Donnerstag, 13. Oktober 2022

Great Women #315: Anja Niedringhaus

Ihren Fotos zu Beginn dieses Jahrtausends unter dem Label "AP" aus den Krisenherden der Erde, in denen sie den Alltag mitten im Chaos von Krieg und Zerstörung dokumentiert hat, sind sicher bekannt. Ich wurde irgendwann neugierig, mehr über die Fotografin Anja Niedringhaus, die gestern 57 Jahre alt geworden wäre, zu erfahren.

 


"Wenn ich das normale Leben in Kaufungen nicht kennen würde, 
würde ich den Krieg als normal empfinde"
.....
"Wenn ich es nicht fotografiere, wird es nicht bekannt."

Anja Niedringhaus kommt also am 12. Oktober 1965 in der westfälischen Kleinstadt Höxter als mittlere Tochter von Heide Ute Schulz und Karl-Heinz Niedringhaus zur Welt. Sie hat also zwei Schwestern, Elke, die später ebenfalls Journalistin werden wird, und Gide, die den Beruf der Grundschullehrerin ergreift. 

Das Mädchen Anja wird beschrieben als eines, dass schon früh weiß, was es will, und neugierig ist auf die Welt da draußen: "Seit ich zwölf Jahre alt war, wollte ich Fotografin werden." Der Nachbar ist Leiter der Lokalredaktion der "Neue Westfälischen", und Anja darf ihn am Sonntag in die Redaktion begleiten und ihm auch beim Entwickeln der Bilder assistieren. Die Kosten für ihre erste Kamera stottert sie in Raten ab.

Fotos entstehen zunächst für die Schülerzeitung des König-Wilhelm-Gymnasiums, das sie besucht. Mit 17 schreibt & fotografiert sie bereits für die "Neue Westfälische"Der damalige Leiter der Lokalredaktion schickt sie u.a. zu einer Veranstaltung zwecks Ehrung von Jubilaren ins 35 Kilometer entfernte Bad Driburger Rathaus. Die Schülerin hat zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen Führerschein. Doch beherzt setzt sie sich in den Redaktionswagen und fährt hin... 

Anja in den Jahren beim "Göttinger Tageblatt"
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Nach dem Abitur studiert Anja dann ab 1986 Germanistik, Philosophie und Journalismus (Fotografie) an der Georg-August-Universität in Göttingen. Parallel dazu ist sie Praktikantin beim "Göttinger Tageblatt", wo man sie als eine sehr lebhafte, den Menschen zugewandte Person erlebt.
"Anders als die meisten anderen hatte sie immer eine Kamera dabei und wollte nicht nur ihre Berichte ins Blatt bringen, sondern auch ihre Fotos.[... ] Oft war sie am Wochenende im Einsatz, was bedeutete, dass die gesamte Bandbreite der lokalen Berichterstattung ihr Thema war", berichtet später die Lokalredakteurin Angela Brünjes an dieser Stelle.

Sie ist auch dabei, als nach dem Tod eines Antifa-Mitglied am Iduna-Zentrum, der 24 Jahre alten Kornelia Wessmann, die auf der Flucht vor Polizisten von einem Auto erfasst worden  und gestorben ist, eine Woche später 25 000 zu einer Demo in der Stadt zusammenkommen. Die Demo endet im Chaos und es kommt zu Straßenschlachten, in die auch Anja gerät und sich dabei eine Kopfverletzung zuzieht. Die Deutsche Presse-Agentur kauft ihr die Bilder ab und verbreitet sie bundesweit. In dieser Zeit kann sie auch ihre Fotos vom Mauerfall über Nachrichtenagenturen absetzen. 

Das "Göttinger Tageblatt" wird Anjas Sprungbrett zu einer Anstellung bei der Europäischen Presseagentur (EPA) in Frankfurt am Main. Die 25jährige ist damit deren jüngstes Mitglied und die erste Frau. Zwei Jahre betreibt sie Sport- und Gesellschaftsfotografie. Hartnäckig liegt sie ihrem Chefredakteur so lange in den Ohren, bis er sie zur Berichterstattung über den Balkan-Krieg nach Sarajevo schickt. Sie berichtet unter anderem auch aus den anderen Landesteilen des ehemaligen Jugoslawien wie Slowenien, Kroatien, Bosnien, Mazedonien und dem Kosovo. 

Schon bei ihrem ersten Einsatz in Sarajevo wird sie von Heckenschützen unter Feuer genommen und getroffen. Anja überlebt dank einer kugelsicheren Weste. 1997 erleidet sie bei einem Unfall mit einem Polizeifahrzeug in Belgrad mehrere Fußfrakturen, und im Kosovo wird ihr Wagen im Jahr darauf von einer Granate getroffen und sie von Granatsplittern verletzt. 1999 dann wird sie mit einer Gruppe von Journalisten bei einem Grenzübergang zwischen Albanien und dem Kosovo irrtümlich von NATO-Flugzeugen bombardiert. Ein bekanntes Foto aus dieser Zeit ist hier zu sehen.

