Donnerstag, 7. März 2024

Great Women #369: Leni Sinclair

Viele unter euch Blogleserinnen meiner Generation werden mit der heute von mir porträtierten Frau schon in ihren jungen Jahren in Berührung gekommen sein, ohne sich dessen bewusst zu sein, denn von ihr stammen viele Fotos aus der Musikgeschichte der 1960/70er Jahre, von Iggy Pop bis Bob Marley. Die Rede ist heute von der Fotografin Leni Sinclair.


"Ich würde das, was wir in den Sechzigern gemacht haben, 
nie als Revolution bezeichnen. 
Ich weiß, was eine echte Revolution sein soll...
Die wirtschaftlichen Bedingungen sind heute die gleichen wie damals...
Die Reichen werden immer reicher 
und die Armen werden immer ärmer." 

Leni Sinclair erblickt am 8. März 1940 als Magdalena Arndt in Königsberg, damals noch die nordöstlichste Großstadt des Deutschen Reiches, das Licht der Welt. Sie ist die dritte Tochter von insgesamt vier Kindern des Bauernpaares Olga & Ernst Arndt, das in Tiefensee ( heute Głębock ) einen Hof bewirtschaftet. Das Dorf liegt am Frischen Haff, welches durch einen zwei Kilometer breiten Festland-Streifen von der Danziger Buch getrennt ist, innerhalb der malerischen Masurischen Seenplatte.

Leni auf dem Arm der Mutter Olga, Irmgard,
Vater Ernst und Hildegard
(1941)
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Als im Rahmen des 2. Weltkrieges die Heere der sowjetischen Winteroffensive auch Ostpreußen erreichen und die Zivilbevölkerung im Winter 1944/45 mit voller Härte zu treffen drohen, ist die unbeschwerte Kindheit der knapp Fünfjährigen zu Ende. Obwohl die Nazibehörden eine Evakuierung lange untersagen, begeben sich die Frauen der Familie Arndt - Mutter & Großmutter mit den vier Kindern - wie viele andere Menschen in einem der zahlreichen Trecks über das Eis des Frischen Haffs auf die Flucht. 

Luftaufnahme der Sowjets von den Trecks über das Frische Haff
Diese Trecks werden aus der Luft beschossen, immer wieder brechen voll besetze Fuhrwerke ein, Menschen ertrinken im eiskalten Wasser. Sinkende Gespanne, blau-schwarz gefrorene Leiber - an solch alptraumhafte Szenen wird Leni sich später erinnern, auch an die bei der Weiterfahrt am 25. Januar auf einem völlig überbelegten Schiff von Pillau ( heute Baltijsk in Russland ) aus über die Ostsee. Mit ihrem Schiff haben sie allerdings Glück, denn es wird nicht von sowjetischen Torpedos getroffen wie die bis heute berühmte "Wilhelm Gustloff" damals am 30. Januar in der Danziger Bucht.

Die Arndt - Frauen stranden am Ende der abenteuerlichen Flucht schließlich in Vahldorf, Kreis Haldensleben, im heutigen Sachsen - Anhalt. Dort findet die Mutter Arbeit in der Landwirtschaft bei einer LPG, während der Vater noch, leukämieerkrankt, in amerikanischer Kriegsgefangenschaft ist. Später wird er im benachbarten Hillersleben Kriegsgerät rückbauen. Magdalena wächst dort, naturverbunden, in die sich konstituierende Deutsche Demokratische Republik hinein und wird Mitglied der Jungen Pioniere, die Jugendorganisation, die 1948 gegründet wird. Als solche Pionierin der Pionierfreundschaft "Walter Ulbricht" bringt sie es zu einer gewissen Lokalberühmtheit, als sie in der "Volksstimme" 1952 lobend - mit Foto! - erwähnt wird, weil sie insgesamt 3600 Kartoffelkäfer gesammelt hat.

Die Kartoffelkäfer vermehren sich damals sprunghaft und drohen, eine Ernährungskrise auszulösen. Propagandistisch ausgeschlachtet wird das Phänomen, welches ich ebenfalls als Kind in meiner badisch-sibirischen Provinz miterlebt habe & mich zur Teilnahme an ebensolchen Sammelaktionen veranlasst hat, als Versuch der Amerikaner, die sozialistische Landwirtschaft in die Knie zu zwingen. Leni lockt die Möglichkeit damals, sich auf diese Weise das Geld für ein Radio zu verdienen, deshalb ist sie mit Feuereifer dabei. 360 Mark soll das Radio kosten, und genauso viel Geld verdient sie nun mit dem Kartoffelkäfersammeln.

