Donnerstag, 20. September 2018

Great Women # 155: Elisabeth Borchers


Wer Grundschullehrerin ist, kommt um sie nicht herum, denn ihre Gedichte sind in allen Lesebüchern oder Gedichtanthologien für die jüngeren Kinder enthalten. Sicher kennt die eine oder andere Leserin das Gedicht "November" oder das März - Gedicht mit dem bösen Ende des Schneemanns - für mich gehörten sie zum Arbeitsinventar und die Anthologien, die sie herausgab, füllten meine Regale. Weniger habe ich mich dafür interessiert, welchen Anteil sie hatte an der literarischen Entwicklung Nachkriegsdeutschlands und den von mir geschätzten Verlagsveröffentlichungen bei Luchterhand und Suhrkamp, welch wichtige Person hinter dem Namen Elisabeth Borchers versteckt war. Ihr Todestag jährt sich nächsten Dienstag zum fünften Male und war mir nun Anlass, über sie zu forschen.

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Elisabeth Borchers wird am 27. Februar 1926 in Homberg, Kreis Moers/Niederrhein ( heute zu Duisburg gehörig ) in eine Lehrerfamilie hineingeboren, kommt also früh mit Literatur in Verbindung, die ihr die reichhaltige Bibliothek zu Hause bietet.

Der Vater fällt im 2. Weltkrieg. 1940 macht sich Elisabeth mit ihrer Familie nach der Bombardierung ihres Elternhauses vor dem immer schärfer geführten Bombenkrieg auf die Flucht. Eine neue Heimat findet sie bei den Eltern ihrer Mutter im elsässischen Niederbronn, das sich wegen seiner Heilquellen "les-Bains" nennen darf. Der Ort liegt am Rand der Nordvogesen zur Rheinebene hin, in hügeliger Landschaft voller Weinberge und Hopfengärten. Die Städte Wissembourg und Hagenau mit ihren romanischen Kirchen sind nicht weit davon entfernt. In letzterer besucht die junge Elisabeth die Schule.

Später werden ihre Gedichte die Erinnerungen an diese Landschaft durchwehen. Und das Aufwachsen mit verschiedenen Sprachen - Deutsch, Französisch und dem alemannische Dialekt des Elsaß - wird seinen Niederschlag finden, denn, so Klaus Reichert: "Wer zwischen den Sprachen aufwächst, weiß, die Dinge können auch anders heißen, die Fügungen anders verlaufen, der emotionale Mehrwert ein anderer sein. Was heißt dann Heimat? Ist nicht die Heimat in einer Sprache zugleich der Verlust der anderen geliebten? So sind Einssein und Anderssein in der Sprache, Nähe und Distanz, Voraussetzung jedes Dichtens, ihr als frühe Erfahrung bereits mitgegeben." ( Quelle hier )

Als die deutschen Besatzer den Alliierten in Frankreich weichen müssen, muss auch Elisabeth als Reichsdeutsche das Elsaß verlassen. Die Familie kommt im oberschwäbischen Weißenau in der Nähe des Bodensees, zwischen Weingarten und Ravensburg gelegen, unter. Dort wird Elisabeth aufgrund ihrer Sprachkenntnisse von 1945 an ( bis 1954 ) Dolmetscherin bei der französischen Besatzungsmacht und arbeitet auch als Übersetzerin.

1946 heiratet die Zwanzigjährige und bekommt zum Jahresende ihren ersten Sohn Ralf, später kommt ein zweiter Sohn, Uwe, dazu. ( Die Ehe wird 1957 wieder geschieden. )

Hier in der Bodenseeregion lernt Elisabeth im "Ravensburger Kreis", einer 1949 gegründeten ( und bis heute bestehenden ) literarischen Gesellschaft den elf Jahre jüngeren Lyriker Peter Hamm kennen, den "lyrischen Wunderknaben im Weingärtner Forstamt", der von der jungen Frau bezaubert ist. Zusammen entdecken sie die Gedichte von Paul Celan, Günter Eich, Ilse Aichinger, Peter Huchel, schwedischen und tschechischen Dichtern und dem Surrealismus nahestehenden Franzosen wie Paul Eluard, René Char, Henri Michaux, die die des Französischen Mächtige vermutlich aus dem Stegreif übersetzt. 

Hamm veröffentlicht als 19jähriger seine ersten Gedichte in den führenden Zeitschriften und Anthologien der Nachkriegszeit und ermutigt, so das Ondit, die Freundin, selbst Gedichte zu schreiben. Über Peter Hamm kommt sie auch in Kontakt zu der in Schweden lebenden Nelly Sachs.

