Donnerstag, 2. Dezember 2021

Great Women #281: Luise Büchner

Viele kennen heute nur einen ihrer Brüder, Georg Büchner.  Mir ist es nicht anders ergangen. Die Tatsache, dass der Autor eines meiner liebsten Theaterstücke - "Leonce und Lena" -  eine Schwester gehabt hat, die sogar zu Lebzeiten wesentlich bekannter als ihr jung verstorbener Bruder gewesen ist – was übrigens auch auf die anderen Geschwister, Wilhelm, Ludwig & Alexander, der Familie zutrifft - , ließ mich mit Erstaunen zurück und den Entschluss reifen, das zu ändern und einen Post über Luise Büchner zu veröffentlichen.

Darmstadt/Markt, 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts

"Feder und Wort sind euch gegeben, so gut wie dem Manne! 
Schreibet, redet, erziehet im Dienste der Menschheit!"
.....
"Was wir wollen, ist mehr als eine Frauen-, 
es ist eine Menschheitsfrage."

Elisabeth Emma Louise Büchner kommt am 12. Juni 1821 in Darmstadt zur Welt. Getauft wird sie – evangelisch-reformiert – auf den Namen Louise, später wird sie das "O" aus ihrem Namen streichen.

Ihr Vater ist der Arzt Ernst Büchner, der in Darmstadt eine Stelle als Stadtphysikus und Hospitalarzt inne hat und später Obermedizinalrat im Großherzogtum Hessen werden wird, ihre Mutter Louise Caroline Reuß, seit 1812 miteinander verheiratet. 

Die Reuß sind seit dem 17. Jahrhundert im Elsaß, insbesondere in Straßburg, ansässig, und die Eltern der Mutter Luises haben im Großherzogtum Hessen zum Beamtenadel gehört. Die Mutter ist mit ihren Eltern aus Pirmasens, das damals eine hessische Zweigresidenz gewesen ist, vor den Truppen Napoleons nach Darmstadt geflohen. Ihr Vater, eigentlich ein Hofrat, verwaltet anschließend das seit dem 16. Jahrhundert bestehende "Irrenhaus" in Hofheim - ganz das Gegenteil eines erhofften Fortkommens!

Caroline & Ernst Büchner
Die Familie des Vaters Ernst Büchner ist seit dem frühen 16. Jahrhundert im südhessischen Odenwald nachweisbar, beruflich meist als Bader, später Sanitäter & Wundärzte im Militärdienst, so auch im holländischen Heer. Genau das macht auch Ernst Büchner und wird chirurgischer Gehilfe im Kriegsdienst. 1811 kehrt er in seinen Geburtsort zurück. Nach weiterer Qualifikation kann er Amtschirurg im Amt Dornberg werden. Als solcher hat er auch mit dem Hofheimer "Irrenhaus" und der Familie Reuß zu tun und lernt deren ansehnliche, sechs Jahre jüngere Tochter Caroline kennen. Deren Eltern akzeptieren den angesehenen Arzt, als er um Carolines Hand anhält, obwohl er standesmäßig nicht als gleichwertig betrachtet wird, denn er kommt aus einer Aufsteigerfamilie. Bedingung für die Eheschließung: Sie wird nach evangelisch-reformierten Ritus geschlossen ( Ernst ist Lutheraner ), nach ausdrücklichem Dispens des Großherzogs.

Luise ist das sechste der insgesamt acht Kinder des Paares: Der  Bruder Georg ist 1813 geboren, 1815 Mathilde, 1816 Wilhelm Ludwig, 1818 Karl, der mit fünf Monaten stirbt, 1819 wird ein weiteres Kind tot geboren, 1824 Ludwig und 1827 dann Alexander. Bei Luises Geburt lebt die Familie wahrscheinlich noch unter der Adresse Obere Baustraße, später Am Markt 4 in Darmstadt. Als sie vier Jahre alt ist, ziehen die Büchners in ein Neubaugebiet, Mollerstadt nach dem Architekten geheißen, mit breiten Straßen, klassizist ischen Häusern und großen Gärten in die Grafenstraße 39, wo der Vater auch eine Privatpraxis unterhält.

