Donnerstag, 1. Februar 2024

Great Women #365: Alva Myrdal

In den 1960er bis 70er Jahren ist frau nicht drumherumgekommen, ihren Namen in Funk & Fernsehen immer wieder zu hören, vor allem, wenn es um Abrüstungsfragen ging. Solche Probleme haben mich damals nämlich bewegt als Tochter eines Militärs, immer wieder Kriegsgefahr vor Augen. Vergessen habe ich sie nie: Alva Myrdal.


"Ich habe mir nie erlaubt, an Aufgabe zu denken. 
Meine Botschaft heute ist: 
Eines menschlichen Wesens ist es nicht würdig, 
aufzugeben."

Alva Myrdal kommt am 31. Januar 1902 in Uppsala in der S:t Persgatan 28 als Alva Reimer zur Welt. Sie ist das erste von fünf Geschwistern: Rut (*1904), Folke (*1906), May (*1909) und Stig (*1912) werden auf sie folgen. 

Ihre Mutter, Lovisa Wilhelmina "Lowa" Larsson, 25 Jahre alt, ist eine gelernte Schneiderin und vermittelt später der Tochter das sichere Stilgefühl & Interesse für Mode, Stoffe und Farben. Der Vater, Gustaf Albert Jansson, später Reimer, ein Jahr älter als seine Frau, ist in seinem Leben in verschiedenen Sparten tätig, von der Einstellung her Sozialdemokrat, Genossenschaftler, Atheist und in der schwedischen Abstinenzbewegung aktiv.

Lowa Larsson, die Mutter, ist auf einem Bauernhof außerhalb von Eskilstuna im Södermanland südlich von Stockholm aufgewachsen, gewöhnt sich aber schnell an das Flair und den Puls der Stadt, nachdem sie Albert Jansson aus Munktorp, Västmanland, auf der anderen Seite des Mälarsees, Sohn eines Schmiedes, kennengelernt und geheiratet hat, der zu Zeiten von Alvas Geburt Versicherungsvertreter ist und später Bauunternehmer und unter anderem in Stockholm und Uppsala gelebt hat. 

Beide stammen aus einfachen Verhältnissen. Lowa ist mit neun Jahren Halbwaise geworden, als ihre Mutter bei der Geburt eines weiteren Kindes stirbt. Diese Angst, dass ihr das bei den Geburten ihrer eigenen Kinder passieren könne, plagt sie selbst bis zuletzt. Bei ihrer Hochzeit sei sie schwarz gekleidet gewesen, weil ihre Schwester gerade an Tuberkulose gestorben sei, heißt es. Weitere ihrer vielen Geschwister erliegen ebenfalls dieser Krankheit. Ein Leben lang fürchtet sich Lowa vor Krankheitskeimen.

Albert, der sich später Reimer nennen wird, hat einen Vater mit Alkoholproblemen gehabt. Ihm ist schon früh die Problematik klar geworden, nachdem er gesehen hat, wie der betrunken seine Mutter in einem Anfall von Eifersucht geschlagen hat. Als Folge verschreibt er sich  der Abstinenz. Die Großmutter Alvas hat daraufhin - für damalige Zeiten ungewöhnlich - ihren Mann angezeigt und für einen Monat ins Gefängnis gebracht. In Alvas Kindheit wird dieses Ereignis in der Familie aber nicht thematisiert.

Die kleine Alva mit ihren Eltern
( im Hintergrund Eskilstuna )
Source
Die Mutter, eine wohl gut gelaunte Frau mit Interesse an Theater, Kunst, Musik und schöner Kleidung, besonders Hüten, die sie in der Kirche weihen lässt, gibt an ihre Älteste die ausgeprägte und lustvolle Neigung zur Mode weiter, was diese später als ihre "Erbsünde" bezeichnen wird. Für die geistigen Interessen ihres Kindes hat sie wenig Sinn und in Bezug auf die Rolle der Frau ist sie sehr konservativ.

Ab 1909 besucht das Mädchen die Volksschule, hauptsächlich in Stockholm. Der häufige Wohnungswechsel ist darauf zurückzuführen, dass die vom Vater gebauten Häuser von der Familie "trocken gewohnt" werden.

