Donnerstag, 6. Oktober 2022

Great Women #314: Renate Müller

Als Cineastin habe ich in jungen Jahren auch die alten Film aus Ufa - Produktion gesehen und eine ganz Reihe deutscher Kinostars auf der Leinwand erlebt und bei der Planung neuer Posts in dieser Reihe mit Hilfe der Gedenktage - Rubrik der Fembio-Seite stoße ich dann immer wieder auf sie. So geschehen auch bei Renate Müller, ein singender und tanzender Liebling unserer Eltern und Großeltern, heute fast vergessen, die ich für den den 314. Post dieser Reihe ausgesucht habe.


Am 26. April 1906 wird Renate Maria Müller in München-Schwabing in die Welt des intellektuellen Münchner Bürgertums hineingeboren. Sie ist das erste Kind von Mariquita Frederich, eine in Chile geborene Deutschen, Malerin von Beruf. Ihr Vater ist Dr. Karl-Eugen Müller, studierter Altphilologe und Historiker, zum Zeitpunkt ihrer Geburt Theaterkritiker, später Chefredakteur der "Münchner Neuesten Nachrichten". 

In einer wohl recht behüteten Umgebung wächst Renate mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Gabriele in München bzw. in der Künstlerkolonie Emmering - dort in ihrem nahe der Amper gelegenen "Wasserschlössl"- mit ihrem Kindermädchen und mehreren großen Hunden auf und verbringt idyllische Kindheitsjahre, wie sie es später beschreiben wird. Von anderen wird "Rena" als dickköpfig, frech & komisch und alles andere als hübsch beschrieben. Die liberal gesinnten Eltern fördern die Selbstsicherheit der beiden Töchter, was mitunter zu herausfordernden Situationen führt.

 Das "Wasserschlössl"

Ab 1912 geht Renate zur Schule, im Winter in München, im Sommer in Emmering. Sie lernt schnell lesen, was eine Tante zu der Aussage verführt: "Wie gut, dass das Kind wenigstens klug ist, sonst hätte sie es mit ihrer Stupsnase und überhaupt dem Gesicht einmal schwer im Leben."

Renate gelingt es wohl gut, sich den Sprach- und Lebensgewohnheiten ihrer Mitschüler*innen anzupassen. So geht sie mit der Schwester, obwohl evangelisch, mit der Fronleichnamsprozession mit, wird dann aber ausgeschlossen, als der Altar der Klosterkirche von Fürstenfeldbruck erreicht ist. Die Schwester wird später von dem nagenden Gefühl des Ausgeschlossenseins berichten.

Wie damals üblich für höhere Töchter bekommt das Mädchen Klavierunterricht und es trägt ohne Scheu vor Gästen Lieder vor. Die Kriegsjahre in München sind auch für die beiden Mädchen der Müllers geprägt von Hunger & Mangelwirtschaft. Erst nach dem Krieg gehen sie wieder regelmäßig zur Schule, Renate auf ein Münchner Lyzeum. Sie fallen auf, weil sie ein perfektes Hochdeutsch sprechen ( Renate lernt aber auch den Münchner Dialekt ). Sie entwickelt eine Leidenschaft für das Theater und organisiert kleine Aufführungen zu Hause, bei denen sie gleichzeitig Regie führt und Hauptdarstellerin ist und die Stücke verfasst, deren Ende immer sehr tragisch ist.

1920 verlässt die Vierzehnjährige mit ihrer Familie die Stadt: Der Vater ist Leiter der "Danziger Zeitung" geworden. Also geht es in den Freistaat an der Ostsee ( die "Freie Stadt Danzig" war zu diesem Zeitpunkt souverän im Sinne des Völkerrechts mit einem Parlament und einer eigenen Regierung und 300.000 Einwohnern ). Dort gelten die Müller-Schwestern nun als echte Bajuwarinnen, die z.B. Semmel statt Brötchen sagen. Doch Renate stellt sich schnell um. 