 Haus Grafenstr. 39 in Darmstadt
( im Krieg völlig zerstört )
Das Mädchen wird als lebhaft & klug, mit "hervorragenden geistigen Anlagen" beschrieben ( Bruder Ludwig ) und kann eine echte Spottdrossel sein: Bruder Alexander äußert sich einmal, Luise habe sich oft die Zunge verbrannt, "aber nicht an der Suppe." Sie leidet lebenslang an einer behindernden Rückenverkrümmung in Folge eines Unfalls: Ein Kindermädchen habe sie fallen lassen, so das familiäre Narrativ.

Wie ihre sechs Jahre ältere Schwester darf sie nur eine Mädchenschule besuchen, wo vor allem Religion, Schönschreiben und Französische Konversation auf dem Stundenplan stehen, während ihre Brüder eine qualifizierte Schulbildung bekommen bzw. später studieren. Sie selbst schreibt über ihre Schulzeit: 
„Von meiner eigenen kleinen, bis auf das vierzehnte Jahr beschränkten Schulzeit, hat mich ein unwissender, ungebildeter Theologe ein ganzes Jahr gekostet. Die akademische Bildung eines jungen Mannes ist noch keine Garantie dafür, dass er auch ein taktvoller und gewissenhafter Mädchenlehrer sein wird.“
Sechs Tage in der Woche hat sie von sieben Uhr in der Früh bis zehn oder elf Uhr Unterricht und nach einer Mittagspause noch einmal von eins bis vier Uhr, in der Regel 36 bis 38 Stunden pro Woche. Nachmittags stehen weibliche Kunstfertigkeiten auf dem Plan, wie Handarbeiten, Singen und Malen, gelegentlich auch französische Konversation. Sie wird später berichten, dass sie damals die Reisebeschreibungen von Joachim Heinrich Campe & Johann Georg Forster, den "Robinson Crusoe" von Daniel Defoe oder Friedrich Kohlrauschs Geschichtsbücher und viele Märchen, Sagen, Fabeln der zeitgenössischen Schriftsteller, gelesen hat. Ihrer blinden "Rokokogroßmutter" Luise Philipine Reuß liest sie "sehr gebildete Lektüre" vor.

1835, mit ihrer Konfirmation, endet Luises Schulzeit. Sie erfährt keine Fortsetzung durch eine "finishing school", wie es für höhere Töchter sonst üblich ist. Stattdessen verschafft  sie sich - auch mit Duldung der Eltern - autodidaktisch eine umfassende Bildung in Literatur, Mythologie, Geschichte und Fremdsprachen. Luise lernt zusammen mit ihren Brüdern, die aufs Darmstädter "Pädagog" gehen,  und lernt über diese auch die Dichtung des "Jungen Deutschlands" kennen. Luise nutzt auch die umfangreiche Lektüre, die die großherzogliche Bibliothek bereit stellt, und für die sie lobende Worte findet. 

Frühzeitig entwickelt sie dichterische Neigungen, und schon die Dreizehnjährige bekommt in der Familie den Titel "Hauspoetin" verpasst. Bürgerliche Kinder werden zu jener Zeit ermuntert, zu Geburtstagen, christlichen Feiertagen und anderen Festen zu dichten, aber auch bei Luise scheint niemand ernsthaft ins Auge zu fassen, dass aus dem "gescheiten Kind" eine ernstzunehmende Autorin werden könnte.

Die Büchners sind eine richtig bürgerlich - intellektuelle Familie. Alle geistigen Anregungen aus diesem Elternhaus, dem Geschwister- und Freundeskreis nimmt Luise begierig auf und geht sehr systematisch daran, ihr Wissen auf eine breitere Basis zu stellen. Im Haus der Büchners verkehren Geisteswissenschaftler und Literaten wie Ferdinand Lassalle ( siehe auch dieser Post ), David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach oder der Dramatiker und Journalist Karl Gutzkow ( siehe auch dieser Post ). Auffallend ist, dass alle Kinder der Familie, nicht nur Georg, nicht nur Luise, deutliche, wenn auch unterschiedlich ausgeprägte republikanisch - demokratische Vorstellungen haben bzw. eine offensichtliche Abneigung gegen Repression.