1997 wird sie Chef - Fotografin der Agentur. Sie ist bei den Olympischen Spielen in Sydney dabei und 2001 fotografiert auch die Folgen der Terroranschläge am 11. September in New York.

2002 schließlich der Wechsel zu Associated Press: Jetzt ist sie ganz oben auf der Karriereleiter als Fotojournalistin angelangt.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Libyen verbringt Anja zehn Jahre in Pakistan und Afghanistan. Das Land wird ihre "große Liebe" werden. Nach ersten Aufenthalten 2001/2002 kehrt die Fotografin ab 2008/2009 regelmäßig nach Afghanistan zurück. 

Doch bleiben wir bei einer zeitlichen Abfolge: Erst einmal gehört Anja Niedringhaus 2003/2004 zu den ca. 600 Kriegsreportern, die "embedded" ( d.h. innerhalb der US-Armee ) bei der Schlacht um Falludscha im Irak anwesend sind. Sie ist bei der ersten Angriffswelle dabei, als 60 Prozent der Soldaten der Einheit, die sie begleitet, fallen. Eines ihrer bekanntesten Fotos aus dieser Zeit ist allerdings das des lachenden George W. Bush, als er bei einem Überraschungsbesuch in Bagdad bei den US-Truppen im November 2003 zu Thanks­giving den Soldaten einen knusprigen Truthahn serviert ( Bild 19 hier ) oder das eines jungen Marines, der sich den in den USA beliebten GI Joe als Glücksbringer auf seinen Tornister geschnallt hat ( Bild 32 hier ). Ihr Name wird zu dieser Zeit bei den Bildveröffentlichungen aber meist noch nicht erwähnt.

Für die Fotoberichterstattung aus dem Irak – als erste deutsche Frau – wird ihr zusammen mit neun AP-Kollegen der Pulitzerpreis, der "Oskar" für Journalisten, 2005 verliehen. Im selben Jahr erhält Anja auch einen Preis für ihren Mut, den "Courage in Journalism Award" der International Women’s Media Foundation (IWMF). 

"Die Bilder von Anja Niedringhaus sind scharf, exakt und strahlen eine starke Präsenz aus. Damit erfüllt sie genau die Anforderungen des aktuellen Fotojournalismus. Jedes Bild zieht den Betrachter sofort in den Bann und gibt ihm oder ihr das Gefühl, mit in der fotografierten Szene zu sein", charakterisiert Bettina Köster an dieser Stelle die Arbeiten der Fotografin.

Nach einem akademischen Jahr in 2007 mit einem Nieman-Fellowship-Stipendium an der Harvard University ( die für Stipendiaten fällige Studiengebühr übernimmt Warren Buffett ), beginnt die intensive Beschäftigung der Fotografin mit Afghanistan. Mein liebstes Foto ist das mit dem Kind, das einen Drachen steigen lässt. Die Fotografin Ursula Meissner beschreibt es hier so:

"Das Foto von dem Drachenläufer: Ihr ist es gelungen, dass sie ein springendes Kind in der Luft, das nach dem Drachen greifen will, das hat sie so toll eingefangen, so authentisch, und da sieht man wirklich, dass es nicht nur Staub und Krieg gibt, sondern eben auch, dass da Menschen normal leben."

Bei den meisten ihrer Fotos ist es nicht so einfach, sich mit den Geschehnissen auf den Bildern abzufinden. "Es geht mir nicht um die Militärmaschinerie, sondern was danach passiert, nachdem geschossen wird. Deswegen ist die Frontlinie für mich der uninteressanteste Punkt", sagt Anja einmal in einem Interview. "Mein Anliegen ist es, die Menschen zu zeigen." Sie sagt auch, sie hätte nie etwas anderes machen wollen als in weltweiten Krisengebieten zu fotografieren. Ihre Bilder sollen eine Aufforderung sein, den Krieg zu stoppen.

2010 wird sie nach einem Handgranaten-Angriff auf eine Soldatenpatrouille in einem afghanischen Dorf verletzt ausgeflogen.

