Die Frau, die ich euch heute nahebringen möchte, bevölkert meinen persönlichen Künstlerinnenkosmos schon länger und ich habe mich riesig gefreut, ihr bzw. ihren Werken in dem mir aus meiner Familiengeschichte vertrauten Bahnhof Rolandseck wieder begegnen zu können. Im Mai habe ich ihre aktuelle Ausstellung dort besucht. Die Rede ist von Kiki Smith.
Das Ehepaar Smith (1943) |
"Der Katholizismus gibt einer spirituellen Welt eine sichtbare, physische Form. Dieser Fetischismus der Objekte fasziniert mich. Ich interessiere mich für die Objekte und die Architektur des Katholizismus, genau wie für die anderer Glaubensrichtungen", sagt sie 2010 in diesem Interview.
"...aber ich bin auch ein völlig nervöser Mensch und versuche zu externalisieren, wovor ich Angst habe", wird Kiki später erzählen und ihre künstlerischen Interessen & Vorgehensweisen begründen.
Kiki auf dem linken Foto rechts, auf dem rechten ganz außen, 1960er Jahre |
"Als Kind habe ich gebetet, dass meine Berufung offenbart werde – aber nicht mit Erwartung und ohne ein Ziel. Ich bin Künstlerin geworden, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, und weil ich dachte, dass es wirklich Spaß macht, Dinge zu machen."
In der Rückschau erzählt sie: So "... fühlte sich mein inneres Seelenleben an... nicht zerstückelt, sondern durcheinander, zerbrechlich. Ich lebte von Zigaretten und Whisky... Und dann, ein Jahr vor dem Tod meines Vaters, als ich sechsundzwanzig war, bekam ich "Gray's Anatomy" und begann daraus zu malen – Fettzellen, Nervenzellen, Blut." ( Quelle hier )
Sie tritt dem Künstlerkollektiv "Collaborative Project, Inc." (CoLab) bei, zu dessen Mitgliedern Jenny Holzer (siehe dieser Post), Jane Dickson, Rebecca Howland, Alan W. Moore und Tom Otterness gehören. Die Gruppe veranstaltet 1980 die Times Square Show.
Kikis Kunst sind zu Anfang meist Siebdrucke auf Kleidungsstücken – sie ist stolz, dass ihre Werke waschbar sind - und ihr Thema ist ab diesem Zeitpunkt hauptsächlich die Anatomie des menschlichen Körpers.
Von links nach rechts: "From My Heart"(1980), "Hand In Jar" (1983), "Untiteld (Heart)" (1986) |
Ein frühes Beispiel aus dieser Zeit ist "Hand in a Jar" aus dem Jahr 1980. Es handelt sich um eine Latexhand, die in ein Gefäß getaucht ist, auf dem Algen wachsen. Während der Entwicklung dieser Skulptur hat Kiki nicht vorgehabt, die Algen einzubeziehen. Aber als sie zufällig auftauchen, ist sie begeistert. Für sie eine Metapher für Parasiten-Wirt-Beziehungen und alle symbiotischen Beziehungen, die im Leben existieren, einschließlich der Tatsache, dass neues Leben oft aus dem Tod selbst entsteht.
Ihre frühen Kleinskulpturen reflektieren dann bald auch körperliche Tabus wie Verfall, Intimität, Sterblichkeit und körperlichen Schmerz. Ihre Begründung dafür, dass sie den menschlichen Körper als Thema gewählt habe, sei, dass "er die einzige Form ist, die wir alle teilen" bzw. "Es ist etwas, womit jeder seine eigene authentische Erfahrung macht".