Dabei ist der Vater wohl eine durchaus widersprüchliche Person: Einerseits ist er er ein engagierter Arzt mit dem Anliegen, leidenden Menschen zu helfen, interessiert - wie später auch seine Kinder -  die "Unkosten" des Fortschritts zu lindern, andererseits scheint er autoritäre Erziehungsmethoden zu präferieren und verkörpert damit auch die verhassten Unterdrückungsmechanismen jener Zeit. 

Jenseits der Pädagogik scheint aber auch ein liberaler Geist in der Familie zu wehen, der offene Auseinandersetzungen über die verschiedensten Themen ermöglicht. Es ist eine Familie, in deren Mitte die Kommunikation steht, das Reden, Erzählen, Schreiben und später bei allen das Publizieren. Die Mutter wird von einem Freund Georg Büchners als "eine der angenehmsten u. unterhaltensten Personen welche ich jemalen gesehn habe" beschrieben und von Luise selbst als ihren Kindern absolut zugewandte Mutter charakterisiert.

Man hat es bei den Büchners wohl mit einer ganz durchschnittlichen Familienkonstellation jener Zeit zu tun, wenn man einmal von dem durchaus erwünschten Austausch, der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern absieht, herrscht doch damals unhinterfragt die Ansicht vor, bei Tisch hätten Kinder zu schweigen. Die Eltern Büchner sind sich auch einig, dass Kinder lernen sollen, die Verantwortung für das eigenen Handeln zu übernehmen, Bedürftigen zu helfen, tolerant gegenüber anderen, kritisch und undogmatisch und vor allem auch sparsam zu sein und hart zu arbeiten. 

Links: Georg Büchner, rechts: Karl Gutzkow
Auffallend ist bei den Büchners der große Zusammenhalt - man muss sogar von herzlicher Zuneigung ausgehen - der dadurch auch zwischen den Geschwistern besteht. Der frühe Tod des geliebten Bruders Georg 1837 - er stirbt als politischer Flüchtling und Emigrant im Züricher Exil - am 19. Februar1837 trifft nicht nur die knapp 16jährige, aber die besonders, und wird später in der Fragment gebliebenen Novelle "Ein Dichter" aufgegriffen ( postum 1877 veröffentlicht ). Sie trifft ein nicht dauerhaft zu zerstreuender "Schatten", der sich auch in Phasen großer Melancholie in ihren jungen Jahren bemerkbar macht.

Die tatsächliche Bedeutung ihres ( genialen ) Bruders ist ihr aber, wie auch den anderen Geschwistern, nicht klar.

Ab 1839 führt Luise ein literarisches Notizbuch, das Gedichte des literarischen Kanons ihrer Zeit, so von Goethe, Schiller, Herder, Hölderlin, Novalis, Rückert, Bürger und wie sie alle heißen mögen, enthält. Es finden sich aber auch lokale Größen sowie Dichtern wie Georg Herwegh ( siehe auch dieser Post ), Ferdinand Freilingrath und Karl Gutzkow, die an der aktuellen politischen wie literarischen Debatte aktiv teilnehmen. Mit Beginn der 1840er Jahre hat Luise Zugang zu einem literarischen Zirkel in Frankfurt aufgrund ihrer Freundschaft mit der vier Jahre älteren Amalie Klönne - Gutzkow, Ehefrau von Karl Gutzkow. Amalie, Tochter eines Frankfurter Kaufmanns, kennt sie schon vor ihrer Verehelichung durch ihre Cousine, die mit dieser zur Schule gegangen ist. Diese Freundschaft besteht bis 1848, als Amalie stirbt und Luise sehr vereinsamt zurücklässt. Doch auch mit Gutzkows zweiter Frau Bertha Meidinger wird eine innige Verbindung auf Dauer geknüpft.