Mit dem Radio unter der Bettdecke hört sie die verbotenen westlichen Sender, Rias Berlin oder später Radio Luxemburg. Sie hört Jazz und verfolgt die Anfänge des Rock'n' Roll, Elvis Presley, Bill Haley, aber auch Harry Belafonte ( ihr damaliger Favorit ), Louis Armstrong & Ella Fitzgerald. Sie mutmaßt, dass das Hören dieser Musik schon damals ihre Vorstellungen vom Leben verändert hat. 
1958

Nach Abschluss der achten Klasse soll Leni, eine gute Schülerin, in ein einem Schnellverfahren am Pädagogischen Institut in Magdeburg zur Lehrerin ausgebildet werden. Die werden in der DDR dringend benötigt. Aber schon da zeigt sich der freie Geist des Mädchens: Als sie bei einer Zeremonie erklären soll, nicht an Gott zu glauben, verweigert Leni. "Ich war nicht religiös, aber wie können sie mir sagen, ich solle nicht an etwas glauben? Ich weigerte mich, dem nachzukommen und durfte meinen Abschluss nicht machen."

Als sie fünfzehn ist, kommt ihr Cousin Otto auf Besuch, der bereits in Kanada, Alaska & Kalifornien gelebt hat, vom dortigen Leben schwärmt und Leni ansteckt mit seiner Begeisterung. Im Juni 1958, gerade achtzehn Jahre alt, verlässt Leni die DDR. Ein Freund ihrer Schwester, ein Stasi-Spitzel, verhilft ihr über die Grenze. Zunächst kommt sie in einem Flüchtlingsheim unter, via Lüdenscheid und einem katholischen Mädchenheim gelangt sie dann nach Hildesheim, wo sie bei einer Freundin wohnt.

Doch schon im Jahr darauf zieht die junge Frau weiter. An Bord der "S.S. United States", dem legendären Transatlantik- Dampfschiff, überquert sie im November 1959 den großen Teich ( Foto hier ), in ihrem Gepäck eine Taxona-Kamera "mit einer guten Zeiss-Linse", die sie sich vom Abschieds-Geldgeschenk ihrer Mutter gekauft hat. 

Am 20. November beginnt ihr neues Leben in den Staaten, allerdings dann in Detroit, wo Verwandte leben. Detroit ist damals eine boomtown mit seiner Autoindustrie, ein "Schmelztiegel", in dem Deutsche, Iren, Polen, aber auch Afroamerikaner leben, und eine Jazzhochburg seit den 1920er Jahren. 

Zunächst plagt sie großes Heimweh und fühlt sich sehr einsam. Es dauert, bis die Dinge ins Rollen kommen. Um ihr Englisch zu verbessern und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitet sie als Haus- bzw. Kindermädchen in der exklusiven Gemeinde Grosse Pointe/Michigan am Seeufer. Sie beobachtet, wie Tag für Tag Busse aus Detroit ankommen und die "afroamerikanischen Köche, Wäscherinnen und Gärtner" ausspucken, die tagsüber dort arbeiten. Allein durch diese Beobachtung wird sie in ihren Anschauungen radikaler, so Leni.