Als Alva zwölf Jahre alt ist, fasst der Vater den Entschluss, wieder aufs Land zu ziehen. Er kauft das Anwesen in Slagsta, einem Stadtbezirk von Eskilstuna, welches seit Generationen in Besitz der mütterlichen Familie gewesen ist, seinem Schwiegervater ab. Er will dort seinen Traum verwirklichen, einen Beitrag zur Wirtschaft des Landes zu leisten, nicht zuletzt weil der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist. 

Als Bürgermeister leitet er die Lebensmittelbehörde der Gemeinde, die während des Krieges Getreide- und Kartoffelrationen an Bedürftige zu verteilen hat, begünstigt seine große Familie aber nicht, was seine Frau nicht unbedingt nachvollziehen kann & mag und hintergeht. Als ihr Mann das herausbekommt, schimpft er, von strengen moralischen Prinzipien bewegt: "Was ist das Wichtigste für die Kinder – dass sie eine Zeit lang nicht hungern müssen oder dass sie verstehen, wie Gerechtigkeit in einer Gesellschaft funktionieren muss?" Alva hat das wohl sehr beeindruckt. Sie entwickelt sich zur Idealistin und hält lebenslang an den väterlicherseits vermittelten Grundsätzen der Gerechtigkeit fest.

In ihren gesellschaftspolitischen Ansichten unterscheiden sich die Eltern sehr, und das junge Mädchen muss feststellen, dass sie sogar verschiedene Zeitungen abonniert haben. Zu Hause werden also kontroverse politische Debatten geführt.

Nach dem Abschluss der Volksschule 1916 besucht Alva ein Jahr lang eine Handelsschule. Doch sie will mehr und teilt nicht die Zukunftsvorstellungen ihrer Mutter für Mädchen an sich. Im Verlaufe der Jahre hat Alva sich durch die Bibliothek ihres Vaters gelesen, in der vor allem sozialrealistische Autoren wie Émile Zola & August Strindberg stehen, und - trotz des Verbots der Mutter - mit ihrer Freundin Marta Fredriksson regelmäßig die örtliche Bibliothek aufgesucht, um ihren intellektuellen Interessen nachzugehen. Um Geld für den Kauf von Büchern und für eine schulische Weiterbildung zu bekommen, näht Alva und fertigt Kunsthandwerk zum Verkauf an.

Doch zunächst muss sie nach der Handelsschule als 15jährige eine Tätigkeit beim Rechnungsprüfungsamt in Eskilstuna übernehmen, weil der Abschluss auf einem Gymnasiums für Mädchen eben nur mit erheblichen finanziellen Mitteln zu erreichen ist ( 900 Kronen pro Jahr sind zu zahlen, etwa 1100 Reichsmark ). Sie kombiniert ihre Bürotätigkeiten mit einem Fernstudium in Astronomie. Schließlich willigt ihr Vater in einen weiteren Schulbesuch ein und überzeugt das Gymnasium in Eskilstuna, eine kleine Gruppe von Mädchen als Privatschülerinnen, darunter seine Tochter, auf die Reifeprüfung vorzubereiten. Die legt sie 1922 an einem Jungengymnasium im Stockholmer Stadtteil Norrmalm mit der höchsten Auszeichnung ab.

Alvas lebenslange Verbundenheit mit der Frauenbewegung hat ihren Ursprung in der Erfahrung, als Mädchen benachteiligt worden zu sein. Als Frau wird man "notwendigerweise in eine Kampfstellung getrieben" sagt sie später in einem Interview.

1919 lernt sie den vier Jahre älteren Gunnar Myrdal kennen, der während einer Fahrradtour in Slagsta mit zwei Freunden in einer Scheune der Reimers übernachtet und am Morgen von Alva und ihren Schwestern Rut & May mit Kaffee bewirtet wird. Gunnar erobert Alva im Sturm, und sie folgt ihm ohne Erlaubnis auf der Tour in seine Heimatregion Dalarna. Das war schon etwas unüblich in jener Zeit. Die Reise markiert auch den Beginn sexueller Beziehungen zwischen den Beiden. Die Briefe, die sie einander schreiben, zeugen von den großen intellektuellen Ambitionen der jungen Leute. In ihnen greifen sie immer wieder aktuelle gesellschaftliche Debatten und Ergebnisse der Sozialforschung auf.