In ihren Skulpturen der menschlichen Form bestehen aus diversen Materialien wie Bronze, Glas, Wachs, Gips, Porzellan, Silber, Aluminium, Kupfer, Rosshaar, Eisen, Holz, und Pappmaché. Sie verwendet für grafische Arbeiten Fotografien, Käsleinen, Polymer, nepalesisches Papier, Methylzellulose, Graphit, Silbernitrat, fertigt Wandteppiche, Radierungen, Aquatinta (eine Form des Tiefdrucks), Cyanotypien - ihr Repertoire zeugt von einer beeindruckenden Universalität. Und während ihre Kolleg*innen jener Zeit oft eine Kunst schaffen, die sexualisiert ist, interessiert sich Kiki nie für Erotik. Für Kiki ist gerade der weibliche Körper eine heilige Sache.
Links: "Urogenital System (Male & Female; 1986); rechts "Ohne Titel" (1993) |
1982 hat sie ihre erste Einzelausstellung "Life Wants to Live" im Non-Profit-Kunstcenter "The Kitchen" in New York. Um ihre anatomischen Kenntnisse zu vertiefen, arbeitet sie 1985 drei Monate in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Dabei reift der Entschluss sich den inneren Vorgängen im menschlichen Körper und einer klinischen Darstellungsweise desselben zuzuwenden. Es entstehen Werke wie der "Glass Stomach". 1985 hat sie auf dem New York Experimental Glass Workshop auch den Umgang mit diesem Material kennen und schätzen gelernt.
"Untiteld (Train)" (1993) |
1990 hat sie ihre erste monografische Ausstellung in Europa im "Centre d’art contemporain" in Genf. Anschliessend wird die Schau im "Institute of Contemporary Art" in Amsterdam gezeigt. Kiki Smith schafft jetzt ihre ersten ganzfigürlichen Skulpturen des menschlichen Körpers. Sie gestaltet Figuren in einer zarten, wunderschön gearbeiteten Materialität bei gleichzeitig schockierenden urmenschlichen Handlungen. "Tale" von 1992 präsentiert eine lebensgroße Figur eines weiblichen Aktes, die aus hellem Bienenwachs geformt ist. Auf Händen und Knien kriechend scheidet die Figur einen langen Schwanz auf den Boden aus, der an Kot oder Eingeweide erinnert. Entwürdigt und doch irgendwie selbstbewusst ist diese anonyme Figur. Die Wachsfigur in "Untitled III (Upside Down Body with Beads)" von 1993 beugt sich vor, verbirgt ihr Gesicht, zeigt aber trotzig ihr Gesäß und eine Menge Glasperlen, die sich um ihre Füße angesammelt haben.
Kiki Smith weist mit teilweise unangenehmen und für manche Augen abstoßenden Arbeiten darauf hin, dass Frauen ( schon viel zu lange ) ignoriert, übersehen und belächelt werden. Free bleeding ist eine künstlerische Provokation, aber immer eine Realität im Leben jeder erwachsenen Frau. Kiki Smith überschreitet diese Grenze zwischen Reinheit und Unreinheit, wobei der Körper als ein Symbol für die Gesellschaft gelesen werden kann, die diese Grenzen erst schafft. Sie greift 1993 die Tatsache mit einer Wachsplastik namens "Untitled (Train)" auf und trifft mit dieser Arbeit bei mir einen Nerv, fühle ich mich doch in meinem Frausein mit all seinen Aspekten gesehen ( und verstanden ). Sich mit Blut und Menstruation auseinanderzusetzen, bekommt im Kontext mit dem Auftauchen der Immunschwäche AIDS dann noch eine ganz andere, weitere Dimension. Kikis Schwester Bebe ist übrigens 1988 an dieser Krankheit gestorben.
Ironischerweise gilt Kiki als eine der einflussreichsten "feministischen Künstlerinnen" der 1990er Jahre, da ihre zutiefst persönliche Arbeit den weiblichen Körper in der Kunst aus männlichen Perspektiven zurückerobert und ihn stattdessen in der gemeinsamen weiblichen Lebenserfahrung verankert hat. Männliche Künstler sind meist von der Schönheit des weiblichen Körpers besessen, haben eine erotische Ästhetik. Kiki hingegen zeigt weibliche Körper mit Ehrlichkeit und Verletzlichkeit. Als Feministin sieht sie sich selbst nicht.
