Der 9. November gilt als der "Schicksalstag" in der deutschen Geschichte, insofern als an diesem Tag oft eine politische Wende vollzogen worden ist. So markiert er u.a. den Beginn der ersten deutschen Republik 1918, den Beginn der Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung Deutschlands 1938 und den Fall der Berliner Mauer 1989 ( mehr dazu hier ). Als ich von einer geplanten Aktion der Stuttgarter Qu*rdenker an diesem Tag erfuhr, schien mir das Datum mal wieder bewusst gewählt, da mit einer großen Bedeutung aufgeladen. Ihre Unschuld haben diese Herrschaften bei mir ja schon durch solche Aktionen wie diese hier beschriebene, die an Allerheiligen, den Umgang mit einem Berliner Polizisten & seiner Familie oder diesen Aufruf zum Militärputsch durch den "Schwindelarzt" längst verloren.
Das war mir dann schließlich Anlass genug, diesen Tag erneut in einem Blogpost aufzugreifen, nun aber um einmal zu beschreiben, was Faschismus eigentlich ausmacht. Die jüngste deutsche Protestbewegung kommt der Ideologie ja immer wieder sehr nahe bzw. zeigt keine Berührungsängste mit ihren Protagonisten, wie die Vorkommnisse vom letzten Samstag zeigen.
Der italienische Schriftsteller, Philosoph und Semiotiker Umberto Eco, selbst als Bub unterm Faschismus groß geworden und tief geprägt von der Ideologie und von den Ereignissen der anschließenden Jahre, hat am 24. April 1995 zum 50. Jahrestag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus an der New Yorker Columbia University zum Faschismus einen Vortrag gehalten und dabei vierzehn Merkmale aufgezählt, die ich in einer Kurzfassung wiedergebe:
1. Traditionenkult: Der Traditionalismus ist die Gegenbewegung zum Synkretismus, der als Vermischung verschiedener Religionen, Konfessionen, philosophischer Lehren zu verstehen ist. "Die Wahrheit ist ein für allemal verlautbart", so die faschistische Auffassung. Dabei wird auch gerne auf Geheimlehren, Mythen und andere okkulte Elemente zurückgegriffen wie die Geschichte vom Heiligen Gral, die Protokolle der Weisen von Zion, Anschaungen der New-Age-Bewegung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und in jüngster Zeit die QAnon - Fantasien usw.
2. Ablehnung der Moderne: Technikverehrung findet zwar statt ( Autobahnen! Volkswagen! ), aber die Erscheinungen der Moderne bleiben immer einer Anschaung von "Blut und Boden" untergeordnet. Eine kapitalistische Lebensweise wird angeblich abgelehnt, aber eigentlich geht es viel mehr um die Ablehnung von Aufklärung und ihrer Werte. Vernunft gilt einfach als Entartung.
3. Irrationalismus: "Kultur wird verdächtigt, sobald sie kritisch wird. Misstrauen gegenüber dem Intellekt". Denken wird als Entmannung, als Schwächung empfunden.
4. Ablehnung der analytischen Kritik: "In der modernen Kultur lobt die Wissenschaft mangelnde Übereinstimmung als nützlich für die Bereicherung des Wissens", so Eco. Für den Faschisten ist das Verrat.
5. Ablehnung von Meinungsvielfalt und Pluralismus: Sind für uns "Meinungsverschiedenheiten ein Anzeichen der Vielfalt", beuten Faschisten die natürliche Angst vor Unterschieden aus, verschärfen sie und suchen so Verbündete zu gewinnen. Andersdenkenden wird zum Beispiel angedroht, im Falle der Machterlangung, vom "Volksgericht" liquidiert zu werden. Und letzten Endes entsteht daraus auch der Rassismus, denn Fremde werden immer als unwillkommene Eindringlinge stigmatisiert.
6. Individuelle oder soziale Frustration ist Grundlage des Faschismus, egal ob aus einer ökonomischen Krise oder dem Gefühl politischer Demütigung entstanden.
7. Nationalismus: "Menschen, die sich der sozialen Identität beraubt fühlen, wird ein einziges Privileg zugesprochen: In demselben Land geboren zu sein", schreibt Eco. "[...] eine Nation [bezieht] ihre Identität nur aus ihren Feinden. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen Psychologie die Obsession einer Verschwörung, am besten einer internationalen Verschwörung. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen. Am leichtesten läßt sich dieser Verschwörung mit einem Appell an den Fremdenhaß begegnen."