An ihrem freien Mittwoch verbringt sie ihre Zeit im "Detroit Institute of Arts" & stöbert in kleinen Buch- & Plattenläden. Dort findet sie eine Ausgabe von Alan Ginsbergs "Howl and other Poems". Zu den Beatniks fühlt sie sich gleich hingezogen.
"Also rannte ich mit einem Exemplar von Allen Ginsbergs 'Howl' rum, das wurde erkannt, und so kam ich ins Gespräch mit Gleichgesinnten. Einer von ihnen war James Gurley, der später mit Janis Joplin Big Brother & the Holding Company gründete", erzählt sie an dieser Stelle. Und: "Ich dachte irrtümlicherweise, wer ein Beatnik ist, geht zur Universität."
Sie wagt also, einen Zugangstest zu machen, und wird an der Detroiter Wayne State University (WSU) zugelassen. Sie besucht zunächst Journalismus - Kurse, wählt dann aber Geographie, weil die sprachlichen Anforderungen zu hoch sind. Ihren Job als Hausmädchen verliert sie dadurch, bekommt aber schnell einen Teilzeitjob als Assistentin von Otto Feinstein, Politikwissenschaftler, Holocaust-Überlebender, Antifaschist & Herausgeber einer einflussreichen linken Zeitschrift. Über diese Verbindung stößt sie zur Anti-Atomkraft-Bewegung und nimmt in November 1961 an ihrem ersten Protest gegen Nuklearversuche teil. Die Organisation "Women Strike for Peace" ist Leni allerdings zu bürgerlich - sie fühlt sich mehr von Malcolm X ( siehe auch diesen Post ) angesprochen und tritt dann 1962 den "Students for a Democratic Society (SDS)" bei.

Mit ihrer kleinen, handlichen Kamera dokumentiert sie auch die beiden großen Demonstrationen vom 23. Juni 1963 nach der Ermordung des Bürgerrechtsaktivisten Medgar Evans bzw. dem "March on Washington for Jobs and Freedom" am 28. August des Jahres. 

Zwei Tage später schifft sie sich in New York für 300 Dollar auf der "Provence" ein. Ziel: Europa, genauer Genua. Sie folgt Walter Ulbrichts Aufforderung ( allerdings eher halbherzig ), an der Volkskammerwahl teilzunehmen und gleichzeitig ihre Familie wiederzusehen. Außerdem braucht sie Distanz, hat sie doch eine Abtreibung hinter sich und zweifelt, ob das "gelobte Land" wirklich etwas für sie ist.

Christoper Perret, Leni (1963)
Auf dem Schiff lernt sie den zehn Jahre älteren franco-amerikanischen Dichter Christopher Perret kennen und verliebt sich. In einem Gedichtband, den er Leni später schenken wird, schreibt er alle Städte auf, die sie aufgesucht und in denen sie gelebt haben: "Lyden, Chatham, London, NYC, Genua, Firenze, Paris, Brüssel, Hamburg, Berlin, Perpignan, Port-Bou, Barcelona, ​​Deya (Mallorca)". Auf Mallorca bleiben sie ein halbes Jahr - nichts da mit langem Verwandtenbesuch, aber Teilnahme an der Volkskammerwahl im Oktober! In Deya leben sie im Haus eines französischen Gestalters von Plattencovern für Santana und Miles Davis, Mati Klarwein. 

Perret wir 1965 in Deya an einer Herzattacke sterben. Aber da ist die Beziehung längst zerbrochen, Leni schon längst wieder in den Vereinigten Staaten, um ihr Studium abzuschließen:
"1964 kehrte ich zurück, beantragte die US-Staatsbürgerschaft und lernte John Sinclair kennen. Er war der Korrespondent des Jazzmagazins Downbeat in Detroit und wusste, dass ich eine Kamera habe. Bei Konzerten machte ich Fotos."

John Sinclair
(1969)
John Sinclair, ein Jahr jünger als Leni, studiert wie sie an der WSU. Mit ihm und drei weiteren Aktivisten gründet sie den "Detroit Artist's Workshop"(DAW) in einem Gebäude in der 1252 West Forest Avenue, der sich zum Treffpunkt von Künstlern außerhalb des mainstreams entwickeln und wo sie Performances, Ausstellungen, Dichterlesungen und wöchentliche Jazzkonzerte veranstalten. 

In dieser Zeit nimmt die Fotografie im kreativen Leben Lenis den ersten Platz ein. Später wird sie sagen, der Tag der Gründung der DAW sei der Tag gewesen, an dem sie sich entschieden habe, Künstlerin zu werden, und an dem sie die Philosophie der Gruppe, die sie ihr Leben lang bestimmen wird, adaptiert habe. Ihr Lebensinhalt wird nun darin bestehen, alle Aktivitäten und Bewegungen zu dokumentieren, an denen sie sich beteiligen wird.
"As a photographer she was strictly an artist, expressing her view of the world through her lens with no thought of commercial potential or popular acclaim, publishing her shots wherever they would fit in a spirit of incredible generosity", wird ihr künftiger Ehemann später konstatieren ( Quelle hier ).