Hamm übernimmt 1959 die Leitung der Pressestelle der damaligen "Hochschule für Gestaltung" in Ulm, an der auch Elisabeth nach einem USA - Aufenthalt als Mitarbeiterin von Inge Aicher-Scholl unterkommt.

1960 geht sie dann jedoch als Lektorin zum Luchterhand Verlag in Neuwied und Berlin. Der Verlag gilt zu dieser Zeit mit Autoren wie Ernst Jandl, Helmut Heissenbüttel, Franz Mon und Gerhard Rühm als eine Bastion der Avantgarde. 

Es ist das Jahr, in dem Elisabeth Borchers auch als Dichterin ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gerät: Vier Worte genügen, um die Bildungsbürger des Landes aufzuregen: "eia wasser regnet schlaf". Damit beginnt das Gedicht, welches in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 20. Juli vorabgedruckt wird und einen veritablen Skandal auslöst:
eia wasser regnet schlaf *
I
eia wasser regnet schlaf
eia abend schwimmt ins gras
wer zum wasser geht wird schlaf
wer zum abend kommt wird gras
weißes wasser grüner schlaf
großer abend kleines gras
es kommt es kommt
ein fremder 

II
was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
wir ziehen ihm die stiefel aus
wir ziehen ihm die weste aus
und legen ihn ins gras
mein kind im fluß ists dunkel
mein kind im fluß ists naß
was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
wir ziehen ihm das wasser an
wir ziehen ihm den abend an
und tragen ihn zurück
mein kind du mußt nicht weinen
mein kind das ist nur schlaf
was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
wir singen ihm das wasserlied
wir sprechen ihm das grasgebet
dann will er gern zurück 

III
es geht es geht
ein fremder
ins große gras den kleinen abend
im weißen schlaf das grüne naß
und geht zum gras und wird ein abend
und kommt zum schlaf und wird ein naß
eia schwimmt ins gras der abend
eia regnet’s wasserschlaf.  

Lyrik hat im Nachkriegsdeutschland erbaulich und subjektiv zu sein und keine Sprachreflexion oder gar Experimente zu betreiben. "Was erwarten die Leute eigentlich von einem Gedicht?" Ein paar Zeilen, "die der Realität entfliehen und ihre eigene unnütze Realität bauen", wird sie im Alter die ganze Aufregung kommentieren.

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Die Empörung bricht sich in zahlreichen Leserbriefen wochenlang Bahn, der gesunde Menschenverstand wird beschworen, von Leichenfledderei ist die Rede, von "entarteter Kunst" und "schizophrenem Gestammle" einer "volltrunkenen Dichterin" - heute kaum mehr nachvollziehbar ( oder doch wieder? ). Der Tonfall eines Kindes oder Kinderlieds in einem Gedicht scheint damals einem Tabubruch gleichzukommen! Auf jeden Fall wird sie ab da mit diesen Versen identifiziert, ja reduziert, sie gilt als Dichterin der Surrealität und der Realitätsflucht, so dass sie "eia wasser regnet schlaf" zeitweise sogar aus einer Sammlung ihrer frühen Texte eliminiert sehen möchte... 

Von 1961 an veröffentlicht sie in Abständen von annähernd sechs Jahren Gedichtbände sowie Prosatexte. Die Gedichte schreibt sie auf einer Reiseschreibmaschine der Marke "Olivetti lettera". 

Ihr erster Band titelt lapidar "Gedichte". Die scheinen auf den ersten Blick einfach und eingängig zu sein, der zweite oder dritte Blick widerlegt das Vorurteil. Ihre Lyrik ist vielmehr mit alogischen Pointen, überraschenden Wendungen, surrealistischen Beziehungen bestückt, sie sind "wohlkalkulierte Gebilde aus Klängen, Bildern, Vorstellungen, Anspielungen und Entsprechungen" ( Wulf Segebrecht an dieser Stelle ) . Und je länger man sich auf sie einlässt, umso komplexer werden sie. Sie sei "von allen Dichterinnen die spektakulär Unspektakulärste," meint der befreundete Arnold Stadler, eine "Dichterin der Lautlosigkeit" Karl Krolow.  

Luchterhands
Loseblatt
Lyrik
1962 erscheint ihr erstes Kinderbuch "Bi, Be, Bo, Ba, Bu – Die Igelkinder" mit Illustrationen von Dietlind Blech ( und zahlreiche werden folgen ), 1965  u.a. "Nacht aus Eis, eine Sammlung ihrer Szenen und Spiele für den Rundfunk und ein weiteres Kinderbuch mit Dietlind Blech: "Und oben schwimmt die Sonne davon". 