Gunnar Myrdal
, geboren am  6. Dezember 1898 als Karl Gunnar Petterson in Skattungbyn in der Provinz Dalarna, hat finnische Wurzeln und ist der Sohn eines Eisenbahnkonstrukteurs und mit christlich-konservativen Anschauungen aufgewachsen.  So ist er Mitglied der "kristna gymnasist-rörelse"(Christliche Gymnasiastenbewegung). 1914 nimmt er den Namen Myrdal an nach dem Namen des Hofes seiner Vorfahren. Nach dem Abitur beginnt er ein Jurastudium. Später wird er neben seiner Tätigkeit als Anwalt auf Anraten Alvas noch Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Finanzwirtschaft studieren und einen Doktorgrad erwerben. 1947 wird er Leiter der UNO-Wirtschaftskommission für Europa werden.

Es zeigt sich schnell, dass das Mädchen mit der Volksschulbildung dem Jurastudenten Fragen stellt, "die zeigten, daß sie weit belesener war, tiefer dachte als er." Sie selbst sieht allerdings in Gunnar ihren charismatischen Helden, ein Genie, auf das die Welt wartet. Ihre hochgesteckten Träume - "eine wunderbare Zweisamkeit mit einem geliebten Mann aufbauen, Kinder und Familie um sich haben und mit anderen zusammen etwas bewirken und verändern dürfen" - möchte sie mit ihm verwirklichen.

Nach einem zweijährigen Studium der Literaturgeschichte, nordischer Sprachen und Religionsgeschichte an der "Stockholms Universitet" mit dem Bachelor-Abschluss 1924 - im Jahr zuvor hat Gunnar sein Jurastudium abgeschlossen - heiratet Alva am 8. Oktober Gunnar. Eine aufregend - konfliktreiche Ehe liegt vor ihnen. 

Eigentlich will sie nun eine Dissertation über Sigmund Freuds Traumlehre verfassen. Doch dazu kommt sie nicht mehr, weil ihr Doktorvater durch einen Anti-Freudianer an der Universität ersetzt wird. Stattdessen verhilft sie ihrem Mann aus einer Depression, die ihn erfasst hat, nachdem er feststellen musste, dass er seine Ambitionen in seinem Juristen - Beruf nicht umsetzen kann. Später wird er Alva als seine "emotionale Apotheke" bezeichnen.

(1925)

Zusammen mit Gunnar verbringt Alva nun einen Großteil der nächsten sieben Jahre damit, in London, Leipzig, Stockholm, Genf zu studieren, ab 1929 in den Vereinigten Staaten, wo dieser ein Rockefeller-Stipendium erhalten hat. Alva wendet sich jetzt den Fächern Psychologie bzw. Sozial- & Kinderpsychologie zu. 

Die engagiert um weibliche Emanzipation streitende junge Ehefrau ist allerdings nicht immer frei von überkommenen Geschlechterklischees: Am Anfang ihrer Beziehung mit Gunnar ergeht sie sich in Träumereien, ihm entweder zwölf Kinder zu gebären oder sich selbstlos im Hintergrund für seine Karriere einzusetzen. Es ist für sie selbstverständlich, dass sie seine Hausarbeiten & später die große Dissertation tippt, ohne es je gelernt zu haben ( über 40 Jahre später werde ich das auch unhinterfragt tun ).

Der Wunsch nach Kindern erfüllt sich nach mehreren Fehlgeburten - die erste zwei Jahre vor der Heirat - dann erst im Juli 1927 mit der Geburt des Sohnes Jan in Stockholm. Zwölfe werden es nicht werden. Aber 1934 kommt die Tochter Sissela, 1937 die Tochter Kaj zur Welt, beide ebenfalls in Stockholm. Die beiden Mädchen verdankt sie der Tatsache, dass sie sich nach einer heftigen Eierstockentzündung geweigert hat, sich dieselben entfernen zu lassen.

Lange stellt Alva eigene Ambitionen und sogar ihre Sorge um die eigenen Kinder zurück. Als sich ihrem Mann etwa mit dem Rockefeller - Stipendium eine Perspektive in den USA eröffnet, gib sie seinem Drängen nach und geht mit ihm. 