Mathilde Büchner
Luises Zukunftsperspektiven sind nicht rosig: Für sie und ihre Schwester Mathilde bleibt kaum Geld für eine Mitgift übrig, nachdem alles in die Ausbildungen der Büchner-Söhne gesteckt worden ist. Die beiden Schwestern fügen sich in ihr Schicksal, als "Alte Jungfern" in ihrem Elternhaus zu bleiben. Luise geht ihre geistige Freiheit über ihr alles und sie bleibt lieber ledig, als sich in eine arrangierte Ehe einzupassen. Mathilde hegt auch sonst weniger Ambitionen und scheint mit ihrem Hausfrauen- bzw. Haushälterinnensein zufrieden zu sein. Sie wird diese Aufgabe gegenüber Luise bis an deren Ende erfüllen und immer mit der Schwester zusammen sein mit Ausnahme der Zeit, in der diese auf Reisen geht.

Als die Gutzkows sich in Frankfurt niederlassen, hält sich Luise oft viele Tage und Wochen bei der Freundin auf und verfasst auch ein Gedicht auf die Geburt ihres jüngsten Sohnes Emil 1841. Gutzkow selbst hat mit Luises Bruder Georg ab 1835 in Briefkontakt  gestanden und ihm zur Veröffentlichung von "Dantons Tod" und mit seiner richtungsweisenden Kritik des Dramas in der Zeitschrift "Phönix" zu erster Anerkennung verholfen. Nach Büchners Tod hat Luise Gutzkow geholfen, den literarischen Nachlass des Bruders zu sichten. 

In den nächsten Jahren wird sie einen regen Briefkontakt zu ihm pflegen:
"...  und er hat auch viele Beziehungen für sie aufgebaut. Meistens hatten Autorinnen in dieser Zeit Kontakt zu einem einflussreichen oder gut vernetzten Mann, der weiter Kontakte vermitteln konnte. Und das war Karl Gutzkow für Luise Büchner", so Viviane Meierdreeß von der Freien Universität Berlin ( Quelle hier ). 
Links Friedrich Ludwig Weidig

Ihr bereits erwähnter Roman über den Bruder soll mit dem Jahr der Märzrevolution 1848 enden. 

Aus ihren Notizen geht hervor, dass sie Georg Büchner auch als Revolutionär, der bereit gewesen ist, für seine Ideale zu leben, schätzt. Als Frau sei ihr dieser Weg verschlossen, so ihre Position, wenn sie nicht gänzlich an den Rand der Gesellschaft geraten will. Sie verteidigt aber immer wieder die demokratischen Ideen des Vormärz. Mit Bitterkeit attackiert sie z.B. auch den Darmstädter Untersuchungsrichter, der für den Tod des Friedrich Ludwig Weidig 1837 verantwortlich ist. Dieser hat mit ihrem Bruder Georg den berühmten Text des "Hessischen Landboten" ( "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" ) verfasst.

1850 darf sie sich an Ludwig und Alexander Büchners Zusammenstellung der Arbeiten des verstorbenen Bruders Georg zur ersten Gesamtausgabe insofern beteiligen, indem sie die Handschrift von "Leonce und Lena" kopiert. Von der Veröffentlichung der Korrespondenz zwischen Georg und seiner Verlobten Wilhelmine Jaeglé in dieser Ausgabe rät sie den Brüdern ab, weil sie die tiefgehende Verstimmung voraussieht. Doch Ludwig hört nicht auf sie. Die nachgelassenen Schriften, aufbewahrt in einem Hinterhaus des Büchnerschen Wohnsitzes, werden 1851 teilweise durch ein Feuer zerstört.

Das Wort einer Frau zählt in der Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts einfach nicht viel. So gibt es auch zwei Versionen, wie es zu Luises erstem Buch gekommen ist - die des Büchner-Herausgebers Karl Emil Franzos lasse ich einfach weg und berufe mich auf Luises Version, die sie Jenny Hirsch, der Berliner Frauenrechtlerin, erzählt hat:

Eines Abends hat es eine Diskussionsrunde bei Büchners gegeben, an der auch der Frankfurter Verleger Gutzkows und ihrer Brüder, Carl Meidinger, teilgenommen hat. Es geht um die Frauenfrage und dass es an der Zeit wäre, die Interessen & die Berufstätigkeit der Frau ernsthafter zu betrachten. Luise hört das gerne, weniger, was Meidinger weiter ausführt: Er wolle Gutzkow bitten, ihm ein Buch über die Frauenfrage zu verfassen. Luise kann ihr pochendes Herz kaum bändigen und spricht aus, was sie denkt: Gutzkow wird das Buch nicht für sie schreiben, so intelligent er auch ist. - Wer dann, Fräulein Luise? Sie etwa? - Ja, ich werde es tun. Kein Mann ist in der Lage ein solches Buch zu schreiben, aber eine Frau. Den Versuch wäre es wert.