Während ihrer Pubertät widmet sie sich der Literatur & Philosophie, liest Nietzsche & Schopenhauer, Oswald Spengler und zeitgenössische Lyrik. In der väterlichen Bibliothek gibt es kaum ein Buch, das sie nicht gelesen hat. Die Schule hingegen macht ihr weniger Freude ( sieben Stunden Latein pro Woche! ) Der Vater unterstützt sie in ihren außerschulischen Interessen und nimmt sie zu gesellschaftlichen Ereignissen mit. Auch Bälle sind für den "Backfisch" angesagt. Renates erster findet sogar auf einem britischen Kriegsschiff statt, das der Freien Stadt einen Besuch abstattet. Das lebhafte, gesellige Leben der Ostseemetropole fasziniert und lockt sie ( was hat auch unsere Familien-Matriarchin bis an ihr Lebensende davon geschwärmt! ). Einmal steht auf ihrer Tischkarte "...und als Rena Maria Molino, geht sie sicher mal zum Kino!"

ca. 1924
Renates berufliche Pläne reichen nun von Journalistin über Ärztin bis zur Opernsängerin. Tatsächlich erhält sie Gesangsunterricht bei der Kammersängerin Johanna Brun. Sie setzt sich daraufhin in den Kopf, zur Bühne zu gehen und eine große Sängerin zu werden. Schließlich kann sie bei den Eltern den Wunsch durchsetzen, die Schule nach der Unterprima zu verlassen,  als sie sich mit ihrer gesamten Familie auf zur nächsten Station ihres Lebens aufmacht: Berlin. Der Vater hat dort eine Stelle beim "Berliner Tageblatt" des damals renommierten Chefredakteurs Theodor Wolff bekommen ( siehe auch dieser Post ).

Berlin ist in jenen Tagen nicht nur die Zeitungshauptstadt der Republik und Zentrum des sich entwickelnden Rundfunks, sondern Kunst- , Amüsier und zugleich Industriestadt und bunt, glitzernd, reich. 

Renate nimmt auf Rat einer Freundin der Familie als Ergänzung zur Gesangsausbildung auch an einer Aufnahmeprüfung an der Max-Reinhardt-Schauspielschule teil. Und sie wird sofort akzeptiert, sogar direkt in die 2. Klasse aufgenommen! Entsprechend ist ihr Status an der Schule. Eine ehemalige Mitschülerin, Karin Evans, erinnert sich:
"Renate war eine tolle Erscheinung, ein Sonderfall in unserer Schule. Wir anderen konnten uns keine ausgefallene Kleidung, keine Seidenstrümpfe leisten. Renate kam immer sehr elegant gekleidet. Für uns war sie ein Rätsel, denn sie kam und ging zum Unterricht, wie sie es wollte; außerdem hatte sie damals schon unglaubliche Beziehungen zu wichtigen Leuten aus der Theaterwelt. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörten Prominente, die uns nicht einmal angeschaut hätten. Sie war ein Aushängeschild für die Schule."

So spielt sie schon bald kleinste Rollen, z. B. in Shaws "Heiliger Johanna" mit Elisabeth Bergner in der Hauptrolle ( siehe auch dieser Post). Im Januar 1925 spielt sie am Deutschen Theater in Henrik Ibsens "Die Stützen der Gesellschaft" neben Albert Bassermann und Helene Weigel. Ihre erste Anerkennung erntet sie in Frank Wedekinds "Franziska", die von Tilla Durieux ( siehe auch dieser Post ) gespielt wird. Nach dem Ende des Schuljahres zum Juni 1925 ergattert sie sogar ein Engagement am Berliner Lessing - Theater, damals Hort eines hochrangigen Schauspieler - Ensembles.

Doch zunächst wartet ein Engagement am Harzer Bergtheater in Thale den Sommer über. Dort spielt sie erfolgreich die Rosalinde in Shakepeares "Sommernachtstraum", was sogar überregionale Zeitungen würdigen. Renate selbst sieht das alles viel kritischer...