Der zweijährige Jan bleibt ein Jahr lang bei den väterlichen Großeltern zurück, ein "Verrat", den er seiner Mutter nie verzeihen wird. Den Vater wird er immer als Konkurrenten sehen, der ihn außerdem schikaniert, weil er dick ist und ihm zu wenig intelligent erscheint. Alva wird diese Entscheidung später bereuen, so ihre Zweitgeborene, und ihr nachsichtiges Verhalten gegenüber den Ansprüchen & Eskapaden ihres Sohnes ist dadurch erklärbar. Lebenslang, so Kaj Fölster in ihrem Buch über ihre Mutter, werden Jan & Gunnar in ihrem Kopf um ihre Vormachtstellung bzw. Macht über Alva miteinander ringen, und sie wird bis zu ihrem bitteren Ende ihre Geisel bleiben.

Nach der Rückkehr nach Europa wird Gunnar zunächst eine Professur in Genf für ein Jahr angeboten. Alva will die Zeit dort nutzen, um ihre Studien in Kinderpsychologie & Pädagogik bei der Koryphäe Jean Piaget fortzusetzen. Eine Fehlgeburt zieht aber eine Reihe von schweren Erkrankungen nach sich und macht ihre Pläne zunichte. 1933 wird ihr Mann dann auf den renommierten Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Stockholm berufen.

Im Jahr zuvor ist das Paar gemeinsam der "Sveriges Socialdemokratiska Arbetarparti" ( Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens ) beigetreten. Alva ist als Psychologin halbtags in der Gefängnisklinik Långholmen in Stockholm tätig, während sie gleichzeitig ihr Studium der Philosophie und Pädagogik an der "Uppsalas Universitet" fortsetzt und 1934 mit dem Master abschließt. 

Im gleichen Jahr veröffentlicht sie gemeinsam mit ihrem Mann eine Untersuchung zur Bevölkerungsfrage: "Crisis in the Population Question" ( dt.:"Die Krise in der Bevölkerungsfrage" ). Das Buch wird vielfach diskutiert und macht sie bekannt im ganzen Land, zumal es darin auch um emotional aufgeladene Themen wie Sexualität & Familienplanung geht.

1934

"Das war ziemlich mutig, denn die meisten Leute, die damals über die Bevölkerungskrise sprachen, kamen aus der rechten Ecke", sagt die schwedische Historikerin Yvonne Hirdman. Den Myrdals sei es nicht um die Steigerung der Geburtenzahlen gegangen wie es damals der Tenor in Deutschland gewesen ist, sondern um Sozialreformen. In dem Bestseller plädiert das Paar unter anderem logischerweise auch für Empfängnisverhütung und ein liberales Abtreibungsrecht.

"Dieses Buch explodierte wie eine politische Dynamitladung", erinnert sich Alva später. Vor allem wird aber sie harsch kritisiert, gilt es doch als unanständig, dass sich eine Frau mit solchen Fragen beschäftigt, ja sich sogar öffentlich dazu äußert. Auf Lesereise sieht sie sich wütenden Menschen gegenüber, die meinen, sie gehöre nach Hause zu ihrem neugeborenen Kind. Ihrem Mann hingegen wird die Mitgliedschaft in der schwedischen Bevölkerungskommission angeboten und man bittet ihn, für das Parlament zu kandidieren.

Das Buch beeinflusst tatsächlich die schwedische Sozial- und Familienpolitik, die Grundlage für die Ausgestaltung des schwedischen Wohlfahrtsstaates werden wird. Als logische Konsequenz ihrer Kritik an mangelhaften Betreuungsmöglichkeiten für Kinder erwerbstätiger Frauen gründet und leitet Alva anschließend das erste Sozialpädagogische Institut Schwedens und bildet dort ab 1936 Vorschullehrerinnen aus. Alva steht einer autoritären Erziehung kritisch gegenüber und befürwortet stattdessen eine Zusammenarbeit zwischen Kind und Erzieher*innen. Das Etikett "Kulturbolschewiki" bekommt sie schnell angeheftet.

Trotz des gemeinsamen Bucherfolges bleibt Alva im Schatten ihres Mannes. Sie arbeitet neben der Leitung des Sozialpädagogischen Instituts als Journalistin für die sozialdemokratische Frauenzeitschrift "Morgonbris. Arbetarrörelsens kvinnotidning".

In einer Artikelserie behandelt sie die Ungleichheit der Lebensstandards in verschiedenen Ländern. Die Vereinten Nationen werden auf sie aufmerksam. Zwei Mal wird ihr vergeblich eine Stelle in der Sozialabteilung des UNO-Sekretariats angeboten. Erst beim dritten Mal wird sie das Angebot annehmen, doch da schreiben wir dann schon das Jahr 1948.