Es gibt auch eine Wohnungsgenossenschaft des DAW, das "Artists Workshop Cooperative Housing Project", das sechs Häuser an der John C. Lodge Service Drive und um die Ecke in der West Hancock Street als zimmerweise Wohnungen für Künstler und andere abenteuerlustige Denker unterhält. Dieses Projekt ruht auf Lenis Schultern.

Obwohl sie als emanzipierte Frau nicht an die Ehe glaubt, heiratet sie trotz ihrer Bedenken am 12. Juni 1965 John Sinclair in der First Unitarian Church of Detroit. Drei Monate leben sie nur als Paar - die übrige Zeit hingegen in Wohngemeinschaften.

Der Jazzkritiker des "Downbeat" nimmt sie mit auf Konzerte, über die er schreibt, und Leni macht dabei Aufnahmen von John Coltrane ( ihr Foto von 1966 von ihm wird ihr meist reproduziertes Foto werden ), Andrew Hill, Joseph Jarman, Miles Davis, Thelonious Monk, Charles Mingus & Cecil Taylor, immer ganz dicht an den Porträtierten auf der Bühne bzw. backstage. Ihre Fotos finden auch Platz auf entsprechenden Plattencovern. Leni experimentiert auch mit stroboskopischen Mehrfachbelichtungen, die aber eher zufällig und aus Spaß entstehen, weil nicht genug Licht auf den Konzerten ist. "Wie das passiert ist, weiß ich nicht.

1960er Jahre
Das Paar bzw. die DAW-Gruppe lernt immer mehr Musiker, Autoren, Poeten & Filmemacher auch aus und in anderen Städten kennen. Drogen sind damals allgegenwärtig, und auch John Sinclair experimentiert damit und schreibt über seine Visionen. Schon 1964 ist er wegen eines Drogendeliktes verhaftet und aus Bewährung verurteilt worden. Im August 1965 passiert das ein zweites Mal, im Februar des darauffolgenden Jahres noch einmal. Als John 1966 aus der Haft kommt, wird eine Willkommensparty veranstaltet, auf der Leni die Bekanntschaft mit einer Band macht, mit der sie anfänglich gar nichts anfangen kann: MC5.

Die, 1964 u.a. von Fred "Sonic" Smith ( siehe auch dieser Post über Patti Smith ) gegründet, macht einen so unglaublichen Lärm, dass Leni nachts um zwei auf die Bühne geht und den Lautstärkeregler zurückdreht und später in ihrer Kolumne schreibt, Rockmusiker seien unkultiviert. Das gibt Ärger, und bei einem Joint wird der geklärt, und John Sinclair ist anschließend der Manager & politische Mentor der Gruppe, einer der wichtigsten Vorläufer des späteren Punk.

Bei deren Auftritten im Detroiter "Grande Ballroom" werden viele der inzwischen als ikonisch geltenden Aufnahmen der Leni Sinclair entstehen, die oft hinterher noch nachts in die Dunkelkammer geht und die Bilder entwickelt. Sie fotografiert nicht nur MC5, sondern auch Iggy Pop mit The Stooges oder Janis Joplin, Sly and the Family Stone, Eric Clapton. Gemeinsam mit Gary Grimshaw, einem ehemaligen Marinesoldaten, gestaltet sie psychedelische Plakate, Flyer und Cover-Collagen und mit der von den Zweien gegründeten "Magic Veil Light Company" inszenieren sie psychedelische Lichtshows auf der Bühne, bei denen sie synchron mit der Musik agieren. Dabei entstehen auch die ersten filmischen Arbeiten Lenis, gedreht mit einer Bolex-Kamera. "Das waren Vorläufer der späteren MTV-Videoclips", wird sie später sagen. Und:

"I don’t know where to draw the line between politics and culture. To me it’s all the same. Music is revolution."

Im Januar 1967 werden die Räume des DAW von der Polizei durchsucht und Leni und ihr Mann sowie weitere 54 Personen festgenommen, von denen die meisten nie angeklagt werden. Sinclair, auf Bewährung, kommt gegen eine Kaution frei. Anschließend strukturieren sie den DAW in einen losen Zusammenschluss verschiedener "Hippie"-Medien- und Produktionsfirmen in "Trans-Love Energies Unlimited" um, benannt nach einem Lied von Jefferson Airplane. 