Luise überrascht mit ihrer Spontaneität & Selbstsicherheit. Sie hat sich nicht vorgedrängt, es zu schreiben, dazu ist sie zu bescheiden. Aber jetzt fühlt sie sich herausgefordert. Wie lange sie an dem Buch mit seinen zwölf Kapiteln plus Prolog sitzt, ist nur zu vermuten, es wird zwischen 1853 und dem Beginn des Jahres 1855 gewesen sein. Bevor es gedruckt wird, entscheiden Luise oder Meidinger, dass es nicht unter ihrem Namen veröffentlicht wird. "Die Frauen und ihr Beruf" wird anonym publiziert ( "niedergeschrieben von Frauenhand" ). Darin legt sie ihre Vorstellungen zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Stellung der Frauen dar. Das Werk stößt auf große Resonanz und erlebt schon im Jahr darauf eine zweite Auflage, in den nächsten Jahren werden noch mehrere überarbeitete Nachauflagen, insgesamt sechs, folgen. Luise hat einen Nerv getroffen! Das Buch wird quasi über Nacht ein Bestseller.

"Aus heutiger Sicht steht da nichts Revolutionäres drin. Aber für damalige Verhältnisse war es eine Sensation", so Agnes Schmidt von der Luise-Büchner-Gesellschaft in Darmstadt. Dabei stellt Luise die bürgerliche Ehe gar nicht in Frage. "Nein, auch nicht die Mutterschaft. Sie hätte schön gefunden, wenn jede Frau heiratet und damit versorgt ist. Doch das war nicht die Realität. Die Verarmung der Gesellschaft traf auch das Bürgertum, was dazu führte, dass viele Mädchen keinen Partner fanden. Damit fehlte ihnen eine Versorgung. Die Väter trieb damals die große Sorge um, ihre Töchter irgendwie unterzubekommen."

Im Unterschied zu anderen Teilen der Frauenbewegung sieht Luise in Männern keine Gegner, ihr geht es um Gleichberechtigung der Mädchen gegenüber den Knaben in der Erziehung & Bildung, auch um einen Zugang zur Universität, und - ihr zweiter Themenschwerpunkt - die Berufstätigkeit der Frau, allerdings auch da mit einem beschränkten Spektrum, nämlich im Bereich des Sozialen.

Neben diesem Buch und ihren anderen frauenpolitischen Schriften hat Luises literarisches Schaffen keine Chance, obwohl sie in den angesehensten Blättern veröffentlicht wird, darunter die "Neue Frankfurter Zeitung", das "Morgenblatt für gebildete Leser", die "Kölnische Zeitung", "Unterhaltungen am häuslichen Herd".

1869

Spannender an Luises Leben ist ohnehin die Tatsache, dass sie ihre Überlegungen auch in die Praxis umsetzt: "Sie suchte das Machbare und machte es dann auch." ( Arno Widmann hier

In der 22 Jahre jüngeren Prinzessin Alice, Tochter von Queen Victoria und seit 1862 in Darmstadt verheiratet, Großherzogin von Hessen und bei Rhein, findet sie eine einflussreiche Mitstreiterin, die denkt & fühlt wie sie. Die junge Frau hat ziemlich schnell die argen Missstände in der teils sehr armen Bevölkerung Hessens wahrgenommen. Geprägt durch die Erziehung ihres sozialdenkenden Vaters, Prinz Albert, macht sie es sich zur Aufgabe, diese miserablen Lebensbedingungen der Leute zu verbessern. Die beiden doch so unterschiedlichen Frauen verbindet alsbald auch eine Freundschaft.