Doch zurück ins Vorkriegsschweden:

1938 reist die ganze Familie Myrdal zu einem zweijährigen Aufenthalt in die Vereinigten Staaten, wo die "Carnegie Corporation" Gunnar damit beauftragt hat, eine ehrgeizige Studie über die amerikanischen Rassenbeziehungen zu leiten. Alva beschäftigt sich unterdessen mit einem Statistik-Studium am "Teachers College" der Columbia University in New York. Nach Ausbruch des 2. Weltkrieges kommen sie im Frühjahr 1940 nach Schweden zurück. Dort wird Alva Mitglied der nationalen Arbetsmarknadskommission. 

Die Familie vor der Abreise in die Vereinigten Staaten

Als Gunnar im Februar 1941 in die Staaten zurückkehrt, schließt sie sich ihm widerwillig im Oktober darauf an, ihre Kinder bei Verwandten zurücklassend. Nach ihrer Heimkehr 1942 engagiert sich Alva in einer ganzen Reihe von Kommissionen, als da sind: das Komitee für die Nachkriegsplanung, das Komitees für Kriegs-, internationale Nachkriegshilfe und Wiederaufbau ("Arbetarrörelsens Efterkrigskommittén", ihre erste wichtige öffentliche Position), das schwedischen Gallup-Institut, das Komitees für Behindertenfragen ( "Kommittén ang partiellt arbetsföra" ), die "Sveriges Socialdemokratiska Arbetarpartiet"-Parteiprogramm-Kommission.

Alva und Gunnar Myrdal erwerben sich national wie global den Ruf, Vorkämpfer einer utopischen Gesellschaftsordnung zu sein, die die Fehlentwicklungen der Moderne zu überwinden sucht. Die "Ideale dieser Gesellschaftsreform, ein vernunftgeleitetes Leben, eine ebenbürtige Ehegemeinschaft, funktionale Kindererziehung und modernes Wohnen, inszenierten die Myrdals öffentlichkeitswirksam innerhalb der eigenen Familie", so Thomas Etzemüller an dieser Stelle.

Alva vor ihrem Haus in Bromma/Stockholm von 1937
(1945)
© Nordiska museet




Ihr Leben wird bereits in den 1930er Jahren in der Presse verfolgt - ganz unschuldig sind die Myrdals daran nicht. Hinter dieser Fassade ist das Familienleben durchaus von Friktionen und Zerwürfnissen geprägt. Alvas Biografin Yvonne Hirdman, Historikerin der Stockholmer Universität, kommt nach ausgiebigem Studium des schriftlichen  Nachlasses des Paares zu der Einsicht, dass Alva immer wieder neu darum ringen muss, ihre Liebes- und Arbeitsbeziehung sowie Elternschaft harmonisch miteinander zu verknüpfen. Dabei stößt sie bei ihrem Mann auf mangelnde Kooperation, weil der erwartet, dass sie sich um Haushaltsführung und Kindererziehung kümmert. Außerdem setzt er seine Frau wiederholt mit seinen Seitensprüngen emotionalem Stress aus. In seinen depressiven Phasen und anderen Schwäche-Situationen muss sie ihn hingegen bemuttern, antreiben oder stützen. Im Laufe der Jahre vermeidet sie deshalb, in seiner Nähe zu arbeiten, um frei von seinem direkten Einfluss & seinen Ansprüchen arbeiten zu können.

Alva in ihrem Haus
(1945)