In Berlin startet sie in die neue Theatersaison mit Edmond Rostands "Der junge Aar", einem Historienspiel, von Klabund übersetzt ( siehe auch dieser Post ), in dem sie eine Hofdame gibt. Als die Hauptdarstellerin Erika von Thellmann zwischenzeitlich erkrankt, springt Renate ein und hinterlässt als schöne Tänzerin Dagny Servaes einen nachhaltigen Eindruck, auch bei den Kritikern. Als ihr der Direktor des Theaters nach der Rückkehr der Thellmann künstlerisch wie finanziell nicht entgegen kommt, kündigt Renate. Nichtsagende Rollen und Zweitbesetzung - das ist nichts für die selbstbewusste junge Mimin: Die sprüht vor Energie und Ehrgeiz! 

Also schließt sie sich dem "Theater Junge Generation" an, einem avantgardistischen Kollektiv, welches gegenüber einem Skandal immer aufgeschlossen ist. So auch bei dem Stück "Brigitte" von Albert Hirte. Doch Renate beschert es die Bemerkung des berühmt-berüchtigten Theaterkritikers Alfred Kerr: "Die Brigitte spielt ein Fräulein Renate Müller. Man wird sich den Namen Müller merken müssen!" Lange existiert diese Bühne aber dann nicht...

Das Theater ist zu dieser Zeit das Lebenselixier der noch nicht Volljährigen. Sie zieht nun auch zu Hause aus und nimmt eine erste eigene Wohnung in Wilmersdorf. Den Eltern verkündet sie beim ersten Besuch dort: "In zwei Jahren muss ich prominent sein!" 

Um ihr eigenständiges Leben zu finanzieren, verdingt sie sich als Fotomodell, findet aber auch bald wieder ein Engagement, diesmal im Komödienhaus am Schiffbauerdamm. Dort spielt sie an der Seite von Berliner Theatergrößen in der Komödie "Der Garten Eden" von Rudolf Bernauer die Sängerin Tilly Hasselberger, ein Riesenerfolg über viele Monate, genau das Richtige für den Berliner Geschmack damals. 

Den Berliner Bühnen bleibt sie nun länger, meist in Gesellschaftskomödien, treu. Sie klettert die Kariereleiter immer weiter hinauf. Ihre Einkünfte erlauben es ihr, in der Wilmersdorfer Kaiserallee eine neue Wohnung zu beziehen. Im Herbst 1928 schließt die junge Schauspielerin dann einen Vertrag mit dem Preußischen Staatstheater - der künstlerische Durchbruch schlechthin, gilt doch sein Leiter Leopold Jessner als "Intendant der Republik". 

Schon im Jahr darauf lädt sie der Regisseur Reinhold Schünzel dann zu Probeaufnahmen ins Filmstudio. Der ist von ihrer Begabung überzeugt und verpflichtet sie umgehend. An drei Stummfilmproduktionen ist sie im gleichen Jahr neben ihren Theaterengagements beteiligt: "Peter der Matrose", "Revolte im Erziehungshaus", "Drei machen ihre Glück". Nicht unbedingt anspruchsvollstes Kulturgut, aber eine Empfehlung für den neu entstehenden Tonfilm. Renates Debüt im neuen Medium wird der Film "Liebe im Ring" (1929/30) mit dem Boxer Max Schmeling in der Hauptrolle. 

Schon im März 1930 steht Renate Müller in "Liebes Leid und Lust" von William Shakespeare im Staatstheater am Gendarmenmarkt ein letztes Mal auf einer Theaterbühne, wofür sie nicht gerade positive Kritiken erhält. Egal! Ab jetzt konzentriert sie sich auf ihre Filmkarriere. Sie ist jetzt 24 Jahre alt und - prominent.

"Peter, der Matrose" heisst also ihr erster Film unter Schünzel, dessen Dreharbeiten der junge Filmstar unter Schmerzen abbrechen muss: Eierstockentzündung heißt die Diagnose. Und die Behandlung wird begleitet durch Morphingaben, die für die spätere Drogenabhängigkeit der Renate Müller verantwortlich gemacht werden, was aber eine unbewiesene Behauptung bis heute bleiben wird.