Ab 1966 bis 1970 bringt sie zusammen mit Günter Grass und Klaus Roehler alle zwei Monate "Luchterhands Loseblatt Lyrik" heraus, halbmeterlange Gedichtposter, inzwischen legendär, die man an die Wand pinnen kann. "Der Tisch an dem wir sitzen" mit phantastischen Illustrationen von Günter Bruno Fuchs kommt 1967 heraus sowie 1970 ihre Erzählungen "Eine glückliche Familie und andere Prosa"...

Beim Luchterhand-Verlag startet Elisabeth auch ihre Karriere als Maßstäbe setzende Lektorin, die die Literaturszene in Deutschland durch die Herausgabe von Werken fremdsprachiger Autoren bereichern wird. Große Ausgaben der von ihr verehrten Franzosen Apollinaire, Eluard, Yvan Goll bringt sie auf den Weg, sie entdeckt Claude Simon und Raymond Roussel, überredet den Dichterfreund Max Hölzer zu einer Übersetzung von George Bataille, übersetzt selbst Jean Pierre Jouves Roman "Paulina 1880" und erwirbt Lizenzausgaben von der DDR, wie zum Beispiel die Werkausgabe des Chilenen Pablo Neruda

In den 1970er - Jahren kommt es aufgrund von Absatzkrisen zu Konzentrationsbewegungen auf dem deutschen Buchmarkt. Es bilden sich Verlagsgruppen und Medienkonglomerate, und das sogenannte Bestseller-Marketing kommt in Mode. Der Frankfurter Suhrkamp Verlag mag sich diesem Trend nicht anpassen, sondern sieht seine Aufgabe darin, kritischer und anspruchsvoller als die anderen zu sein und seine AutorInnen in besonderer Weise zu pflegen.

Für diese Aufgabe holt sich Siegfried Unseld 1971 Elisabeth Borchers nach Frankfurt in sein Verlagshaus. Über viele Jahre wird sie nun als seine rechte Hand & Cheflektorin die wichtigsten Autoren betreut. Es werden die glanzvollsten, erfolgreichsten Jahre Suhrkamps. Von Anfang an gehört die inzwischen langjährige Freundin der Borchers, Nelly Sachs, zum literarischen Programm, Paul Nizon, dann Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Jurek Becker, Peter Weiss, Friederike Mayröcker, Ernst Augustin, Jürgen Becker, Volker Braun, Wolfgang Koeppen, Hermann Lenz, Uwe Johnson, die Österreicher Thomas Bernhard und Peter Handke ( ein Borchersscher Gedichttitel "Vom Eindringen des Imperfekts in die Grammatik des heutigen Tages" wirkt wie eine Hommage an Letzteren ). 

Sie betreut aber nicht nur, sie arbeitet regelrecht mit den Autoren, manchmal auch hart und gnadenlos: So macht Elisabeth Borchers aus Peter Weiss’ Manuskript der "Ästhetik des Widerstands" ein lesbares Werk, denn der Autor ist nach seinen vielen Jahren in Schweden des Deutschen nicht mehr wirklich mächtig. Böse Zungen behaupten, die zahllose Korrekturen, die die Lektorin vorgenommen habe, haben den Autor so erschöpft, dass er schließlich allen Änderungsvorschlägen zustimmt. Manche fürchten sie also ( und ihren Einfluss ), doch viele sind befreundet und alle respektieren sie, die mit den Jahren große Dame ( und als damenhaft wird ihr Auftreten immer wieder beschrieben ) der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die sie an entscheidender Stelle geprägt hat. Sie selbst beurteilt ihre Arbeit in der Rückschau so:
"Der Lektor ist ein abgerichtetes Wesen. Er hat den Verlag und den Autor zu bedienen. Ein unaufhörlicher Akt der Unterordnung und Selbstverleugnung muss es sein, er muss sich Lügen strafen." (Quelle hier)
1984 entdeckt sie als Lektorin Marguerite Duras’ Roman "Der Liebhaber" für Suhrkamp und verschafft dem Verlag damit einen Bestseller im Jahr darauf ( Platz sieben auf der Spiegelbestsellerliste des gesamten Jahres ). Später wird sie sich darüber beklagen, dass diese und andere Leistungen ihrerseits nicht wirklich anerkannt worden sind, weil keiner im Literaturbetrieb vermerkt, wie groß der Anteil des Lektors am fertigen Werk ist. In dem zu Suhrkamp gehörenden Insel Verlag gibt Elisabeth Borchers zahlreiche Anthologien, etwa zu vergessenen Märchen oder Gedichten heraus. Auch da findet sie als anerkannte Lyrikerin keine Beachtung... 