Die neue Gruppe wird als "neue total kooperative Stammes-Lebens- und Arbeitsgemeinschaft" deklariert, deren erklärtes Ziel darin besteht, "Eigenständigkeit und Stammesverantwortung unter den Künstlern, Handwerkern und anderen Liebhabern zu fördern." Liberale künstlerische, soziale wie politische Werte werden nun also miteinander verbunden. Man möchte u.a. damit verhindern, dass entsprechend motivierte Leute an die damals sehr viel populärere Ost- wie Westküste abwandern.

Die erste große Veranstaltung der Gruppe ist ein Love-in am 30. April 1967 im Belle Isle Park, einer Insel im Detroit River. Die Veranstaltung verläuft den größten Teil des Tages friedlich, bis Mitglieder des "Outlaws Motorcycle Club" einen Mann schlagen - da kommt es zu Unruhen. Ungefähr 150 Polizisten zerstreuen die Menge und werfen die Leute von ihren Pferden aus auf den Boden. Leni ist da schon schwanger und wird später im Jahr ihre erste Tochter Marion Sunny auf die Welt bringen.

Im Juli 1967 steht Detroit beim "Detroit Riot", dem blutigsten Aufstand während des "langen, heißen Sommers von 1967" und eine der größten sogenannten Rassenunruhen der USA, in Flammen. Bei Feuersbrünsten in der 12. Straße kommen 43 Menschen ums Leben, mehr als 2.000 werden verletzt und über 7.000 werden verhaftet, darunter auch Mitglieder der MC5, und 400 Gebäude  zerstört. Die Polizei von Detroit verstärkt daraufhin die Überwachung der politisch radikalen Organisationen der Stadt, darunter auch der "Trans-Love"-Kommune.

Nach zwei Brandanschlägen, den anhaltenden Schikanen durch die Polizei und einer Ausgangssperre in Detroit aufgrund der Unruhen nach der Ermordung von Martin Luther King Jr. verläßt "Trans-Love Energies Limited" die Autostadt und man zieht in die liberalere Universitätsstadt Ann Arbor/Michigan, 64 Kilometer westlich, wo man sich in zwei viktorianischen Häusern in  der  Hillstreet niederlässt. In der neuen Kommune leben 28 Menschen - gemeinschaftliche Kinderbetreuung und gemeinsame Mahlzeiten am großen Esstisch inklusive. Die polizeiliche Überwachung hält allerdings an - ein Polizeispitzel gehört ebenfalls zur Kommune.

Am 1. November 1968 gründen die Sinclairs mit Pun Plamondon die "White Panther Party". Die Organisation versteht sich als Unterstützung für die "Black Panther Party". In ihrer Erklärung ist die Rede von einem "totalen Angriff auf die Kultur", dem Ende des Geldes, von kostenlosem Essen, kostenloser medizinischer Versorgung, dem freien Zugang zu Informationstechnologien und dem Ende der Unternehmensherrschaft, von der Freilassung aller Gefangenen, der Freilassung eingezogener Soldaten und Befreiung von "falschen Anführern". Leni wird die "Bildungsministerin" der Partei.

Leni konzentriert sich nun auf die Dokumentation der MC5- und Underground-Kultur. Sie erfasst die chauvinistische, männerzentrierte, vorfeministische Atmosphäre der Ära mit ihren Fotos. In ihrem Archiv befinden sich Porträts des MC5 mit Ledergürteln, amerikanischen Flaggen, wo mit Gewehren posiert wird - Propaganda, produziert für die White Panther Party und ihre Zeitung "Sun". Das bekannteste Foto von MC5 ist dasjenige, wo die fünf Mitglieder sich mit nacktem Oberkörper in Pose werfenDie Bilder werden in Untergrundbüchern, -magazinen und -zeitungen im ganzen Land verwendet und veröffentlicht und verbildlichen den Eindruck von einer unzufriedenen Jugend, sind eine konfrontative Darstellung der Gegenkultur. Das Motto von MC5 ist "Rock ’n’ Roll, Dope and Fucking in the Streets". Dazu Leni:

"Das war Straßenslang für laute Musik, Kiffen und unverkrampften Sex. Es war eine symbolpolitisch und sarkastisch gemeinte Zuspitzung unter dem Eindruck der sexuellen Befreiung. Im Rückblick bedaure ich das Dope." ( Quelle hier

Mit ihren Töchtern (1970)
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1969 wird John Sinclair zu neun Jahren Haft, da kein Erstdelikt, verurteilt, weil er mit zwei Joints erwischt wird. MC5 trennen sich von ihm als Manager. Andere Prominente wie Jane Fonda unterstützen die "Free John Sinclair"- Bewegung. 