Die Kritiken sind sehr unterschiedlich. Für Renate steht aber fest, dass der Film ihr Ding ist, leidet sie doch bei den Aufnahmen nicht an Lampenfieber wie bei ihren Bühnenauftritten. Selbstbewusst bleibt sie auch bei ihrem Allerweltsnamen und verweigert einen exotischen Künstlernamen, der bei manchen Kolleginnen usus ist.

Mit Emil Jannings in "Liebling der Götter"
Allein 1930 entstehen noch vier weitere Spielfilme mit ihr: "Der Sohn der weißen Berge", "Liebeslied", "Liebling der Götter", "Das Flötenkonzerte von Sanssouci", ein umstrittener Film, der aus einem Angriffskrieg einen Verteidigungskrieg macht ( uups! ) und der heftige Proteste hervorruft, wird doch zur gleichen Zeit der Film "Im Westen nichts Neues" verboten.

Aus Sicht von Renate sind all diese Filme nicht unbedingt Glanzwerke, doch das Medium ist sehr beliebt und die Menschen strömen in die Kinos, komme, was da möchte. Die Weltenlage ist so, dass man sie gerne mal für Stunden vergessen mag. 

Ihre souveränste Arbeit liefert Renate dann aber 1931 als "Die Privatsekretärin" ab, einer sozialromantischen Verwechslungskomödie. Die Rolle der Tippmamsel Vilma Förster ist für Renate der ganz große Durchbruch. Eigentlich sollte diese Rolle Lilian Harvey, "das süßeste Mädel der Welt", spielen... 

"Renate Müller hat sich hier ganz gefunden", schreibt die "Berliner Morgenpost" nach der Uraufführung. "Reizend wie immer anzusehen, war sie noch nie so gelöst, so von Temperament erfüllt, in einer unwahrscheinlichen Rolle so lebensnah"

Ihre Gesangsstimme ist genau das Richtige für den "lebensfrohen Film".  "Ich bin ja heut‘ so glücklich", geschrieben von Paul Abraham, wird zu einem populären Schlager damals, dessen englische Fassung zu Beginn des Posts zu hören ist, denn 1931 dreht Renate in London eine englische Version unter dem Titel "Sunshine Susie". Europaweit hält sich der Film wochenlang in der Uraufführungskinos. Der übrigen Familie Müller ist das alles übrigens zu banal. Für Renate ist entscheidend, dass ihr Name ab jetzt über den Filmtiteln platziert wird.

Renate Müller (rechts) mit Lilian Harvey und Willi Fritsch (1932)

Neben all dem Licht gibt es auch Schatten im Leben der jungen Schauspielerin: 

"So unterschiedlich ihre persönliche Situation in dieser ersten erfolgreichen Phase beim Film von verschiedenen Biographen auch dargelegt wird, eines bleibt unumstößliche Gewissheit: Renate Müller ist krank, schwerkrank. Mehrfach muss sie sich Operationen unterziehen, sie kann keine Kinder mehr bekommen. Damit enden die eindeutig belegbaren Tatsachen aber auch schon – dass sie aufgrund der Eingriffe morphiumabhängig geworden sei, wie immer wieder behauptet, ist reine Spekulation und an keiner Stelle zu belegen." ( Quelle hier )

Ihre Filmographie bleibt ab da entsprechend reduziert, und Projekte wie "Die Blumenfrau von Lindenau", "Der kleine Seitensprung" ( beide 1931), "Mädchen zum Heiraten", "Wie sag‘ ich’s meinem Mann", "Wenn die Liebe Mode macht" ( alle 1932 ) verlangen ihr künstlerisch nicht viel ab. Leichte Muse par exellence ist hingegen "Viktor und Viktoria" von 1932/33.

