Donnerstag, 20. Juni 2024

Great Women #381: Kiki Smith

Die Frau, die ich euch heute nahebringen möchte, bevölkert meinen persönlichen Künstlerinnenkosmos schon länger und ich habe mich riesig gefreut, ihr bzw. ihren Werken in dem mir aus meiner Familiengeschichte vertrauten Bahnhof Rolandseck wieder begegnen zu können. Im Mai habe ich ihre aktuelle Ausstellung dort besucht. Die Rede ist von Kiki Smith. 

"I always think the whole universe 
is in some kind of love agreement."

"Durch meine Kunst versuche ich 
eine Verbindung herzustellen 
zwischen meinem Innenleben der Gedanken und Gefühle 
und der Welt um mich herum."

Das Ehepaar Smith
(1943)
Am 18. Januar 1954 kommt Chiara Lanier Smith im fränkischen Nürnberg im US- Militärkrankenhaus zur Welt. Warum gerade Nürnberg? 

Ihre Mutter, Jane Lawrence Brotherton,  bei ihrer Geburt schon knapp 40 Jahre alt, ist Opernsängerin und zu diesem Zeitpunkt in Deutschland engagiert. Kikis Vater, der Architekt, Künstler und spätere Pionier des Minimalismus Tony Smith, begleitet sie und bereist von 1953 bis 1955 Europa, darunter Italien, Frankreich & Spanien, entwickelt Architekturprojekte und malt viel. Das Paar ist seit 1943 verheiratet.

Im Frühjahr 1955 kehrt die Familie zurück in das  idyllisch gelegene, weitläufige viktorianische Haus der Großmutter in der Stanley Road von South Orange, New Jersey, dem Geburtsort von Tony Smith, der 1912 dort in eine wohlhabende irisch-katholische Familie hineingeboren worden ist. Sein Vater besitzt die AP Smith Manufacturing Company, die im 19. Jahrhundert vom Großvater gegründet worden ist und die Feuerhydranten herstellt.

Dort in South Orange kommen dann am 24. Juli 1955 die Zwillingsschwestern Seton und Beatrice, genannt Bebe, zur Welt. Zunächst arbeitet der Vater noch als Architekt, beginnt aber auch mit seiner Lehrtätigkeit, zu deren Gunsten er die architektonischen Arbeiten schließlich aufgeben wird.

Die Eltern Smith sind nicht gerade bildungsorientiert. Kiki tut sich mit der Schule schwer, mit dem Lesen, dem Verstehen. Sie ist dort sehr ängstlich gewesen, so wird sie es selbst darstellen. Aber was sie gelernt habe, das ist das Sehen, was für sie ein großes Vergnügen ist. Das Mädchen wächst mit ihren Schwestern zu Hause mit vielfältigsten Inspirationen & Einflüssen auf: 

Da ist einmal das karge Elternhaus ohne Möbel - die kostbaren Antiquitäten, ererbt von den Großeltern, haben die Eltern verkauft, um über die Runden zu kommen. Bücher & Kleidung werden in Kisten vom Supermarkt aufbewahrt. Die Kargheit wird in Kiki eine große Sehnsucht nach dekorativen, schönen Dingen wecken.

Die Eltern lesen ihnen Märchen von Charles Perrault oder den Brüdern Grimm vor, und die katholische Konfession ihres Vaters - die Mutter ist ebenfalls konvertiert - bringt sie in Kontakt mit der Fetischisierung von Leidenserfahrung in dieser Religion. Die große Empathie für das Martyrium, aber auch die Künstlichkeit in der Darstellung bzw. dem Ritual, die das Leid entrückt und scheinbar objektiv werden lässt, fasziniert Kiki von Jugend an. Den Körper betrachtet sie als das zentrale Thema des Katholizismus und die weiblichen Protagonistinnen, die in der Religion eine Rolle spielen, wie die Marien oder Genoveva, sprechen sie sehr an.
"Der Katholizismus gibt einer spirituellen Welt eine sichtbare, physische Form. Dieser Fetischismus der Objekte fasziniert mich. Ich interessiere mich für die Objekte und die Architektur des Katholizismus, genau wie für die anderer Glaubensrichtungen", sagt sie 2010 in diesem Interview.
Zudem ist der Vater ihre ganze Kindheit über krank - Tony Smith ist mit vier Jahren an Tuberkulose erkrankt und hat während der Grundschulzeit isoliert von der Familie in einem Extrahaus, in einen Raum eingebaut, gelebt. Er beschäftigt sich sehr mit dem Tod und kündigt immer wieder seinen eigenen an. ( 1962 schafft er einen stählernen, schwarzen Kubus mit dem Titel "Die". Tony Smith gilt seither als Pionier der "Site-Specific-Sculpture". ) 