Leni bekommt 1970 ihr zweites gemeinsames Kind, Celia Sanchez Mao, und muss in der DDR ihre verstorene Mutter zu Grabe tragen.

Höhepunkt der Kampagne für die Freilassung ihres Mannes ist ein Konzert am 1. Dezember 1971 in Ann Arbor, an der John Lennon ( der dafür den Song "John Sinclair" geschrieben hat ), Yoko Ono, Bob Seger & Stevie Wonder und der Poet Allen Ginsberg vor 15.000 Menschen auftreten."... drei Dollar kostete ein Ticket. Wir haben nichts da­ran verdient", erzählt Leni hier. Drei Tage später kommt John Sinclair frei, als der Oberste Gerichtshof von Michigan entscheidet, dass die Marihuana-Gesetze des Staates verfassungswidrig seien.

Bis 1974 veranstaltet John das "Ann Arbor Blues and Jazz Festival", Leni fotografiert wie immer. Die "White Panther Party" transformiert sich in die "Rainbows People's Party" und die Sinclairs kehren wieder nach Detroit zurück, wo Leni bis in die 1980er Jahre auf Konzerten u.a. mit Bob Marley, Aretha Franklin ( siehe dieser Post ), Rolling Stones, Marvin Gaye und Prince fotografiert. 

Das Ehepaar lebt sich immere mehr auseinander, trennt sich 1977 und wird 1988 geschieden. Dazu äußert sich Leni hier:
"Seine Haft hatte John schwer zugesetzt. Als er rauskam, konnten wir nie wirklich über all das sprechen, was geschehen war. Er war oft wütend auf die Welt, wir stritten uns häufig. Der Kontakt mit wichtigen Leuten wie John Lennon war ihm zu Kopf gestiegen. Ich verlor mich immer mehr und wurde zur kleinen Frau hinter dem großen Mann. Dafür hatte ich Vahldorf nicht verlassen. Hinzu kamen finanzielle Probleme, das hält keine Ehe ­lange aus."
Durch ihre Arbeit für das Detroit City Council in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren baut Leni ihr Fotoportfolio von Jazzmusikern weiter aus. "Ich habe mich intensiv mit dem Fotografieren von Jazzmusikern beschäftigt, als ich im Rahmen des CETA-Programms (Comprehensive Employment and Training Act) für die Stadt gearbeitet habe." Dieses Archiv macht ihr Buch "Detroit Jazz Who’s Who" von 1984 möglich.

1986 macht Leni das berühmte Foto von Fela Kuti im Fox Theatre in Detroit, jenem legendären Konzert, welches wenige Wochen nach Felas Entlassung aus Nigerias härtestem Gefängnis stattgefunden hat. Das Foto wird an Wänden in ganz Lagos, der Hauptstadt Nigerias, aufgehängt, wo es ein beliebtes Symbol, eine ideologische Waffe gegen Militarismus und Korruption ist. Das Bild wird auch auf T-Shirts und Postern auf der ganzen Welt verbreitet - als schickes Accessoire.

Leni lebt nun mehrere Jahre in New Orleans, bevor sie in den 1990er Jahren nach Detroit zurückkehrt. Sie selbst sieht sich als "urbane Nomadin", die allein dreißigmal innerhalb Detroits umgezogen ist.

"Mein Mantra ist bis heute: Don’t worry about money, instead live a good live. Ich konnte bis heute immer meine Miete zahlen, um ein Dach über dem Kopf zu haben."  ( Quelle hier )

Dass ihre Fotos einen Wert darstellen, merkt sie erst 1995, als ein Freund zu ihr nach Hause kommt und einige Fotos kauft. Inzwischen verkauft sie signierte Abzüge auf Schallplattenbörsen. 1998 wird ihr im Rotterdamer Museum Boijmans Van Beuningen dann auch eine Retrospektive gewidmet. 