8. Demütigung durch den Reichtum und die Macht der Fremden: "Juden sind reich und helfen einander über ein geheimes Netz gegenseitiger Unterstützung", wurde damals wie heute gedacht und gesagt. Zuletzt wurde bei uns auch gerne geäußert: "Flüchtlinge kriegen alles, haben iPhones und haben sich zur 'Invasion' verschworen." Die Anhänger sind aber auch immer überzeugt, dass der Feind besiegt werden kann, denn Feinde sind immer gleichzeitig zu stark und zu schwach.
9. Das Leben ist nur um des Kampfes Willen da. "Pazifismus ist die Kollaboration mit dem Feind", beschreibt Eco die Auffassung des Faschisten. Damit hängt auch immer das Armageddon-Narrativ zusammen: "Da die Feinde besiegt werden müssen, ist auch eine Entscheidungsschlacht erforderlich, und danach wird die Bewegung die Weltherrschaft antreten."
10. Elitedenken: Man gehört dem besten Volk, der besten Rasse an. "... aristokratisches und militaristisches Elitedenken hat eine grausame Verachtung des Schwächeren im Gefolge." Die "Masse" wird allerdings immer als schwach ( Schlafschafe! ) angesehen, so schwach, dass sie einen Führer braucht und verdient. Allerdings lässt sich diese Führerschaft NICHT demokratisch übertragen, sondern der Führer ermächtigt sich am besten selbst. Seine Gefolgschaft erlebt sich selbst dennoch weiterhin als Elite.
11. Heldentum: Im Faschismus hat, anders als in der Mythologie, jeder ein Zeug zum Helden. Der Held ist quasi die Norm. "Dieser Kult des Heldentums hängt aufs engste mit dem Todeskult zusammen", so Eco. Man sucht ungeduldig "den heroischen Tod als beste Belohnung", schickt aber noch lieber gerne andere in diesen.
12. "Da sowohl endloser Krieg als auch Heroismus recht schwierige Spiele sind, überträgt der Urfaschist seinen Willen zur Macht auf die Sexualität. Hier liegt der Ursprung des machismo", fasst Umberto Eco seine Beobachtungen zur Frauenverachtung und der Intoleranz gegenüber anderen Formen der Sexualität bei Faschisten zusammen. "Da auch die Sexualität ein schwieriges Spiel ist, neigt der Urfaschist zum Spiel mit Waffen - das wird zu einer phallischen Ersatzübung."
13. Populismus & Volkskörper: "In einer Demokratie haben die Bürger individuelle Rechte, aber in ihrer Gesamtheit besitzen sie politischen Einfluß nur unter einem quantitativen Gesichtspunkt - man folgt den Entscheidungen der Mehrheit", schreibt Eco weiter. "... das Volk dagegen [ist eine] monolithische Einheit, die den Willen aller zum Ausdruck bringt. Da eine große Menschenmenge keinen gemeinsamen Willen besitzen kann, präsentiert sich der Führer als Deuter."..."das Volk [ist also] nichts als eine theatralische Fiktion." Anhänger benutzt man, um eigene Zwecke zu verfolgen, ihre individuellen Wünsche & Bedürfnisse spielen keine Rolle für ihren Anführer. Parlamente werden übrigens immer als "verrottet" bezeichnet.
14. "Neusprech" als Verständigungsmittel: Es werden Begriffe wie "Lügenpresse", "Fake News" usw. bis zu "Umvolkung" neu etabliert und alte Begriffe neu geframed ( ein Frame strukturiert die Wahrnehmung der Realität auf eine bestimmte Weise und beeinflusst, welche Informationen bei der so angesprochenen Person hängen bleiben ). Oder sie werden oft bis zum genauen Gegenteil der ursprünglichen Bedeutung umgedeutet, und der Faschismus kann so "in der unschuldigsten Verkleidung wieder auftreten". Die politische Aufladung der Sprache ist eine der ältesten Strategien von Diktaturen. Auch Zitate fallen diesen Umwidmungen inzwischen gerne zum Opfer, so in diesem Beispiel von Sophie Scholl.
Die Aufzählung kann nichts als ein Raster sein, das an die Auftritte & Aussagen so mancher Menschen hier bei uns gelegt werden kann, die mit scheinheiligstem Gesicht verkünden, sie wollten uns nur "Liebe, Frieden, Freiheit" bringen. Im Hinterkopf immer das, was Eco zum Faschismus generell meint:
"Der Faschismus ließ sich als Bezeichnung für die unterschiedlichsten Zwecke verwenden, weil ein faschistisches Regime auch dann noch als faschistisch kenntlich bleibt, wenn man ihm ein oder mehrere Merkmale nimmt."... "Diese Merkmale lassen sich nicht zu einem System organisieren; viele von ihnen widersprechen einander und lassen sich außerdem auch anderen Formen des Despotismus oder Fanatismus zuordnen. Aber jedes einzelne von ihnen kann zum Kristallisationspunkt für den Faschismus werden."