Kiki wird einmal sagen, sie seien die "Addams Family" von South Orange gewesen. Auch interessiert sich der Vater für Mumien und gibt dieses Neigung wie auch die zu Totenkulten generell an Kiki weiter. Als Kind habe sie tot aufgefundene Tiere wie Mumien eingewickelt und mit einem Talisman in den Falten mit großem Pomp begraben.
"...aber ich bin auch ein völlig nervöser Mensch und versuche zu externalisieren, wovor ich Angst habe", wird Kiki später erzählen und ihre künstlerischen Interessen & Vorgehensweisen begründen.
Natürlich macht der Vater sie auch mit den Künstlern bekannt, mit denen er verkehrt bzw. befreundet ist,  darunter Barnett Newman, Jackson Pollock ( siehe auch dieser Post ) sowie Richard Tuttle, und besucht mit den Mädchen regelmässig Museen. Die helfen ihm wiederum nach der Schule dabei, im Wohnzimmer ihres Hauses Pappmodelle für seine Skulpturen zu erstellen. Bereits als Kind wird Kiki von ihrem Vater im Zeichnen unterrichtet und sitzt für ihn Modell. Seine rigoros geometrische Kunst ist eine Sprache, die die Smith-Töchter bald fließend beherrschen. Erst im College wird Kiki erfahren, dass es auch figurative zeitgenössische Kunst gibt.

Kiki auf dem linken Foto rechts, auf dem rechten ganz außen, 1960er Jahre



Der  frühe Kontakt zur Kunst, ihre Beziehung zu ihrer Familie sowie ihre spirituelle und mythologische Interpretation des Katholizismus werden später alle einen Einfluss auf Kikis eigenes Werk haben. Dabei ist es nicht so, dass sie schon in jungen Jahren Künstlerin werden will, wie zum Beispiel ihre Schwester Seton.
"Als Kind habe ich gebetet, dass meine Berufung offenbart werde – aber nicht mit Erwartung und ohne ein Ziel. Ich bin Künstlerin geworden, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, und weil ich dachte, dass es wirklich Spaß macht, Dinge zu machen."
Als Teenager begeistert sich Kiki eher für Volkskunst und Kunstgewerbe und fertigt für die Witwe des 1970 verstorbenen Barnett Newman eine Decke an. Ihr Interesse gilt vor allem für die ihrer Meinung unterbewerteten weiblichen Fertigkeiten wie das gemeinsame Quilten und den oftmals anonym bleibenden Stickerinnen von kostbaren Kleidungsstücken oder Tapisserien. Sie mag das "Bread and Puppet Theatre" und Meredith Monk und stellt selbst Puppen her.

Als sie 1973 ihr Elternhaus verlässt, nach San Francisco zieht und bei ihrem Cousin, dem Musiker Prairie Prince, lebt, ist sie zunächst also sehr kunsthandwerklich orientiert, steht der Hippie-Bewegung nahe und bewundert Frida Kahlo. Zunächst liebäugelt sie mit einer Karriere als Töpferin, dann als Stoffdesignerin. Zwei Jahre versucht sie es mit dem Zeichnen von Stillleben mit Zigarettenschachteln & Pillendosen - Kuben hat sie schließlich bei ihrem Vater zeichnen gelernt.