Das linke Foto zu "Wenn die Liebe Mode macht" wurde von der Ufa als zu "vulgär" zurückgezogen,
in der Mitte "Viktor und Viktoria", rechts "Saison in Kairo" ( mit Willy Fritsch )



Damals findet sie auch ihr privates Glück in Georg Deutsch, dem Sohn des Berliner Reichsbank-Direktors, und in einem Anwesen im Berliner Villenvorort Dahlem, eingerichtet von ihr im Stil Louis seize, mit einem Chrysler vor der Tür - alles, was eines Filmstars würdig ist, wie es sich das Publikum halt so vorstellt. In der Öffentlichkeit gibt sie das frisch- fromm- fröhliche, blonde "Weibchen", der Wunschtraum "hundertausender heirats- und liebebedürftiger Jünglinge". Und wo sie auch erscheint: begeisterter Empfang, Sympathiekundgebungen, Menschenauflauf, Polizeiaufgebot und Absperrungen. 

In Wirklichkeit, so ihre Schwester Gabriele später, hasst sie die Publicity. Private Fragen von Journalisten beantwortet sie nicht, es sei denn es geht um Schönheitspflege. Beliebt ist sie nicht nur in Deutschland: In Großbritannien ist sie populärer als Marlene Dietrich oder Brigitte Helm. 

Während der Dreharbeiten zu "Saison in Kairo" im Januar 1933 verändert sich in Deutschland die politische Lage radikal. Renate hat keine Repressionen zu befürchten, aber Georg Deutsch, der Jude ist. Bei ihrer Rückkehr im März macht er sie mit seiner Entscheidung bekannt, so bald wie möglich nach London zu emigrieren, weil er seine Zukunft in Deutschland gefährdet sieht. Sie kann ihm nicht folgen, ohne vertragsbrüchig zu werden. Auch hat sie die Hoffnung, dass sich mit der Zeit die politischen Verhältnisse wieder ändern werden. Die drohende Fernbeziehung wird Renates Gemüt bis auf weiteres belasten.

Dann wird sie zu einem Essen in der Reichskanzlei eingeladen und von Reichspropagandaminister Goebbels am Tisch direkt neben Adolf Hitler platziert - ein deutlicher Hinweis! Zweimal geht Renate hin, beim dritten Mal sagt sie ab. Ist der einflussreiche Propagandaminister danach erzürnt, wo er doch sie, die ideale deutsche Frau, als Ehefrau Adolf Hitlers auserkoren hat? Oder setzt er sie unter Druck, damit sie sich endgültig und eindeutig von ihrem Freund lossagt? Das ist durchaus plausibel, zumal sich Schikanen von Seiten der Nazis gegen die Schauspielerin belegen lassen. Später, während der Dreharbeiten zu "Allotria" wird ihr ein Reisepass nach Paris verweigert, wo sie drehen soll, aber auch ihren Freund treffen kann. Goebbels konfrontiert sie hinterher mit Fotos von der heimlichen Begegnung und droht mit einem KZ-Aufenthalt für ihren Vater, falls sie sich nicht an die Auflage hält, den Geliebten nicht mehr zu treffen. Der Vater kann übrigens schon seit 1933 nicht mehr als Redakteur des anti-nationalsozialistischen "Berliner Tageblatt" arbeiten.

Als am 2. August 1934 der Reichspräsident von Hindenburg stirbt, wird eine landesweite Volkstrauer angeordnet. Am 20. August erreicht Renate ein Schreiben der Reichsfachschaft Film mit folgendem Wortlaut:

"Über Sie ist folgende Beschwerde eingelaufen: ‚Nach Beendigung der Übertragung aus Tannenberg anlässlich der Bestattung des Herrn Reichspräsidenten wurde gegen 12 Uhr 15 festgestellt, dass in dem Hause Bachstelzenweg 11, das von Ihnen bewohnt wird, Tanzmusik auf Schallplatten und anschließend Klaviermusik gespielt wurde. Es handelte sich um ausschließlich lustige Weisen, wie Vorträge von „Singing Babies“, verschiedene Walzer usw. Das Spiel wurde gegen ca. 3 Uhr 15 Minuten eingestellt.‘ Da die Musik bei offenem Fenster aufgeführt wurde, ist sie von denjenigen, die sich dieselbe mit anhören mussten, als Provokation oder zumindest als große Taktlosigkeit aufgefasst worden. Wir bitten Sie, sich hierzu umgehend schriftlich zu äußern." ( Quelle hier ) 