Im Jahr 2013 nimmt sie ein Stipendium der John S. and James L. Knight Foundation entgegen für ein einjähriges Projekt zur Erstellung eines öffentlichen Archivs ihrer zuvor reichlich desorganisierten Negative von 57.000 Fotos, die die Musikszene Detroits über einen Zeitraum von einem halben Jahrhundert dokumentieren. 82.000 Scans – viele doppelt und in unterschiedlicher Qualität – werden angefertigt. Ihr Lieblingsschnappschuss ist aber der von ihr mit Richter Damon Keith, ihrem "Helden", weil er den Obersten Gerichtshof im Juni 1972 dazu gebracht hat, einstimmig zu entscheiden, dass die Regierung nicht das Recht hat, ohne Haftbefehl Abhörmaßnahmen oder Hausfriedensbruch zu begehen. 2008 hat sie ihn getroffen.

2016
Im Januar 2016 wird Leni Sinclair zum "Kresge Eminent Artist" des Jahres gewählt, eine mit 50.000 US-Dollar dotierte Auszeichnung der Kresge Foundation, einer philanthropischen Privatstiftung in Michigan.

2021 gibt es eine Ausstellung im "Museum of Contemporary Art Detroit" ( MoCAD ). Im gleichen Jahr richtet die "Akademie der Künste Sachsen-Anhalt" zunächst in Halle ( Neuruppin und Stralsund folgen ) eine Ausstellung ihrer Fotografien aus, die 2022 dann auch nach Zürich geht. "Mein neuer Erfolg macht mir Angst, wie ich damit umgehen soll."

Leni lebt mit ihren Töchtern und ihrer Enkelin zusammen in Detroit. Mit diesen kümmert sie sich um ihren ehemaligen Ehemann, der seit einem Herzinfarkt 2022 im Rollstuhl sitzt und nur ein paar Häuser entfernt von ihnen wohnt. Ihre Schwestern in der Bundesrepublik hätten gerne, dass sie nach Deutschland zurückkommt. Doch Leni Sinclair ist 

"a Detroit original, though she is not originally from Detroit. It was here she found her artistic voice and went on to create a remarkable body of work that documents the artistic of so many who form Detroit’s essential cultural narrative. And it was here that she shaped her art into an instrument for social justice and worked tirelessly to achieve a more equitable and caring society," wie Richard L. Rogers, der Präsident des "College for Creative Studies" sie würdigt.

Happy birthday to you!











Aus urheberrrechtlichen Gründen kann ich nicht die Fotos von Leni Sinclair im Post zeigen. Wer Interesse daran hat, den verweise ich auf diese Seiten: zur Rock History , zum Jazz/Soul und anderen Aktivitäten.

6 Kommentare:

  1. Liebe Astrid,
    danke dir für dieses interessante Porträt der Künstlerin, für das ich heute Morgen Zeit gefunden habe. Ich kannte diese Fotografin bislang noch nicht.
    Hab einen feinen Tag und bis morgen, Marita

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  2. Ein superschönes neues Foto von Ihnen, Pink ist einfach super für unsere silberweißen Haare. Und jetzt dann lese ich den Artikel, aber das musste ich schnell schreiben. LG Ursula

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  3. Danke für das interessante Portrait. Ich kannte die Fotografin bislang noch nicht. Aber da merke ich immer, dass es nicht ganz meine Generation ist.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Ein zwei Fotos habe ich schon einmal gesehen, kannte die Fotografin auch bis jetzt nicht, bin wohl auch zu jung
    Danke für das Portrait
    Liebe Grüße
    Nina

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  5. Ich kannte sie nicht, aber die Namen der von ihr Fotografierten wohl. Sie war anscheinend an allen sehr nah dran. Dass sie noch einen späten eigenen Ruhm bekam, freut mich sehr.
    Ein interessantes Leben und eine besondere Berufsbiografie!
    Von der DDR nach Motown Detroit, das hat schon was.
    Genau das richtige für den heutigen Weltfrauentag.
    Herzlichst,
    Sieglinde

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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