Die wird ihr andernorts zuteil:

Schon 1965 bekommt sie den Funkerzählerpreis des SDR und zwei Jahre später den Literaturpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie.
1976 wird ihr der "Roswitha von Gandersheim-Literaturpreis" der Stadt Bad Gandersheim verliehen, erhält sie zusammen mit Wilhelm Schlote den "Deutschen Jugendbuchpreis" für "Heute wünsch ich mir ein Nilpferd", 1986 der "Friedrich Hölderlin-Preis" der Stadt Bad Homburg v. d. Höhe für ihren Lyrikband "Wer lebt".
1996 folgt dann das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland
Und 2012 kommt noch der "Horst-Bienek-Preis für Lyrik" zu den Auszeichnungen dazu.

Die Lyrikerin ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft.

Privat ist Elisabeth Borchers über die Jahre mit dem 14 Jahre jüngeren Claus Carlé liiert, einstmals Prokurist bei Insel, ab 1965 in der Herstellungsabteilung von Suhrkamp und später Leiter der Presseabteilung & der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Verlages. Sie leben in getrennten Wohnungen in der Arndtstraße im Frankfurter Westend, sie in der 2. Etage, er im Parterre. Als Carlé unheilbar krank ist, heiraten die Beiden am 28. Januar 1998, drei Tage vor seinem Tod.

1998 beendet sie auch ihre Arbeit im Verlag und geht in Pension. Ihr Freund, der Schriftsteller Arnold Stadler, rät ihr, doch ihre Erinnerungen aufzuschreiben, ohne Rücksicht zu nehmen auf Verlag, Autoren, Bücher, Manuskripte. Am Himmelfahrtstag 1999 beginnt sie damit. Polemisch äußert sie sich darin zu Martin Walser, Uwe Johnson und Max Frisch, deren Bücher in ihren Augen "Machwerke" sind:
"Wohin man schaut und liest: Hochstapelei. Selbst in den oberen Rängen, selbst in den Logen. Man kommt nicht umhin, vor sich selbst zu erschrecken, wie dreist man (ich meine mich) zugestimmt hat, wohlwissend, dass es sich um Machwerke handelte. ... Welch ein Pfusch, wohin man sieht und hört."(Quelle hier)
Am 12. Juni 2005 gibt sie das Vorhaben aber wieder auf - die Lebenserinnerungen bleiben unvollendet, werden aber posthum von ihrem Sohn Ralf und dem Kritiker Martin Lüdke im Frühjahr dieses Jahres unter dem Titel "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt" herausgebracht.

Einen guten Einblick in ihr lyrisches Werk  erhält man mit dem Band "Alles redet, schweigt und ruft", der 2001 zum 75. Geburtstag der Autorin herauskommt. Die Auswahl hat wieder Arnold Stadler getroffen. Sein Nachwort gleicht einer literarischen Liebeserklärung und auf die abgedroschene Frage nach den Büchern, die man auf die berüchtigte einsame Insel mitnähme, folgt die Antwort wie selbstverständlich: die Gedichte der Elisabeth Borchers.

Sie selbst gibt noch einmal im Jahr 2003 im Verlaufe von fünf Poetikvorlesungen in Frankfurt Einblick in ihre Art des lyrischen Schaffens. Einleitend bemerkt sie:
"Immerzu die Frage, wo fange ich an, immerzu die Antwort, dass ich es nicht weiß. Ein Zufallsfund in einem Gedicht. Aristoteles behauptet, die Perle sei das Herz der Muschel. Ich könnte fortfahren: Die Kindheit ist das Herz des Menschen.
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In den Vorlesungen beschreibt sie, wie aus Bildern, Wörtern und der Verbildlichung von Augenblicken Gedichtzeilen werden,  für die es "kein theoretisches Kleingeld, keine Faustregeln gibt. Jedes Gedicht ist ein Wagnis." Und: "Ein Gedicht ist nicht diktierbar."

Ihr Ton wird nachdenklicher und zurückhaltender, obwohl Elisabeth Borchers als fröhlicher, zupackender, entscheidungsfreudiger Mensch beschrieben wird. Doch auch sie macht die Erfahrungen des Alters, die der körperlichen Beeinträchtigung und der Verluste. In "Eine Geschichte auf Erden" (2002) ist das ihr Thema. Und doch hört die Sehnsucht, auch die nach Liebe, nicht auf, das ist auch die nachhaltigste Erkenntnis aus meiner Lektüre der fragmentarischen Erinnerungen und das hat mich mehr berührt als das "hübsche Quantum übler Nachrede" rund um den Suhrkamp - Kosmos.