1974 kehrt sie an die Ostküste zurück und schreibt sich an der "Hartford Art School" in Connecticut ein. Nach anderthalb Jahren bricht sie ihr Studium ab, reist mit ihrer Schwester Bebe im Auto durch die Vereinigten Staaten und besucht Filmregiekurse in San Francisco. Schliesslich lässt sie sich 1976 in New York nieder, wo sie sich der alternativen Kunst- und Kulturszene der Lower East Side anschliesst. In den folgenden Jahren jobbt sie in einer Kleiderfabrik, als Assistentin eines Elektrikers und als Barkellnerin.
In der Rückschau erzählt sie: So "... fühlte sich mein inneres Seelenleben an... nicht zerstückelt, sondern durcheinander, zerbrechlich. Ich lebte von Zigaretten und Whisky... Und dann, ein Jahr vor dem Tod meines Vaters, als ich sechsundzwanzig war, bekam ich "Gray's Anatomy" und begann daraus zu malen – Fettzellen, Nervenzellen, Blut." ( Quelle hier )

Sie tritt dem Künstlerkollektiv "Collaborative Project, Inc." (CoLab) bei, zu dessen Mitgliedern Jenny Holzer (siehe dieser Post), Jane Dickson, Rebecca Howland, Alan W. Moore  und Tom Otterness  gehören. Die Gruppe veranstaltet 1980 die Times Square Show

Kikis Kunst sind zu Anfang meist Siebdrucke auf Kleidungsstücken – sie ist stolz, dass ihre Werke waschbar sind - und ihr Thema ist ab diesem Zeitpunkt hauptsächlich die Anatomie des menschlichen Körpers. 

Von links nach rechts: "From My Heart"(1980), "Hand In Jar" (1983), "Untiteld (Heart)"  (1986)



Ein frühes Beispiel aus dieser Zeit ist "Hand in a Jar" aus dem Jahr 1980. Es handelt sich um eine Latexhand, die in ein Gefäß getaucht ist, auf dem Algen wachsen. Während der Entwicklung dieser Skulptur hat Kiki nicht vorgehabt, die Algen einzubeziehen. Aber als sie zufällig auftauchen, ist sie begeistert. Für sie eine Metapher für Parasiten-Wirt-Beziehungen und alle symbiotischen Beziehungen, die im Leben existieren, einschließlich der Tatsache, dass neues Leben oft aus dem Tod selbst entsteht. 

Ihre frühen Kleinskulpturen reflektieren dann bald auch körperliche Tabus wie Verfall, Intimität, Sterblichkeit und körperlichen Schmerz. Ihre Begründung dafür, dass sie den menschlichen Körper als Thema gewählt habe, sei, dass "er die einzige Form ist, die wir alle teilen" bzw. "Es ist etwas, womit jeder seine eigene authentische Erfahrung macht". 

In ihren Skulpturen der menschlichen Form bestehen aus diversen Materialien wie Bronze, Glas, Wachs, Gips, Porzellan, Silber, Aluminium, Kupfer, Rosshaar, Eisen, Holz, und Pappmaché. Sie verwendet für grafische Arbeiten Fotografien, Käsleinen, Polymer, nepalesisches Papier, Methylzellulose, Graphit, Silbernitrat, fertigt Wandteppiche, Radierungen, Aquatinta (eine Form des Tiefdrucks), Cyanotypien -  ihr Repertoire zeugt von einer beeindruckenden Universalität. Und während ihre Kolleg*innen jener Zeit oft eine Kunst schaffen, die sexualisiert ist, interessiert sich Kiki nie für Erotik. Für Kiki ist gerade der weibliche Körper eine heilige Sache.

Links: "Urogenital System (Male & Female; 1986); rechts "Ohne Titel" (1993)


1982 hat sie ihre erste Einzelausstellung "Life Wants to Live" im Non-Profit-Kunstcenter "The Kitchen" in New York. Um ihre anatomischen Kenntnisse zu vertiefen, arbeitet sie 1985 drei Monate in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Dabei reift der Entschluss sich den inneren Vorgängen im menschlichen Körper und einer klinischen Darstellungsweise desselben zuzuwenden. Es entstehen Werke wie der "Glass Stomach". 1985 hat sie auf dem New York Experimental Glass Workshop auch den Umgang mit diesem Material kennen und schätzen gelernt.

