Southampton, dem Dampfer "Victoria" von Brindisi nach Colombo in Ceylon, dem Dampfer "Oriental" von Colombo nach Hongkong und schließlich der "Occidental" über Yokohama nach San Francisco. Sie absolviert diese Reise in 72 Tagen, 6 Stunden, 11 Minuten und 14 Sekunden, vier Tage vor ihrer Konkurrentin Elizabeth Bisland, die die Konkurrenz vom "Cosmopolitan" am selbigen Tag wie Nellie in westlicher Richtung um den Erdball geschickt hat, und schneller als jede andere Person bis dahin.

Die Redaktion der "World" inszeniert die Reise als riesiges Spektakel. Es gibt zahlreiche Fanartikel zur Weltumrundung, denn es ist eine Zeit, in der kommerzielle Strategien entwickelt werden, die uns heute ganz selbstverständlich sind:














Ganz Amerika wird ins Nellie-Fieber versetzt - und das über einen solchen Zeitraum! Nach zwei Wochen veranstaltet die Zeitung zum Beispiel ein Ratespiel, wie lange die Reise auf die Sekunde genau dauern wird. Hauptgewinn: eine Europareise. Eine knappe Million Leser macht da mit.

Nellies Reisebericht, später veröffentlicht, wirkt heutzutage hingegen erstaunlich belanglos: "Der tagebuchartige Reisebericht liest sich so trivial wie die Tourismustipps in einer Frauenzeitschrift", urteilt Fabienne Hurst hier. Die Reise ist auch in keinster Weise mehr ein Abenteuer, denn alle "Pfade" sind bereits "ausgetreten", die per Schiff und Bahn, immer in der ersten Klasse, meist alles inklusive, bewältigt werden müssen. Nellie besucht auch nur die Orte, die jeder oberflächliche Tourist auch besuchen würde. Dabei zeigt sie unverhohlen das koloniale Überlegenheitsdenken der Amerikaner und Europäer gegenüber dem Rest der Welt. Nur knapp entgeht sie beispielsweise der Versuchung, in Ägypten oder Sri Lanka ein Kind zu kaufen ( entscheidet sich dann aber für einen Affen als Souvenir ). Und über die Chinesen äußert sich die sonst so sozial bewusste Journalistin ausgesprochen rassistisch.

Es geht bei dieser Reise auch nicht darum, fremde Kulturen zu erforschen oder neue Bekanntschaften zu machen, Nellie selbst geht es einzig und allein darum, eine Wette zu gewinnen, deren Preis der eigene Ruhm ist. "Ich komme lieber tot und erfolgreich als lebendig und zu spät an."

Dieser Ruhm - fast dem eines Rockstars ähnlich - erweist sich allerdings als zweischneidig: Nellie kann nie wieder als Undercover - Journalistin arbeiten, dazu ist ihr Gesicht zu bekannt. Und es dauert nicht lange, dann ist er auch schon wieder verblasst, der Ruhm. Direkt nach der Reise erhält sie noch einen hoch dotierten Vertrag für Unterhaltungsliteratur, doch Nellie bekommt in den folgenden drei Jahren keinen Roman, geschweige denn eine Erzählung aufs Papier. Als ein Bruder stirbt, versinkt sie gar in eine Depression.

Doch dann lernt sie 1895 den siebzigjährigen Stahlfabrikanten und Millionär Robert L. Seaman kennen. Zwei Wochen später heiraten die beiden, und Nellie wird nun selbst zu einer Schlagzeile, so sensationsheischend ist diese Nachricht für die New Yorker.

Gerüchte, dass sie ihn nur wegen seines Vermögens geheiratet habe, scheinen selbst Seaman beunruhigt zu haben, denn irgendwann engagiert er einen Detektiv, der Nellie folgen soll. Die schreibt dann auch mehrere Artikel, die einige "Ratschläge für schlechte Ehemänner" enthalten und lüftet darin auch einige Ehegeheimnisse, die ihren Gatten dazu  animieren, sich eine Weile dem öffentlichen Interesse zu entziehen durch eine ausgedehnte gemeinsame Reise nach Europa. Von 1896 bis 1899 lebt das Paar in den meisten Hauptstädten des Kontinents, bevor es nach Amerika zurückkehrt und Nellie das öffentliche Gesicht von Iron Clad, der Firma ihres Mannes, wird, zumindest auf einer Metallkarte, die 1901 auf der Panamerikanischen Ausstellung ausgegeben wird.