Alva bleibt lange emotional abhängig von ihrem Mann ( und der wird es mehr und mehr von ihr ) und fragt sich bei jedem ihrer persönlichen Erfolge immer wieder, inwieweit das ihren Mann einschränke. Ihre hochgesteckten Erwartungen der jungen Jahre, in einer Liebes- und Arbeitsgemeinschaft zu verschmelzen, sind auf der ganzen Linie obsolet. Und so versucht sich Alva immer wieder an neuen Modellen einer ehelichen Gemeinschaft. 
"Nachdem das Projekt der 'Firma Myrdal' für sie unbefriedigend blieb, griff sie schließlich das Bild von den 'consort battleships' auf: getrennt operierend, aber für die gleiche Sache kämpfend." So Iris Carstensen in ihrer Besprechung der Biografie.
Die Myrdalsche Erfolgsgeschichte ist also mit Skepsis zu betrachten, wird sie doch auch später eher rückblickend, von den Nobelpreisgewinnen ausgehend, erzählt. 1944 gerät Alva in eine Krise, in der sie einen Entwurf für eine Biographie verfasst: Nach einer tragischen Fehlgeburt, dem Tod der Eltern, dem Auszug des Sohnes in Zwietracht, enormer Arbeitsbelastung - Parteiarbeit wie die Berufstätigkeit im Seminar und Friedens- & Flüchtlingsaktivitäten - und dazu eine emotionale durch ihren Mann drohen sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie reflektiert das Thema der "Geschlechterrollen": ...."ich muß schon sehr früh verstanden haben, daß es ein soziales Handicap ist, kein Junge zu sein." Zwanzig Jahre später hat mich der gleiche Gedanke umhergetrieben.

Lehnt Alva 1945 noch die Nominierung zur Schul- & Bildungsministerin Schwedens ab und folgt 1947 wieder ihrem Mann nach Genf, wo der Leiter der "U.N. Economic Commission for Europe" wird, wird sie selbst wegen der Gesetzgebung der Schweiz als begleitende Ehefrau zur Inaktivität verdammt. Da Gunnar sich völlig seiner offiziellen Aufgaben hingibt und selbst die Geburtstage seiner Kinder vergisst, gerät er noch mehr als ohnehin schon in eine familiale Isolation, während Alva zusehends genervt ist ob ihrer Rolle. Seine Aufgabe bei der Kommission ist für ihn alles gewesen, "die Familie und ich nichts," konstatiert Alva in einem Brief 1983 an ihre Töchter.

Auf Dauer gelingt es ihr aber, sich aus dem Schatten ihres Mannes hinauszumanövrieren, ja ihn sogar zu überholen, was ihre schwedischen und internationalen Positionen betrifft.

Schon während und erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg interessiert sich Alva zunehmend für internationale Themen. Sie will, dass die neuen Vereinten Nationen als supranationale Organisation funktionieren. Einer ihrer Wünsche ist, dass die UN eine Sozialsteuer erhebt, um wirtschaftliche Unterschiede zwischen Ländern auszugleichen. Sie betont auch die Bedeutung der Beteiligung der Sowjetunion an der internationalen Zusammenarbeit.

Nun folgen eine Reihe internationaler Einsätze bei verschiedenen UN - Organisationen. 1949 folgt sie der Einladung des norwegischen UN - Generalsekretärs Trygyve Lie und wird "Director des U.N. Department of Social Affairs" in New York. "Es war der höchste Posten, den je eine Frau in der UNO innegehabt hat", sagt sie später ( und der dritthöchste Posten in der UNO überhaupt). ihren Mann und die jüngste Tochter lässt sie in Genf zurück und lebt mit Sissela jetzt in New York, ab 1951 in Paris, wo sie die Funktion eines "Director des UNESCO Department of Social Sciences" bis 1955 inne hat. 

Sie widmet ihre beeindruckende Energie aber auch weiterhin dem Schreiben. Als Co-Autorin mit der Soziologin Viola Klein veröffentlicht sie "Women's Two Roles: Home and Work". Inhaltlich geht es in dem Buch um die Tatsache, dass Frauen in fortgeschrittenen Industrieländern mittlerweile eine ausreichend lange Lebenserwartung haben, um sowohl eine Familie zu gründen als auch anschließend eine aktive Rolle in der Arbeitswelt zu spielen.

Alva verfolgt nun ebenfalls uneingeschränkt ihre weitere Karriere, auch nachdem Gunnar nach einem Unfall 1952 so verletzt wird, dass es ihm seine Energie und sein Selbstvertrauen raubt und wieder in anhaltende Depressionen stürzt. Gerne würde er bei Alva wohnen. Doch die wägt ab: Was ist, wenn er wieder ihre neugewonnene Unabhängigkeit beschneidet? 1952 schreibt sie: "Die Bilanz zwischen Gunnar und mir scheint zu keinem Zeitpunkt richtig ausgeglichen gewesen zu sein, obwohl alles andere so gut gewesen ist."

Mit Jawaharlal Nehru
(1956)
54 Jahre ist sie alt, als sie 1956 schwedische Botschafterin in Neu-Delhi wird, eine Position, die sie als Höhepunkt ihrer Karriere betrachten wird. 