"Untiteld (Train)"
(1993)

1990 hat sie ihre erste monografische Ausstellung in Europa im "Centre d’art contemporain" in Genf. Anschliessend wird die Schau im "Institute of Contemporary Art" in Amsterdam gezeigt. Kiki Smith schafft jetzt ihre ersten ganzfigürlichen Skulpturen des menschlichen Körpers. Sie gestaltet Figuren in einer zarten, wunderschön gearbeiteten Materialität bei gleichzeitig schockierenden urmenschlichen Handlungen. "Tale" von 1992 präsentiert eine lebensgroße Figur eines weiblichen Aktes, die aus hellem Bienenwachs geformt ist. Auf Händen und Knien kriechend scheidet die Figur einen langen Schwanz auf den Boden aus, der an Kot oder Eingeweide erinnert. Entwürdigt und doch irgendwie selbstbewusst ist diese anonyme Figur. Die Wachsfigur in "Untitled III (Upside Down Body with Beads)" von 1993 beugt sich vor, verbirgt ihr Gesicht, zeigt aber trotzig ihr Gesäß und eine Menge Glasperlen, die sich um ihre Füße angesammelt haben.  

Kiki Smith weist mit teilweise unangenehmen und für manche Augen abstoßenden Arbeiten darauf hin, dass Frauen ( schon viel zu lange ) ignoriert, übersehen und belächelt werden. Free bleeding ist eine künstlerische Provokation, aber immer eine Realität im Leben jeder erwachsenen Frau. Kiki Smith überschreitet diese Grenze  zwischen Reinheit und Unreinheit, wobei der Körper als ein Symbol für die Gesellschaft gelesen werden kann, die diese Grenzen erst schafft. Sie greift 1993 die Tatsache mit einer Wachsplastik namens "Untitled (Train)" auf und trifft mit dieser Arbeit bei mir einen Nerv, fühle ich mich doch in meinem Frausein mit all seinen Aspekten gesehen ( und verstanden ). Sich mit Blut und Menstruation auseinanderzusetzen, bekommt im Kontext mit dem Auftauchen der Immunschwäche AIDS dann noch eine ganz andere, weitere Dimension. Kikis Schwester Bebe ist übrigens 1988 an dieser Krankheit  gestorben.

Ironischerweise gilt Kiki als eine der einflussreichsten "feministischen Künstlerinnen" der 1990er Jahre, da ihre zutiefst persönliche Arbeit den weiblichen Körper in der Kunst aus männlichen Perspektiven zurückerobert und ihn stattdessen in der gemeinsamen weiblichen Lebenserfahrung verankert hat. Männliche Künstler sind meist von der Schönheit des weiblichen Körpers besessen, haben eine erotische Ästhetik. Kiki hingegen zeigt weibliche Körper mit Ehrlichkeit und Verletzlichkeit. Als Feministin sieht sie sich selbst nicht.

1993

In den 1990er Jahren erlangt die Künstlerin auch einen beachtlichen Ruf als virtuose Grafikerin & Erforscherin weiterer skulpturalen Möglichkeiten von Papier. Sie wird auch als Neuerfinderin der figurativen Bronzeskulptur angesehen. 

Darüberhinaus beginnt sie sich mit dem Thema weiblicher Archetypen zu beschäftigen. In ihrem Werk werden jetzt die Frauen, die unsere kulturelle Mythologie bevölkern, von der Jungfrau Maria hin bis zum Rotkäppchen, eher zu Bewohnerinnen physischer Körper als zu abstrakten Trägerinnen sozialer Doktrinen. 

"Ich sage immer, ich bin katholisch – aber ein kultureller Katholik. Ich würde nicht sagen, dass ich ein spiritueller Mensch bin, obwohl ich jeden Tag bete."