Drei Jahre später wird Robert Seaman beim Überqueren der Straße von einem Auto angefahren und stirbt einen Monat später an den Folgen. Nellie ist nun alleinige Eigentümerin der Ironclad Manufacturing Co., die emaillierte Eisenwaren herstellt. In dieser Zeit entstehen die bedeutendsten Innovationen des Unternehmens:

Die eine betrifft Leistungen für die Arbeiter: Nellie stellt die Bezahlung der Arbeiter von der Akkordarbeit auf ein fixes Gehalt um einschließlich medizinischer Versorgung und Altersversorgung und bietet ihnen ein Erholungszentrum mit Turnhalle & Bibliothek.

Die zweite ist der Entwurf eines Stahlfasses ( Bild links ), zu dem sie auf einer Forschungsreise nach Europa inspiriert worden ist und das von ihrem Mitarbeiter Henry Wehrhahn perfektioniert und zum Patent angemeldet wird - bis heute ein US- Standard als "55-gallon steel drum". Darüberhinaus entwickelte sie mit der Firma eine neuartige Milchkanne und stapelbare Mülleimer.

Es ist ein gern gehätschelter Mythos, Tendenz durchschaubar, dass Nellies Sozialleistungen für ihre Arbeiter die Firma in den Ruin getrieben haben. Fakt ist: In ihrem Enthusiasmus für die Erneuerung ihres Unternehmens hat sie ihren Angestellten nicht gründlich genug auf die Finger geschaut. So hat die Finanzabteilung des Unternehmens, begünstigt durch den Geschäftsführer, Gelder veruntreuen können. Erst 1909 kommt Nellie dem Betrug  auf die Spur und müsste eigentlich 1911 ein Insolvenzverfahren einleiten. Doch das vermeidet sie und sie wird mit einem Haftbefehl wegen "Behinderung der Justiz" belegt. Der lange Rechtsstreit anschließend führt schließlich doch noch zum Konkurs. Nellie beginnt darüber für das "New York Evening Journal" zu schreiben, um andere für solche Erfahrungen zu wappnen:
"Die Anwälte der Gegenseite werden sie in einen Sumpf von Lügen tauchen. Sie werden jedes Details ihres Lebens ausgraben bis zu dem Tag als Sie ihren großen Zeh noch für die aufregendste Sache der Welt hielten - so lange bis Sie sich selbst im Spiegel nicht mehr erkennen."
An der Front in Polen
In einem letzten verzweifelten Versuch rettet sie sich 1914 nach Wien, wo sie schließlich der Ausbruch des ersten Weltkrieges überrascht. Wieder fängt sie von vorne an, diesmal als Kriegsreporterin für das "New York Evening Journal". Sie besucht die Schlachtfelder, klettert in die Schützengräben, fördert aber auch gegen Kriegsende die Hilfe und das Engagement der Vereinigten Staaten für österreichische Kinder.

1919 kehrt sie zurück, erneut in Chaos & Streit: Ihre Mutter, der sie treuhänderisch ihre letzten Vermögenswerte anvertraut hat, ist gestorben und hat alles dem ältesten Bruder Albert vermacht. Der hat dies auch auf Nellies Ersparnisse bezogen, und die muss wieder einmal vor Gericht alles zurückgewinnen. Zum Glück ergattert sie wieder einen Job als Kolumnistin. Daneben engagiert sich bei der Unterbringung von Kriegswaisenkind bei Adoptiveltern und adoptiert selbst noch im Alter von 57 Jahren ein Kind.

Kurz vor ihrem Tod 
Am 27. Januar 1922 stirbt Nellie Bly an einer Lungenentzündung. Selbst für einen Grabstein fehlt damals das Geld. Den spendiert ihr fünfzig Jahre später der Berufsverband der New Yorker Journalistinnen.

Heute gilt sie als deren Pionierin und jährlich wird vom "New York Press Club" der "Nellie Bly Cub Reporter" an eine Journalistin mit "drei oder weniger Jahren Berufserfahrung" vergeben, auch in Erinnerung an das  "Lonely Orphan Girl", das damals mit Herzblut geschrieben hat.

Vergessen worden ist die Journalistin über die Jahrzehnte nie:

In Brooklyn wurde ein Vergnügungspark ( "Nellie Bly Amusement Park" ) nach ihr benannt,  die Pennsylvania Railroad Company taufte einen Schnellzug zwischen New York und Atlantic City auf ihren Namen, ebenso die Feuerwehr von Toronto ein Feuerlöschboot.

Es gibt ein Broadway- Musical über sie, One-Woman-Shows, etliche Filme oder Filmepisoden, auch im Fernsehen. Und nicht zuletzt ist 1994 ein Krater auf der Venus nach ihr benannt worden.