Renate antwortet ausführlich und begründet es mit beruflicher Tätigkeit. Ihre schauspielerischen Auftritte traut man sich nicht zu unterbinden, dazu ist sie zu beliebt. Doch die Rollenangebote nehmen ab. Nachdem 1934 und 1935 mit "Die englische Heirat", "Liselotte von der Pfalz" und "Liebesleute" nur noch ein, zwei Film mit Renate gedreht worden sind, gibt es 1936 noch einmal drei Produktionen: "Allotria", "Eskapade" und die unvollendete "Geliebte von Paris". Ihr letzter Film wird der nationalsozialistische Propagandastreifen "Togger" unter dem antisemitischen Regisseur Jürgen von Alten von 1936/37 bleiben, den sie gesundheitlich schwer angeschlagen nur mit Mühe beenden kann. 

In "Allotria" mit Heinz Rühmann ( ganz links ),
in "Eskapade




 





Diese Krankheitsepisoden häufen sich immer wieder während der Nazizeit. Anhaltend kursieren in der Öffentlichkeit Vermutungen über die Ursache. Die Ufa will ihren Vertrag nicht verlängern und kündigt ihr z. B. im März 1934, später versuchen die Ufa-Direktoren wieder einzulenken und wollen mit ihr einen neuen Vertrag aushandeln. Renate hält sich bedeckt und reist über die Schweiz nach Südfrankreich, um dort Georg Deutsch zu treffen.

Doch sie braucht die Arbeit aus finanziellen Gründen. Sie hat Steuerschulden und bestreitet den Unterhalt der Familie, seit ihr Vater nicht mehr arbeiten kann ( als Gegenleistung berät er sie bei der Stoffwahl ihrer Filme ). Der Ufa-Vorstand verlangt nach einem Attest über ihren "versicherungsfähigen Gesundheitszustand", und Renate sieht sich veranlasst, neuen Gerüchten durch ein Interview in ihrem Zuhause, inzwischen ein kleineres Haus im Dahlemer Reichensteiner Weg, das sie ausgiebig vorführt,  entgegen zu wirken. Weitere Einblicke in ihr Privatleben bleiben dabei tabu. Doch in realiter lebt sie in absoluter Unsicherheit und entsprechender Anspannung, fällt doch auch ihre Beziehung zu Georg Deutsch unter die Bestimmungen der "Nürnberger Gesetze", sie begeht also Rassenschande.

"Togger" ( mir Paul Hartmann, 1937 )

Die Spuren all dieser Brüche, Alkohol, Tabletten hinterlassen Spuren in ihrem Gesicht und ihrem Gemüt und machen die Arbeit mit ihr am Filmset schwieriger. Als sie so weit ist, Deutschland zu verlassen, um mit Georg Deutsch zu leben, muss sie erfahren, dass dieser kein Interesse mehr daran und eine neue Freundin hat. Das geht an die Substanz, doch noch gibt sie nicht ganz auf. Am Ende der Dreharbeiten zu "Togger" ist Renate jedoch völlig erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Im Februar 1937 begibt sie sich in ärztliche Behandlung, erscheint aber noch beim Berliner Filmball im März. 

Eine Vorladung zum Berliner Polizeipräsidenten tut ihr übriges, auch wenn sich die Hintergründe nicht mehr genau klären lassen. Renate wendet sich nach dem Verhör an Goebbels, der ihr, so seine Tagebuchaufzeichnungen vom 6. April, beipflichtet. Dann emigriert auch noch ihr Entdecker Reinhold Schünzel. Es deprimiert sie zusätzlich, dass mit ihr geplante Projekte mit anderen Kolleginnen realisiert werden. Renate zieht sich völlig zurück, scheint gefangen in all ihrer Hoffnungslosigkeit.