Mit ihrer Skulptur "Virgin Mary" von 1992 greift sie zurück auf alte religiöse Repräsentationen, die sie jedoch explizit transformiert und unterläuft. Bei ihr ist Maria nicht die idealisierte Heilige. Stattdessen blickt der Betrachter auf eine weibliche Figur, deren Inneres nach Außen gekehrt wird: ihr Blut und ihre Körperfunktionen, Geschlechtsteile, Muskeln, Sehnen und Knochen. In ihrer Maria manifestiert sich die Verwandtschaft, die die Heilige mit allen Frauen teilt. Und: "Maria steht für mich für Mitleid und Empathie... Eine politische [Botschaft] und vor allem eine soziale. Marias Mantel ist blau wie der Himmel, der die Erde umarmt." ( Quelle hier )

Ihre "Lilith" von 1994 stellt eine Figur aus der hebräischen Legende dar, Adams erste Frau, die ihn ablehnt und aus dem Garten Eden flieht. Lilith gilt als Symbol weiblicher Stärke, und Kiki lässt ihre Lilith in Bronze gießen, abgenommen von einem lebenden Modell, das auf dem Boden gehockt hat und scharf über die Schulter geblickt hat. Die Bronzefigur hängt sie dann auf allen Vieren kopfüber an der Wand, wo sie sich wie ein übernatürliches Wesen an eine vertikale Ebene klammert und den Betrachter durch verstörend lebensechte Glasaugen anstarrt.

Für die berühmte, surreal in die zweite Dimension überführte Photogravüre "My Blue Lake", eine 360-Grad-Ansicht ihres eigenen Kopfes und Oberkörpers, reist sie 1995 zum British Museum nach London, um sich selbst zwei Tage lang mit einer speziellen Rundumkamera fotografieren zu lassen.

1996 erweitert die Künstlerin ihre Ikonografie um Natur- und Tiermotive, insbesondere nachdem sie in der Druckgrafik-Abteilung des "Massachusetts College of Art" in Boston als Artist in Residence die dortige Sammlung ausgestopfter Tiere studieren kann. Das "Montreal Museum of Fine Arts" widmet der nunmehr 43jährigen ihr ihre erste Museumsretrospektive. Die Künstlerin verlässt die Lower East Side von Manhattan und lebt in einem Haus im East Village.

Sie bringt jetzt eine wachsende Zahl von Werken hervor, die sich mit der Natur, einschließlich Tieren und Himmelskörpern, befasst. Nach ihrer Konzentration auf die Darstellung des menschlichen Körpers beginnt sie sich zu fragen, ob es in der figurativen Kunst nur um Menschen gehen darf. Ihre daraus resultierenden Kreationen vermitteln ihren festen Glauben an die enge Verbindung zwischen Mensch und Umwelt und sie greift jetzt auf Tiere zurück, um uns neue Geschichten über uns selbst zu erzählen. "Flock" von 1998 ist eine Installation, bestehend aus Hunderten bronzenen Vogelkadavern. Inspiriert hat sie zu gleichen Teilen die Bibel, Naturkundemuseen und zeitgenössische Umweltkatastrophen. Es ist eine Art  Meditation über die Folgen des Ungleichgewichts zwischen Mensch und Natur.

1998 findet auch erstmals eine ihrer Skulpturen - "Standing",  eine weibliche Figur steht auf dem Stumpf eines Eukalyptusbaumes  - einen Platz im öffentlichen Raum, nämlich in der University of California, San Diego. Im Jahr darauf darf die Künstlerin zum zweiten Male die Vereinigten Staaten auf der Biennale von Venedig vertreten. 2000 wird sie mit der "Skowhegan Medal for Sculpture" geehrt.

2001 erregt sie Aufsehen mit einer Bronzeskulptur, die vom Ende des Märchens vom Rotkäppchen inspiriert scheint: "Rapture".  Die Wölfin, die eine Frau gebiert, spiegelt aber auch die Idee der Wiedergeburt wieder. Und diese Wiedergeburt der Frau in "Rapture" ist für Kiki auch eine psychische und geistige, die zu Selbsterkenntnis und Stärke führt. 