"Umzug" heißt ein spätes Gedicht, das sie verfasst, als sie ihre Wohnung im Frankfurter Westend aufgeben und ihr Zuhause ins Cronstetten-Stift verlegen muss:

Ich räume das Haus
die Zimmer, die Treppen
die Jahre, Jahrzehnte
die Tage und Nächte
die Freunde, die Feinde
die Tassen, die Teller
die Kissen, die Decken
den Himmel, die Hölle
die Gräber
ich räume und räume
den Winter, den Sommer
den Wind und das Wetter. *

Dort stirbt Elisabeth Borchers am 25. September 2013 im Alter von 87 Jahren. Sie wird auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt.

Zu ihren Lebzeiten sind neun selbständige Lyrikbände von ihr erschienen. Ein Jahr nach ihrem Tod, aus Anlass ihres 88. Geburtstages, bringt Weissbooks.w "Achtundachtzig" heraus,  genau 88 Gedichte, für jedes ihrer Lebensjahre eins:

Wohnungen *

Die Seele meiner Mutter wohnt in einer Amsel
Die Seele meines Vaters wohnt in einer Abend-
      sonne
Albert wohnt in einem Pfifferling
Ludwig in einem Stellwerk
Hubert in einem Schulheft

Alles kehrt wieder
und ist schon zu Ende.

Eine empfehlenswerte Anthologie, um Elisabeth Borchers und ihre Poesie kennenzulernen...







*
Textauszüge aus: Elisabeth Borchers, Alles redet, schweigt und ruft. Gesammelte Gedichte.
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Mit freundlicher Genehmigung

10 Kommentare:

  1. So interessant, diese Biografie. Ich kenne nur wenig vor ihr, aber die von Dir vorgestellten Gedichte sind höchst beeindruckend in Stil und Aussage.
    Kein Wunder, dass sie manche Autoren durchschaut hat...
    Wo sind ihre Kinder aufgewachsen? Ist darüber etwas bekannt?
    Danke fürs Vorstellen dieser Grande Dame der Lyrik.

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    1. Es ist so gut wie nichts über ihr Privatleben zu erfahren...
      LG

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  2. Ein schöner Beitrag - das Gedicht hat mich eben sehr berührt... LG

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  3. Ha, eine Bekannte wieder, sehr geschätzt... Toll, dass du ihr einen deiner Posts widmest... Sie begegnet mir immer wieder auch als Herausgeberin. Muss zu Hause mal nachsehen..., bin unterwegs. Ja, und 6 Jahr meines Lebens verbrachte auch ich im Lektorat, eine spannende Zeit für mich... Lieben Gruß Ghislana

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  4. Irgendwie hat es in meinem Ohr geklingelt, als ich Borchers Namen las, aber ich hatte kein Gedicht vor Augen. Deshalb hab ich mir gleich mal den Gedichtband geordert. Ach ja, das banausenhafte Genörgel Anfang der 60iger (bis in die 70iger...) Jahre über Lyrik. Ich erinnere mich noch an unsere jungen Deutschlehrer, die mit Leidenschaft gerade diese moderne Lyrik uns Schülern in der Oberstufe besprachen.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  5. Danke für den Beitrag , mir war ihr Name in der DDR völlig fremd. Erst nach der Wende stiesz ich auf einen mir liebgewordenen Kindervers und, ja: das letzte, das kenne ich gut und habs auf so mancher Karte zitiert. Aber sonst ist da für mich noch viel zu entdecken drin... wenn ich endlich wieder mehr Musze dafür hab (Mutter jetzt endlich auf dem Wege der Besserung, aber ich bin grad völlig kaputt)
    Septembersonnengrüsze mit dem Duft von Äpfeln
    Mascha

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  6. Elisabeth Borchers une poétesse qui me touche beaucoup * merci pour cette découverte
    bon weekend !

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  7. Liebe Astrid,
    danke wieder einmal für den Bericht. Ihr Adventsbuch hat mich lange begleitet und war mir als ein besonderes Geschenk sehr wichtig. Aber leider war mir nicht bekannt, wie schöne Gedichte sie geschrieben hat. Danke
    Liebe Grüße
    Christiane

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  8. Danke, liebe Astrid. Mal wieder eine mir Unbekannte. Mal wieder eine spannende Lektüre. Was es alles so für Leben gibt (oder gab). Lg Maren

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  9. Liebe Astrid,
    und wieder hast Du die Lebensgeschichte einer interessanten Frau aufbereitet.
    vielen Dank
    Margot

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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