Source

Der Absturz folgt, und zwar höchst real: 

Am 28. September 1937 stürzt Renate aus dem oberen Stockwerk ihres Hauses in Berlin-Dahlem, ob in Selbstmordabsicht oder wegen tragischer Umstände bleibt bis heute ungeklärt. Sie hat Verletzungen an Knie und Kopf, als ihre Freundin Sybille Schmitz, die mit ihr verabredet ist, sie findet. Sie schwebt allerdings nicht in Lebensgefahr. Man liefert sie ins "Augsburg - Sanatorium" ein, eine chirurgische Privatklinik, die Kniescheibe wird operiert, das Bein kommt in Gips, ein Schädelbasisbruch kann ausgeschlossen werden. Besuchern scheint Renate neuen Lebensmut gefasst zu haben.

Zehn Tage später erleidet sie in der Nacht zum 7. Oktober 1937 völlig überraschend einen heftigen epileptischen Anfall. Renate Müller stirbt sechs Stunden später mit gerade einmal 31 Jahren morgens um zehn Uhr.

Um ihre Beisetzung auf dem Parkfriedhof Lichterfelde ranken sich weitere Mythen, z.B., dass Goebbels diese behindert habe und kaum jemand gekommen sei. Erhaltene Fotos sprechen ein andere Sprache: Hunderte von Anhängern, Kollegen und Freunden nehmen an der Trauerfeier teil und geben Renate Müller ein letztes Mal die Ehre. Ihr Vater und der Dichter Max Barthel halten die Trauerreden.

Unmittelbar danach wird Renates Haus in Dahlem von der Gestapo konfisziert, sämtliche Briefe vernichtet, der Nachlass durch das Auktionshaus Achenbach versteigert. Der Erlös geht an den Staat, die Schulden, die die Schauspielerin noch hat, müssen ihre Eltern bezahlen.

Dieser überaus tragische Tod der ungemein populären jungen Frau führt zu Gerüchten und Spekulationen, die bis 1945 noch unter der Oberfläche bleiben. Nach dem Krieg brechen sie sich in unzähligen Zeitungsartikeln und einigen Büchern Bahn. 1960 produziert Artur Brauner unter dem Titel "Liebling der Götter" einen Film mit Ruth Leuwerik in der Hauptrolle, der sehr frei mit den Fakten umgeht. Renates Mutter & Schwester ( der Vater ist 1951 gestorben )  erwirken vor Gericht einen Vergleich. Es kommt zu Umgestaltungen. Im Filmvorspann heißt es nun, "in freier Gestaltung [geht es um] das Leben und Sterben einer großen Künstlerin in unfreier Zeit". 

Ungeachtet dessen - oder gerade deshalb - wird der Film ein Kassenschlager. Das Leben schreibt manchmal eben die spannendsten Drehbücher, besonders bei solchen  Menschen, die wie ein Komet über den Himmel ziehen bevor sie verglühen...




10 Kommentare:

  1. Lovely to know and learn about this amazing woman. Thanks for sharing!
    xoxo
    Lovely
    www.mynameislovely.com

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  2. Wiederum ein großartiger Überblick zu einer Persönlichkeit, die mir erst hier begegnet. Da ich selbst sehr gerne ins Kino gehe, sind diese Einblicke in ein erstaunliches, aber leider sehr kurzes Leben ein besonderes Highlight für mich.
    Und wiederum zeigt sich, wie sehr die Nazis in das Leben von KünstlerInnen eingewirkt haben, mit leider sehr tragischen Folgen für viel zu viele Menschen.
    Liebe Grüße,
    C Stern

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  3. Außergewöhnlich! Wie war der Spruch mit "Wen die Götter lieben" (Klischees bei Schauspiele/innen, ja ich weiss) Zwei oder drei Filme kenne ich auch noch. Aber wirklich in Erinnerung ist sie mir nicht geblieben. Das hat dann Dein Artikel geändert.
    Danke Dir und liebe Grüße
    Nina

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  4. Liebe Astrid,

    du gibst dir immer soviel Mühe mit deinen Porträts. Interessant zu lesen und lehrreich.
    Renate Müller kannte ich nicht ( doch ich kannte eine, aber nicht diese ).
    Ein schwieriges Leben, nicht einfacher gemacht durch die Zeit, in der sie aufwuchs. Und immer wieder zum Wütendwerden, dass andere Leute oder Machtinnehaber glauben, sie hätten das Recht, über das Leben anderer zu bestimmen.