2002 folgt die Skulptur "Born", zu der sie die Figur der heiligen Genoveva, Schutzpatronin von Paris, angeregt hat - deren Geschichte mit der Hirschkuh hat mich als Kindergartenkind auch sehr beschäftigt. Sie konfrontiert in ihrer traditionellen Bronzeplastik den Betrachter mit historisch aufgeladenen Metaphern mit dem Motiv der Transformation, diesmal vom Wachsen im Mutterleib zur selbstständigen Existenz in der Welt.

2003 gibt es für Kiki Smith eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, und 2005 ist sie zum dritten Mal auf der Biennale von Venedig zu sehen.

"Ich bin vom Mikroskopischen zu Organen, zu Systemen, zu Haut, zu Körpern, zu religiösen Körpern und zu Kosmologien übergegangen ... Aber das ist nur die Retrospektive. Im Moment interessieren dich eher bestimmte Materialien, und du gehst in diese Richtung. Man kann jeden Aspekt von allem betrachten – es ist wie ein Hologramm, bei dem ein Detail alle Systeminformationen enthält – welches Detail sie betrachten möchten, ist willkürlich. Der Körper schien einfach ein nützliches Ding zu sein, um sich im Kreis zu drehen. Das ist der spaßige Teil des Kunstmachens – was man macht, ist Nebensache. Was man macht, mag einem emotionalen oder persönlichen Antrieb entspringen, aber wie man es macht, ist das wahre Vergnügen." ( Quelle hier )

Während viele ihrer Stücke phantasievoll sind, ist keines abstrakt: Kiki hält dieses Gebiet für unantastbar, da es das Reich ihres Vaters gewesen ist. 

Es folgen in den nächsten Jahren viele Auszeichnungen wie der "Athena Award" der "Rhode Island School of Design", dieses Mal für ihre Verdienste um die Druckgrafik, und Kiki wird in die "American Academy of Arts and Letters" in New York aufgenommen. 

2011
2006 folgt eine Retrospektive im Walker Art Center, Minneapolis mit 125 Objekten aus ihrer nunmehr 25jährigen Karriere. Im selben Jahr wird sie vom "Time Magazine" unter die hundert Menschen gewählt, die unsere Welt prägen. 2007 wird sie Ehrenmitglied der "Royal Academy of Arts" in London und zwei Jahre später abermals für die Biennale von Venedig ausgewählt ( ein 5. Mal dann 2017 ). 2012 wird ihr die "US State Department Medal of Arts" verliehen.

Kiki sucht vermehrt in taktilen Materialien nach einer Äquivalenz mit den Eigenschaften des menschlichen Körpers. Schon in jungen Jahren ist bei ihr ja die Affinität zum Textil vorhanden gewesen. 2011 wendet sie sich nach einem Studium des berühmten riesigen und bunten Wandteppichzyklus der Apokalypse aus dem Mittelalter im französischen Schloss Angers nun der Tapisserie zu. 

Details aus einem Entwurf auf Nepalpapier und einem Wandteppich

Sie mixt in ihnen mittelalterliche Bildsprache, Art Déco der Goldenen Zwanziger Jahre und das Schrille der Hippie-Zeit und eine Phantasiewelt, in der man sich leicht verlieren kann. Sie kreiiert Szenen aus Natur, Kosmologie, der Werbung der zwanziger Jahre und der Bilderwelt der Hippies, verweist gleichzeitig aber auch auf die Allegorien und Erzählungen traditioneller Wandteppiche. 