Alice von Hessen und zu Rhein

Ab 1867 entstehen mehrere Frauenvereine im Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Gemeinsam mit der Prinzessin gründet Luise unter anderem eine Berufsfachschule für Mädchen und eine Volkshochschule für Frauen und macht sich damit weit über Darmstadt hinaus einen Namen:  

Der "Alice-Frauenverein für Krankenpflege" hat zum Ziel "die Hebung des Berufs der weltlichen Krankenpflege auf die eine den Anforderungen der ärztlichen Wissenschaft entsprechende Stufe, die weitere Verbreitung einer besseren Würdigung und Anerkennung der Bedeutung der Krankenpflege ( sic! ) und hierdurch die Eröffnung eines neuen Feldes der weiblichen Erwerbstätigkeit." ( Quelle hier ) Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erlebt der noch junge Verein eine erste Bewährungsprobe in einem in Darmstadt errichteten Barackenlazarett.

Ein weiterer Verein ist der "... zur Förderung der weiblichen Industrie", später "Alice-Verein für Frauenbildung und - Erwerb" (1867), der zum Ziel hat, einen ständigen Bazar mit von Frauen gefertigten Produkten durchzuführen und den Frauen eine faire Verkaufsmöglichkeit für ihre Näh- & Strickarbeiten zu schaffen. 1872 referiert Luise auf der Generalversammlung des Verbandes der Frauenbildungs- und Erwerbsvereine, dass in einem Jahr 113 Frauen 1533 Arbeiten angeboten haben.

Ein weiteres Angebot des Vereins sind Vorlesungen zur deutschen Geschichte, die Luise ab 1870 in ihrer Wohnung, dann in der "Alice-Schule" abhält. Aus letzterer entwickelt sich 1874 die "Industrieschule für Mädchen", aus der ein Jahr später auch ein Seminar für Handarbeitslehrerinnen an Volksschulen hervorgeht ( ein solcher Unterricht ist in Hessens Schulen ab 1874  obligatorisch ).

All die praktischen Erfahrungen, die Luise dabei sammelt, machen sie zur begehrten Rednerin auf einschlägigen Konferenzen. Sie ist eine anerkannte Autorität in Bildungsfragen. So wird sie beispielsweise vom preußischen Kultusministerium um ein Gutachten zur angestrebten Reform der höheren Töchterschulen gebeten. Als Ko- Referentin des berühmten Rudolf Virchow berichtet sie auf der Berliner-"Frauenvereins-Conferenz" über ihr Konzept der Frauenerwerbsarbeit in der Krankenpflege. 

"Die Führerinnen der Frauenbewegung in Deutschland" (1894)
Luise Büchner ganz unten links
Obwohl 1865 in den Vorstand des überregionalen "Allgemeinen Deutschen Frauenvereins" (ADF) gewählt, ist sie unter den Frauen der damaligen Frauenbewegung nicht unumstritten, da nicht radikal genug. Ihr höchstes Rollen-Ideal für die Frau ist & bleibt sehr lange die Hausfrau und Mutter. Erst gegen Ende ihres Lebens meint sie, Frauen könnten berufliche und familiäre Pflichten vereinen. 

Ihre praktischen Erfahrungen lassen sie zunehmend nüchterner werden und eindringlicher in ihren Forderungen für Arbeiterinnen. Gemeinsam mit Jenny Hirsch gibt sie die Zeitschrift "Der Frauenanwalt", das Organ des Verbandes Deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine heraus. Sie wird Ehrenmitglied des Lette-Vereins ( siehe auch dieser Post ), der ebenfalls die Förderung der Erwerbsfähigkeit von Frauen unterstützt.

Auch auf politischem Gebiet zeichnet sie sich - obwohl den radikalen verstorbenen Bruder bewundernd - durch Zurückhaltung aus. Ob sie Selbstzensur übt, als sie in einem Beitrag zum Vormärz während ihrer Geschichtsvorlesungen den Bruder nicht erwähnt, ob sie Rücksicht auf das Fürstenhaus nimmt, zu dem sie gute Verbindungen hat - wir wissen es  nicht. Auf eine Anmerkung Gutzkows, ob ihr die in einem Buch gesammelten Vorlesungen zur Deutschen Geschichte von 1815-1870, besonders das Kapitel zehn über den Vormärz, in ihrem Alice-Kreis nicht schaden würden, antwortet Luise: "Bei meiner Prinzessin schadet mir das Buch nicht, die denkt selbst viel zu liberal..." Selbst die deutsche Kronprinzessin Victoria ( siehe dieser Post ) in Berlin - die älteste Schwester von Alice - ließ Luise wissen, "ihre Tochter Charlotte lese gegenwärtig das Buch mit ihren Lehrern.... Mehr könne sie nicht verlangen." Liberale Anschauungen, über Standesgrenzen hinaus. Doch in die aktuelle Politik mischt sich Luise nicht ein.