    Viele Grüße,
    Claudia

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  5. So jung und tragisch gestorben. Das wusste ich nicht.
    Renate Müller, dazu muss frau erst mal stehen, wenn sie ein Star werden will. Und der war sie zu ihrer Zeit. Ich habe sie nur wenig in Erinnerung und ihr Leben kannte ich gar nicht.
    Die vielen Querverweise in Deinem Post zeigen, dass sie gut vernetzt war und eine wichtige Rolle spielte in den damaligen Künstlerkreisen.
    Dass auch Deine Familienmatriarchin das lebhafte Danziger Kulturleben liebte, zeigt welch gute Basis dort die sehr junge Frau legen konnte.
    Ein sehr spannendes Portrait, lieben Dank sagt Sieglinde

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  6. Das war wieder sehr spannend und für mich neu. Da bleiben am Ende doch eine Menge Fragezeichen an der so jung gestorbenen Künstlerin.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  7. was für ein tragisches schicksal! dass es damals schon das harzer bergtheater in thale gab, ist auch neu für mich. überhaupt, die filmwelt in der nazizeit habe ich wenig verfolgt und der name renate müller sagte mir gar nichts. deshalb danke für diesen beitrag!
    glg, mano

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  8. der Name sagt mir nichts.. aber sicher habe ich sie auch schon mal in alten Filmen gesehen
    sie war ja durchaus erfolgreich
    (auch wenn es in der Nazizeit problematisch für sie wurde )
    um so tragischer endete dann ihr Leben
    danke für das Portrait
    liebe Grüße
    Rosi

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  9. Statt, wie üblich, sonntags, Frühstückslektüre an einem Dienstag. Wieder eine interessante Frau, die du beschrieben hast. Dass sie so früh gestorben ist wusste ich nicht. Ein tragisches Ende.
    Viele Grüße,
    Karin

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  10. liebe Astrid, welch eine ungewöhnliche Biographie, würde meine Mutter noch leben, hätte sie sich riesig gefreut wenn ich diese für sie ausgedruckt und ihr vorgelesen hätte, denn ich bin mir sicher, sie kannte sie..
    " du schreibst : Menschen, die wie ein Komet über den Himmel ziehen bevor sie verglühen..." so ist es mit ihr gewesen, dass sie so jung und auf diese Art und Weise starb ist ausgesprochen tragisch und traurig. ch habe ihre ausgedehnte Biographie geradezu verschlungen weil sie als Person ud Künstlerin eine so spannende Persönlichkeit war die i ihrer Durchsetzugskraft und mit ihrer Stärke sehr auffiel, ich empfinde nach dem lesen der Biographie dass sie zudem eine sehr mutige junge FRau war, die sich gerade in dieser Zeit viel zutraute, selbstsicher erschien und dennoch so tragisch endete...
    ich danke dir für diese interessante Biographie einer Künstleri die mir bisher ubekannt war..
    als ich bei dir scrollte und weiterlas habe ich von deinem großen Verlust erfahren, das tut mir von Herzen leid, es ist schwer in Worte zu fassen was man fühlt wenn so etwas geschieht.
    meine guten Wünsche dass du es gut verkraftest und bald wieder Mut fasst geleiten dich in ein neues Dasein, die wahrscheinlich noch voller Ungewissheiten sind...
    ein klein wenig bleibt mir das Wort im Mund stecken, aber ich denke du wirst wisen wie ich es meine...
    alles alles Gute für dich liebe Astrid...von angelface die länger nicht mehr hier war, weil eigenes Leid im Moment größer war als in den Blogs zu lesen...
    herzlich angel....

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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