Dem alten kulturellen Erbe der Jacquardweberei haucht die Künstlerin mit ihren zeitgenössischen Interpretationen durch eine digitale Produktionsweise ein ganz neues Leben ein. Unglaublich detaillierte, vorher eher unvorstellbare Werke werden so möglich, und es entsteht "ein motivstarker Reigen von Menschen, Tieren und einem kosmischen Überbau, in dem sich alles Lebendige abspielt", so Henning Hübert zur aktuellen Ausstellung im Arp Museum in Rolandseck. Museumsdirektorin Julia Wallner:
"In ihren Welten begegnen sich ja Tier, Mensch und Natur auf Augenhöhe. Das heißt, da wird ein ganz intensiver Dialog einer kosmischen Verwobenheit gezeigt. Und das ist eigentlich etwas, was ich finde, was sehr gut in unsere heutige Zeit passt und was eigentlich aktueller kaum sein könnte und zugleich immer wieder diese überzeitlichen, großen kulturellen Themen anspricht." ( Quelle hier )

Die Natur zu erhalten, die Balance wiederzufinden, zählt nunmehr zu den wichtigsten Botschaften der vielseitigen Künstlerin.

"Marys Mantle" Detailansicht
CC BY-SA 4.0
Die Verbundenheit der Amerikanerin zu dem Landstrich, in dem sie geboren wurde, zeigt sich in den letzten Jahren in immer neuen Facetten: 

Seit längerer Zeit ist die Mayer'schen Hofkunstanstalt am Stiglmaierplatz in München fast ihr zweites Zuhause, ermöglicht die ihr doch ihre Glasarbeiten, zuletzt für die die Gestaltung eines Mosaiks für die Grand Central Station in New York. 

2019 hat sie bereits ihr gesamtes druckgraphisches Œuvre den Staatlichen Graphischen Sammlungen in München geschenkt. Zu ihrem ihren 70. Geburtstag im Januar hat ihr diese Einrichtung die Schau "From My Heart" in der Pinakothek der Moderne gewidmet.

2023 wird auch die von ihr gestaltete Kapelle "Mary's Mantleauf dem Freisinger Domberg eingeweiht.
"Alles, was du am Ende bist, ist das, was du machst. Das ist es, was dich beschäftigt. Es dauert lange und es verändert sich, aber man folgt dem, was interessant ist, und findet dann irgendwie heraus, was funktioniert."

Das ist ein schönes Statement zum Schluss dieses Posts, der noch viel länger hätte sein müssen, um auf alles Bezug zu nehmen, was diese Künstlerin geschaffen hat. Wie vieles von ihr, kann ich das gut verstehen und nachvollziehen.



3 Kommentare:

  1. Milá Astrid, tehle příspěvek jsem přečetla jedním dechem, moc zajímavý. Srdečně zdravím! Katka

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  2. Was für eine großartige Künstlerin! Ich wäre gern mit Dir zu der Ausstellung gegangen. 2008 habe ich eine hier in Nürnberg in der Kunsthalle gesehen. Verstörend und so beeindruckend fand ich sie damals. Ihre Auffassung von Katholizismus ist faszinierend und du hast das sehr deutlich herausgearbeitet.
    Keine Feministin, aber feminin durch und durch.
    Vor zwei Jahren in München war ich in einer kleinen Galerie, dort hat eine junge Künstlerin sehr zugewandte und gleichzeitig altertümlich- labortechnisch wirkende Werke zu menschlichen Flüssigkeiten ausgestellt. Von ihrer Oma inspiriert, die diese Ur-Menschlichkeit für sie repräsentierte. Das war sehr anrührend.
    Kiki Smith ist ja nun selbst im Oma-Alter. Noch etwas jünger als wir.
    Dass sie nun auch in textilen Arbeiten ihre Kunst verwebt, finde ich mythologisch so passend.
    Die Freisinger Kapelle sollten wir uns ansehen!
    Herzlichst,
    Sieglinde

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  3. Mit große Interesse habe ich gelesen und neue Welten entdeckt! Was für ein intensives kreatives Leben. Wie gern würde ich mir die Ausstellung ansehen, bis Oktober wäre noch etwas Zeit.
    Danke fürs Weiten des Blickfeldes!
    Viele Grüße, Karen

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Es wäre schön, wenn ein Name am Ende des Kommentars stehen würde.

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