Nach dem Tod der Eltern 1858 bzw. 1861 lebt Luise mit Mathilde, die sozusagen lebenslang ihre Hausfrau ist, zwei Jahre in einer eigenen Wohnung in der Darmstädter Wilhelminenstraße 14, bevor sie zu Bruder Ludwig in die Hölgesstraße 14 ziehen. Dessen ältesten Kindern hat sie schon vorher an Winterabenden die Geschichten, die in dem 1865 herausgekommenen "Weihnachtsmärchen" enthalten sind, erzählt, in denen sich heidnische Bräuche mit christlichen Traditionen verbinden. Im gleichen Jahr hat sie auch mit Bruder Alexander die Anthologie "Dichterstimmen aus Heimath und Fremde. Für Frauen und Jungfrauen" publiziert, die, so die Verfasser dieses Buches "poetische Schmuggelware" enthalten, nämlich Texte etlicher Vormärz - Autoren, darunter Heinrich Heine, und ein "Lied" aus "Leonce und Lena". Auch dieses Buch wird ein großer Erfolg mit fünf Auflagen bis 1876.

1873
In ihren letzten Lebensjahren reist Luise sehr viel - die Enge des provinziellen Darmstadt ist ihr nur zu bewusst - nicht nur zu dem Zwecke, auf Versammlungen von Frauenvereinen zu reden, sondern aus rein touristischen oder familiären Gründen. So fährt sie mit den Brüdern Wilhelm und Ludwig nach Zürich, um an der Umbettung ihres Bruders Georg teilzunehmen. Sie besucht den jüngsten Bruder in Frankreich und hält sich nach einer Station in der Normandie mit ihm in Paris auf. Mit Jenny Hirsch reist sie nach Heidelberg, Baden-Baden, Straßburg und ins Elsaß, verbringt den Sommer 1873 auf der Insel Föhr.

Nach einem Atemwegsleiden stirbt Luise Büchner am 28. November 1877 in Darmstadt mit 56 Jahren. Bei ihrer Beerdigung auf dem Darmstädter Alten Friedhof nehmen über tausend Trauergäste Abschied, und in zahlreichen Nachrufen, selbst in England, wird sie gewürdigt, ebenso in der Heimatregion. In der "Pfungstädter Zeitung" heißt es:

"Groß ist die Zahl armer Mädchen, denen Luise Büchner zu einer nutzbringenden Beschäftigung und einem Unterkommen behilflich war. Luise Büchner zählte zu den geistig bedeutendsten Frauen der Jetztzeit." 
"Sie war eine wackere, tüchtige, unerschrockene und unermüdliche Mitstreiterin in dem Kampfe um die Verbesserung der Erziehung und der Stellung des weiblichen Geschlechts“, würdigt sie der Lette-Verein in seinem Nachruf.

Im folgenden Jahr gibt ihr Bruder Ludwig Büchner die Sammlungen "Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften" in zwei  Bänden sowie "Die Frau. Hinterlassene Aufsätze, Abhandlungen und Berichte zur Frauenfrage" heraus. Ihre Freundin Alice von Hessen und bei Rhein stirbt im Dezember 1878 an Diphtherie.