11 Kommentare:

  1. Den Namen kannte ich, Du hast schon Recht, sie ist sicher eine der Bekanntesten ihrer Zunft, vor allem in der Geschichte des w. Journalismus. Aber wie so oft, habe ich den Rest erst über Deine wunderbaren Artikel erfahren.
    Liebe Grüße
    Nina

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  2. Ein Krater auf der Venus mit ihrem Namen, das hätte ihr bestimmt gefallen...
    Eine höchst interessante Frau, die ihren ganz eigenen Weg ging und wenn nicht immer wieder Männer (incl. Bruder und Vater) ihr Geld vorenthalten hätten bzw. veruntreut hätten, dann hätte sie auch eine wohlhabende Frau sein können. Ich glaube, das hätte ich ihr auch gefallen und sie hätte es verdient. So hat sie sicher viel Energie in Rechtsstreitigkeiten setzen müssen. Aber wer sich freiwillig damals in die Psychiatrie einweisen lässt, muss eh sehr viel Energie und viel Mut gehabt haben (da wieder rauszukommen ist ja heute noch riskant, wie man am Fall Gustl Mollath gesehen hat).
    Zurecht ist Nelly Bly unvergessen!
    GlG Sieglinde

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  3. Nellie Bly hat bestimmt nicht selten in ihrem Einsatz im investigativen Journalismus ihr Leben riskiert (auf jeden Fall in der psychatrischen Anstalt). Was für eine mutige Frau! Wunderbar, dass ihr Name immer noch bekannt ist und ihre Arbeit Anerkennung findet.
    Heute morgen lag keine Zeitung im Kasten, stattdessen habe ich deinen Beitrag am Smartphone verschlungen. You made my day!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Was für ein Leben, hätte noch für ein paar mehr Leute gereicht. Da hast Du mal wieder eine sehr besondere Frau gefunden.
    LG
    Magdalena

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  5. Mut, der für drei Leben reicht! Wow! Sie sind so inspirierend, deine Porträts!

    Noch sind ferien, nächste Woche auch noch, aber ich stecke schon in den Vorbereitungen. Liste über Listen werden erstellt - in der Mehrstufigkeit ist Planung einfach unerlässlich.

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  6. von Helga:

    Liebe Astrid,

    da sage mal einer Frauen waren nur als Kochtussis geeignet. Wieder diese schönen Fotos vom Jahrgang meiner Oma, gerade solche Bilder besitze ich auch, Plattenaufnahmen aus Glas. Ich bewahre sie in einer Schatulle von ihr auf, die mit Perlmutt unterlegt ist. Überhaupt diese Bebilderung über das Wirken von Nellie Bly und welch hübsche Person sie war, haben mich wieder begeistert. Auch heute werden vielen Journalisten ja Steine in den Weg gelegt, auch hier ändert sich auf der Welt nicht viel. Die Menschen sind halt so, vielleicht auch wieder gut so. Mein Arzt sagte mal zu mir: Frau Hauber, "wir wissen nicht alles"!
    Danke für diese wunderbare Recherche über diese Frau von der ich noch nie vorher gehört hatte.

    Mit lieben Grüßen, Helga

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  7. Wieder ein wunderbares Porträt über das spannende Leben einer mutigen Frau. Heute bin ich erst zum Lesen gekommen...deine Great-Women will ich nicht verpassen - ich bin immer wieder begeistert, was du recherchierst über so imponierende Frauen. Hut ab vor deren Leistungen ... das sieht heutzutage vielfach ganz anders aus.
    Lieben Gruß, Marita

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  8. auch wieder eine intereeante Frau
    die für ihren "Beruf" viel riskiert hat
    lange vor Wallraff
    auch vielseitig talentiert
    (Stahlfass z.B.)

    danke für das Portrait

    liebe Grüße
    Rosi

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  9. The Women I think about at Night by Finnish writer Mia Kankimäki shall be translated also in German. I don't know the timetable, but look here: https://www.ahlbackagency.com/book/the-women-i-think-about-at-night/

    Kankimäki wrote also about Nellie Bly and the women of the Italian Renessaince - this book is to be blamed that i went to Florence! I loved the book and warmly recommend. My review of the book is here: https://kirjaviekoon.blogspot.com/2018/10/mia-kankimaki-naiset-joita-ajattelen.html

    Liebe Grüsse und einen schönen Herbsttag!

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    1. Dear Astrid,
      I saw a glimpse of your comment but then it mystically disappeared! There is a google translator at the right side bar of my blog. But from the rest what you kindly said in your comment, I did not see. Sorry.

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  10. Eine spannende Frau. Ich habe gerade ihre Biografie vor der Nase und freue mich schon auf das schöne Buch.
    Lieben Gruß
    Andrea

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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