1993 |
Darüberhinaus beginnt sie sich mit dem Thema weiblicher Archetypen zu beschäftigen. In ihrem Werk werden jetzt die Frauen, die unsere kulturelle Mythologie bevölkern, von der Jungfrau Maria hin bis zum Rotkäppchen, eher zu Bewohnerinnen physischer Körper als zu abstrakten Trägerinnen sozialer Doktrinen.
"Ich sage immer, ich bin katholisch – aber ein kultureller Katholik. Ich würde nicht sagen, dass ich ein spiritueller Mensch bin, obwohl ich jeden Tag bete."
Ihre "Lilith" von 1994 stellt eine Figur aus der hebräischen Legende dar, Adams erste Frau, die ihn ablehnt und aus dem Garten Eden flieht. Lilith gilt als Symbol weiblicher Stärke, und Kiki lässt ihre Lilith in Bronze gießen, abgenommen von einem lebenden Modell, das auf dem Boden gehockt hat und scharf über die Schulter geblickt hat. Die Bronzefigur hängt sie dann auf allen Vieren kopfüber an der Wand, wo sie sich wie ein übernatürliches Wesen an eine vertikale Ebene klammert und den Betrachter durch verstörend lebensechte Glasaugen anstarrt.
Für die berühmte, surreal in die zweite Dimension überführte Photogravüre "My Blue Lake", eine 360-Grad-Ansicht ihres eigenen Kopfes und Oberkörpers, reist sie 1995 zum British Museum nach London, um sich selbst zwei Tage lang mit einer speziellen Rundumkamera fotografieren zu lassen.
1996 erweitert die Künstlerin ihre Ikonografie um Natur- und Tiermotive, insbesondere nachdem sie in der Druckgrafik-Abteilung des "Massachusetts College of Art" in Boston als Artist in Residence die dortige Sammlung ausgestopfter Tiere studieren kann. Das "Montreal Museum of Fine Arts" widmet der nunmehr 43jährigen ihr ihre erste Museumsretrospektive. Die Künstlerin verlässt die Lower East Side von Manhattan und lebt in einem Haus im East Village.
Sie bringt jetzt eine wachsende Zahl von Werken hervor, die sich mit der Natur, einschließlich Tieren und Himmelskörpern, befasst. Nach ihrer Konzentration auf die Darstellung des menschlichen Körpers beginnt sie sich zu fragen, ob es in der figurativen Kunst nur um Menschen gehen darf. Ihre daraus resultierenden Kreationen vermitteln ihren festen Glauben an die enge Verbindung zwischen Mensch und Umwelt und sie greift jetzt auf Tiere zurück, um uns neue Geschichten über uns selbst zu erzählen. "Flock" von 1998 ist eine Installation, bestehend aus Hunderten bronzenen Vogelkadavern. Inspiriert hat sie zu gleichen Teilen die Bibel, Naturkundemuseen und zeitgenössische Umweltkatastrophen. Es ist eine Art Meditation über die Folgen des Ungleichgewichts zwischen Mensch und Natur.
1998 findet auch erstmals eine ihrer Skulpturen - "Standing", eine weibliche Figur steht auf dem Stumpf eines Eukalyptusbaumes - einen Platz im öffentlichen Raum, nämlich in der University of California, San Diego. Im Jahr darauf darf die Künstlerin zum zweiten Male die Vereinigten Staaten auf der Biennale von Venedig vertreten. 2000 wird sie mit der "Skowhegan Medal for Sculpture" geehrt.
2003 gibt es für Kiki Smith eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, und 2005 ist sie zum dritten Mal auf der Biennale von Venedig zu sehen.