In der Döngesgasse in Darmstadt steht seit Juni 2017 ein Bronzedenkmal mit einer Büste der Streiterin für die Emanzipation der Frau. Ihren Namen trägt auch eine Abteilung des Darmstädter Literaturhauses mit einer Spezialbibliothek für Frauengeschichte. Die 2010 gegründete Luise Büchner-Gesellschaft setzt sich zum Ziel, das Leben und Wirken der Luise Büchner lebendig zu erhalten. Seit 2012 vergibt diese jährlich auch den Luise-Büchner-Preis für Publizistik. Erhalten haben ihn bisher Julia Voss (2012), Bascha Mika (2013), Lisa Ortgies (2014), Barbara Beuys (2017), Julia Korbik (2018) und Margarete Stokowski (2019). Zu ihrem 200. Geburtstag in diesem Sommer hat  die Luise-Büchner-Gesellschaft ein Festival in Darmstadt veranstaltet.

Auf die Frage, warum es so wichtig, dass wir an Frauen wie Luise Büchner erinnern, antwortet Agnes Schmidt, Vorsitzende der Luise-Büchner-Gesellschaft:
"Wir müssen uns immer wieder bewusst machen: Nichts ist selbstverständlich! Und dass Veränderungen möglich sind. Wenn wir die Geschichte nicht kennen, können wir unsere Rolle in der Gesellschaft nicht einordnen. Wichtig ist, die Kontinuität zu sehen."

Dem kann ich mal wieder nichts hinzufügen... 

 

5 Kommentare:

  1. Ach wie schön, Du hast die Luise aufgenommen in den Zirkel der great Women liebe Astrid. Das freut mich ganz besonders denn hier begegnet man ihr immer wieder wie Du oben schon erwähnt hast. Das Gerog Büchner Haus in Goddelau ist weit über die Grenzen hinaus bekannt aber die Schwester glaube ich ist eher nur hier bei uns in Darmstadt und Umgebung bekannt. Sehr schön hast Du alles wieder zusammengetragen und aufgeschrieben. Mir hat der Post sehr gefallen und so gehen diese einzigartigen Frauen dann auch nicht verloren!

    Liebe Grüße
    Kerstin

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  2. Wieder mal so eine wichtige Frau, die dennoch weitgehend unbekannt ist. Auch ich hatte sie wieder vergessen und kannte sie bisher nicht so ausführlich, wie jetzt durch Dein feines Portrait. Sie hat viel geleistet für die Frauenemanzipation und generell auch für die soziale Fürsorge. Auch wenn sie in Manchem eine Frau ihrer Zeit geblieben ist, ihre Leistungen sind herausragend.
    Wir alle "stehen auf den Schultern" solcher Frauen und wissen es oft nicht einmal.
    Dass nichts selbstverständlich ist im Bereich der Gleichberechtigung, wird leider auch so oft - selbst von Frauen - vergessen oder zu wenig in den Blick genommen. Das gilt auch noch für heute.
    Es ist sehr gut, dass Du heute Luise Büchner aus dem Schatten - auch des großen Bruders - geholt hast. Danke.
    Herzlichst, Sieglinde

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  3. Liebe Astrid,

    wieder mal eine lesens- und erinnerungswerte Biographie von dir vorgestellt. Denk' ich an Büchner, denk' ich natürlich an Georg und "Danton's Tod".
    (Pflicht?)-lektüre in der Schule und mir nicht in guter Erinnerung. Ich könnte dir noch nicht mal mehr eine Inhaltsangabe sagen.

    Deinen vierten Abschnitt habe ich etwas zu schnell gelesen -
    Aussteiger- anstelle Aufsteigerfamilie - und hatte mich gewundert, dass es das damals auch schon gab.

    Die Freundin Alice starb 1878 an Diphterie. Wenn ich das lese, bin ich umso froher, dass es heute Impfungen gibt.

    Danke für die Vorstellung,

    liebe Grüße
    Claudia

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  4. Jetzt weiß ich wieder, wo ich ihren Namen mal am Rande gelesen habe: im Zusammenhang mit Alice von Hessen. Schade, dass sie fast in Vergessenheit geraten ist.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  5. ja Georg Büchner ist ein Begriff
    von seiner Schwester habe ich auch noch nie etwas gehört ..
    wieder eine starke Frau die sich und die Schwester alleine durch das Leben bringt
    und dabei so viel Gutes für die Frauen der damaligen Zeit erreicht

    an Diphterie ist eine Schwester von meinem Mann gestorben

    liebe Grüße
    Rosi

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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