Alva lernt Jawaharlal Nehru kennen, den ersten Premierminister Indiens, zu dem sie eine große politische Affinität verspürt, auch im Hinblick auf den Ansatz zur sozialen Gerechtigkeit. Mit ihm unternimmt sie mehrere gemeinsame Reisen im Land. 

In dieser Phase ihres Lebens wächst Alvas persönliches Wohlbefinden, da sie keine unmittelbaren familiären Verpflichtungen mehr hat, weil ihre Kinder nun erwachsen und unabhängig sind. Gunnar ist oft längere Zeit in Indien ( als Mieter in der schwedischen Botschaft ), da er ein Studium der asiatischen Wirtschaftswissenschaften aufgenommen hat und dort sein letztes großes Werk in drei Bänden verfassen wird.

1961 ist diese Zeit zu Ende, sie nehmen in Stockholm wieder ein gemeinsames Leben auf, und im Jahr 1962 wird Alva als Parlamentsabgeordnete der Sozialdemokraten gewählt. Sie berät nun Östen Undén, den damaligen schwedischen Außenminister. Ab 1962 nimmt sie auch als schwedische Chef-Delegierte bei den bei Abrüstungsverhandlungen in Genf teil, zugleich ist sie Vertreterin der acht blockfreien Staaten.

Obwohl sich Alva bisher nicht mit der nuklearen Abrüstung beschäftigt hat, wird dies nun zu ihrer Leidenschaft: "Als ich einmal angefangen hatte, konnte ich die Suche nach dem Warum und Wie von etwas so Sinnlosem wie dem Wettrüsten nie mehr aufhalten." Das von der Regierung unterstützte "Stockholm International Peace Research Institute" (SIPRI) wird 1966 gegründet - mit Alva als Vorsitzender.

Ab dem Jahresende 1966 bis 27. September 1973 bekleidet sie das Amt einer schwedische Ministerin für Abrüstung ("Minister för nedrustning"), wird 1968 Vorsitzende der Arbeitsgruppe für Reformen der Gleichberechtigung ("Jämlikhetskommission" ), ebenfalls bis 1973, sitzt der Zukunftskommission der "Sveriges Socialdemokratiska Arbetarpartiet"vor und übernimmt zusätzlich vom Oktober 1969  bis September 1973 das schwedische Ministerium für Kirchenfragen ("Minister för kyrkfrågor"). 

Zwischendurch wird ihr gemeinsam mit ihrem Mann 1970 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche verliehen.

1977
1973 zieht sich Alva aus gesundheitlichen Gründen von allen ihren Ämtern und ihrer Rolle als offizielle Waffenunterhändlerin zurück. Ihre Jahre im Kabinett haben unterdessen nämlich auch zu einer erbitterten Spaltung in der Familie Myrdal geführt: 

Ihr Sohn Jan, politisch radikaler als seine Eltern, ist schon im Dezember 1967 anlässlich einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg von der schwedischen Polizei festgenommen worden. Als seine Eltern ihm nicht die persönliche und rechtliche Unterstützung gewähren, die er von ihnen erwartet und Zeit seines Lebens bekommen hat, ist er doch in Alvas Augen ein Künstler, der Unterstützung verdient, bricht er die Beziehung mit einer scharfen Bemerkung über "Alvas Regierung" ab. Ab 1982 wird er mit drei Büchern mit seiner Kindheit & seinen Eltern noch einmal abrechnen.

1980 hat Alva Myrdal eine erste Ehrung für ihre Abrüstungsbemühungen in Form des Albert-Einstein -Friedenspreises erhalten, der für einen bedeutenden Beitrag zur Verhinderung eines Atomkriegs verliehen wird. Zwei Jahre später wird ihr dann zusammen mit dem mexikanischen Diplomaten und UN-Beamten Alfonso García Robles sogar der Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für die internationale Abrüstung verliehen. Die Myrdals sind nun als Familie einzigartig, denn sie haben zwei Nobelpreise in verschiedenen Bereichen gewonnen: Gunnar hat seine Auszeichnung schon 1974 für seine wirtschaftswissenschaftlichen Leistungen erhalten.