"Ich bin vom Mikroskopischen zu Organen, zu Systemen, zu Haut, zu Körpern, zu religiösen Körpern und zu Kosmologien übergegangen ... Aber das ist nur die Retrospektive. Im Moment interessieren dich eher bestimmte Materialien, und du gehst in diese Richtung. Man kann jeden Aspekt von allem betrachten – es ist wie ein Hologramm, bei dem ein Detail alle Systeminformationen enthält – welches Detail sie betrachten möchten, ist willkürlich. Der Körper schien einfach ein nützliches Ding zu sein, um sich im Kreis zu drehen. Das ist der spaßige Teil des Kunstmachens – was man macht, ist Nebensache. Was man macht, mag einem emotionalen oder persönlichen Antrieb entspringen, aber wie man es macht, ist das wahre Vergnügen." ( Quelle hier )
Während viele ihrer Stücke phantasievoll sind, ist keines abstrakt: Kiki hält dieses Gebiet für unantastbar, da es das Reich ihres Vaters gewesen ist.
2011 |
Details aus einem Entwurf auf Nepalpapier und einem Wandteppich |
"In ihren Welten begegnen sich ja Tier, Mensch und Natur auf Augenhöhe. Das heißt, da wird ein ganz intensiver Dialog einer kosmischen Verwobenheit gezeigt. Und das ist eigentlich etwas, was ich finde, was sehr gut in unsere heutige Zeit passt und was eigentlich aktueller kaum sein könnte und zugleich immer wieder diese überzeitlichen, großen kulturellen Themen anspricht." ( Quelle hier )
Die Natur zu erhalten, die Balance wiederzufinden, zählt nunmehr zu den wichtigsten Botschaften der vielseitigen Künstlerin.
"Marys Mantle" Detailansicht CC BY-SA 4.0 |
"Alles, was du am Ende bist, ist das, was du machst. Das ist es, was dich beschäftigt. Es dauert lange und es verändert sich, aber man folgt dem, was interessant ist, und findet dann irgendwie heraus, was funktioniert."
Das ist ein schönes Statement zum Schluss dieses Posts, der noch viel länger hätte sein müssen, um auf alles Bezug zu nehmen, was diese Künstlerin geschaffen hat. Wie vieles von ihr, kann ich das gut verstehen und nachvollziehen.
Milá Astrid, tehle příspěvek jsem přečetla jedním dechem, moc zajímavý. Srdečně zdravím! Katka
AntwortenLöschenWas für eine großartige Künstlerin! Ich wäre gern mit Dir zu der Ausstellung gegangen. 2008 habe ich eine hier in Nürnberg in der Kunsthalle gesehen. Verstörend und so beeindruckend fand ich sie damals. Ihre Auffassung von Katholizismus ist faszinierend und du hast das sehr deutlich herausgearbeitet.
AntwortenLöschenKeine Feministin, aber feminin durch und durch.
Vor zwei Jahren in München war ich in einer kleinen Galerie, dort hat eine junge Künstlerin sehr zugewandte und gleichzeitig altertümlich- labortechnisch wirkende Werke zu menschlichen Flüssigkeiten ausgestellt. Von ihrer Oma inspiriert, die diese Ur-Menschlichkeit für sie repräsentierte. Das war sehr anrührend.
Kiki Smith ist ja nun selbst im Oma-Alter. Noch etwas jünger als wir.
Dass sie nun auch in textilen Arbeiten ihre Kunst verwebt, finde ich mythologisch so passend.
Die Freisinger Kapelle sollten wir uns ansehen!
Herzlichst,
Sieglinde
Mit große Interesse habe ich gelesen und neue Welten entdeckt! Was für ein intensives kreatives Leben. Wie gern würde ich mir die Ausstellung ansehen, bis Oktober wäre noch etwas Zeit.
AntwortenLöschenDanke fürs Weiten des Blickfeldes!
Viele Grüße, Karen