Gegen Ende ihres Lebens leidet Alva Myrdal unter einer Reihe verheerender Krankheiten: Nach einem Herzinfarkt 1976 und einem Schlaganfall 1984 entwickelt sich bei ihr ein Gehirntumor, der ihre Fähigkeit zu sprechen zunächst beeinträchtigt und bald danach ganz zerstört. Eine Gehirnoperation kann das Problem nicht beheben und Alvas mentale Trauer nicht lindern. In ihren Memoiren über das Leben ihrer Mutter beschreibt ihre Tochter Sissela Bok die Panik, die Alva Myrdal in diesen letzten Lebensmonaten erfasst und ihren Wunsch zu sterben bzw. nach Sterbehilfe befeuert. 

Norra Begravningsplatsen,
Garden of Rememberance
CC BY-SA 4.0
Die angesehene Schriftstellerin und Persönlichkeit des öffentlichen Lebens - nicht nur in Schweden - stirbt am 1. Februar 1986, also heute vor 38 Jahren, in Stockholm im Alter von 84 Jahren. Gunnar Myrdal, schon länger an Parkinson erkrankt und in einem Pflegeheim, überlebt sie nur fünfzehn Monate. Ihre Asche wird auf dem Norra Begravningsplatsen in Solna in der schwedischen Provinz Stockholms län verstreut.

Obwohl Alva jahrzehntelang den Großteil ihrer Energie der Karriere ihres Mannes gewidmet hat, erweist sie sich letzten Endes als die mit der glücklicheren Hand, wenn es darum ging, das Mögliche vom Wünschbaren zu trennen. Sie hat Philosophie, Psychologie, Pädagogik und vieles mehr studiert, hat viel theoretisiert und auch Bücher publiziert. Doch im Vergleich zur Zahl ihrer Taten ist die Liste ihrer Bücher kurz. Bei ihrem Mann ist das Verhältnis genau umgekehrt.

Ihre ganze Lebensgeschichte hat mich sehr gefesselt. Sie hat mir deutlich gemacht, mit welchen Widrigkeiten solche Leuchturm - Frauen wie Alva Myrdal zurechtkommen mussten, aber auch, wie wenig und wie langsam es sich nur verändert hat zwischen den Machtansprüchen auf der einen Seite und dem Verantwortungsgefühl auf der anderen, zwischen Egoismus und Altruismus. Mein eigenes Leben, meine Entscheidungen habe ich auf dieser Folie noch einmal einer kritischen Reflexion unterzogen und einen viel wohlwollenderen Blick auf das Leben der jungen Frauen, wie ich es beobachten kann, bewirkt. Denn die gängigen Machtstrukturen blasen auch heute noch den Frauen ins Gesicht, wie Alvas Tochter in ihrem Buch bilanziert.



 


4 Kommentare:

  1. Natürlich war mir Alva Mydrals Name ein Begriff (mehr als der ihres Mannes), aber viel über ihr Leben wusste ich nicht. Der Wind, der Frauen auch heute noch ins Gesicht bläst, hat sich leider kaum geändert. Dass es für die KInder eines so ambitionierten Paares oft nicht leicht ist, kann ich mir gut vorstellen. Selbst da gibt es wohl auch heutzutage wenig Veränderung, auch wenn das Reisen einfacher geworden ist.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  2. Ein sehr kompliziertes Leben. Und eine komplizierte Familie. Schön, dass all Ihr Engagement wenigstens zu Erfolgen geführt hat.
    Liebe Grüße
    Nina

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  3. Leuchtturm-Frauen, so zutreffend auch auf Alva Myrdal, liebe Astrid.... die trotz Zurückstellung ihrer Wünsche und Lebensvorstellung doch auf Dauer so großartige persönliche und öffentliche Erfolge erzielen konnte.
    Danke für dieses spannende Porträt - lieben Gruß von Marita

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  4. Ihren Namen habe ich sehr lange nicht mehr gehört. Sie war ja damals so eine beeindruckende Persönlichkeit in der Öffentlichkeit. Und dabei hatte sie - wie die Frauen auch heute noch - viele "Frauen-Probleme". Auf jeden Fall mit den Kindern kommt für mich die Hauptentscheidung im Frauen- und Männerleben.
    Ja, der Wind bläst immer noch...
    Ein sehr beeindruckendes Portrait einer Frau, die mir lange aus dem Gedächtnis war.
    Herzlichst,
    Sieglinde

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

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