Als krasser Gegenpol zu diesem Leben dient das nordhessische Kaufungen. Dort hat sie mit ihrer Schwester Gide das ehemalige Forstamt gekauft und umgebaut und sich ein Zuhause geschaffen ( das zweite ist in Genf ). In einem parkähnlichen Garten voller Blumen, frei laufender Hofhunde, Katzen, Hühner, einem Pferdestall liegend, lebt sie im Haus zeitweilig mit der Familie der Schwester, zu der auch Kinder gehören, eng zusammen und tankt auf. Von dem, was sie an den Fronten erlebt hat, erzählt sie nicht viel. "Wenn ich dieses Zuhause nicht hätte, dann wäre es ganz unmöglich, mein Leben so zu gestalten, wie ich es tue", antwortet sie einmal auf die Frage, wie sie das alles "verdauen" könne, was sie bei den Kriegseinsätzen erlebe. In Kaufungen baut Anja auch ihr umfangreiches Archiv auf.

Zehn Jahre verbringt sie als Kriegsreporterin in Afghanistan:
"Ich bleibe eigentlich immer bei der Geschichte, bis sie zu Ende ist. Und selbst wenn die Truppen abziehen, ist die Geschichte nicht zu Ende. Das ist mein Leben, ich kann gar nichts anderes. Ich glaube, ich würde das machen, bis ich nicht mehr laufen kann."
Dann aber der 4. April 2014 in der afghanischen Unruheprovinz Chost: Anja Niedringhaus fotografiert Polizisten, die einen Konvoi bewachen. Sie lächeln, alles scheint sicher. Danach setzt sie sich in ein Auto zu ihrer schreibenden Reporterkollegin und Freundin Kathy Gannon von der Nachrichtenagentur AP. Plötzlich tritt ein Polizist auf sie zu und schießt mit einer Kalaschnikow. Er feuert das ganze Magazin leer, ruft dabei "Allahu Akbar!". Dann setzt er sich hin und ergibt sich seinen Kollegen. 

Die Hintergründe dieser Tat sind bis heute nach wie vor unklar. Der Täter selbst schweigt. Niedringhaus und Gannon sind damals mit einem Konvoi für Wahlunterlagen im Bezirk im Osten Afghanistans unterwegs gewesen und gerade auf dem Gelände einer Polizeistation angekommen. Anja, die auf der linken Seite der Rückbank des Wagens gesessen hat, wird von mehreren Kugeln in den Kopf getroffen und ist sofort tot, Kathy Gannon schwer verletzt. Erst im Krankenhauss erfährt sie, dass ihre Freundin tot ist, mit gerade mal 48 Jahren.

Der 25-jährige Schütze lässt sich widerstandslos festnehmen, wird drei Monate später zum Tode verurteilt,  die Familie erwirkt auf diplomatischem Wege eine Umwandlung in eine Haftstrafe.

Noch einen Tag vor ihrem Tod ist ein Foto von ihr aus dem afghanischen Präsidentschaftswahlkampf auf der ersten Seite der internationalen Ausgabe der "New York Times" zu sehen gewesen. Am Tag danach wird Anja Niedringhaus selbst zum Aufmacher.

2016 gründen dann ihre Mutter und die Schwestern eine Stiftung. Seit 2015 wird jährlich der Anja-Niedringhaus-Preis als Auszeichnung für Fotojournalistinnen, die sich durch außergewöhnliche Tapferkeit bei der Berichterstattung engagieren, vergeben. 2019 findet im Käthe Kollwitz Museum Köln eine Retrospektive statt. Im Mai dieses Jahres ist der Film "Die Bilderkriegerinvon Roman Kuhn und Sonya Winterberg herausgekommen. 

Wen die Fotos der Fotografin interessierten, denen seien diese Seiten im Netz empfohlen:


Viele Fotos werden einem bekannt vorkommen...




7 Kommentare:

  1. Guten Morgen liebe Astrid,
    das stimmt, viele Fotos von Anja Niedringhaus kommen mir bekannt vor. Ich habe mich nie so damit beschäftigt, wer genau hinter Fotos steht, es sei denn, es geht groß durch die Presse, weil das Foto einen Preis gewonnen hat oder eben der*die Fotograf*in ums Leben gekommen ist. Was mich bei Deinem Post nun bewegt zu schreiben: Anja ist mein Jahrgang. Welch eine Leidenschaft für den Fotojournalismus und welch trauriges frühes Ende. Vielen Dank für Deinen Bericht. Für Dich eine angenehme restliche Woche.
    Martina

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  2. guten Morgen liebe Astrid, - welch ein Wahnsinns - Leben, ein wahnsinig spannendes erfülltes kurzes Leben einer Fotojournalistin die frühzeitig durch einen Attentäter ums Leben kam ist tragisch, gleichzeitig traurig weil es die Folgen des Krieges beweist, auch ihren unglaublichen Mut zeigt sich dem auszusetzen muss Leidenschaft für den Beruf, ja fast eine Berufung sein.
    Ich kenne einige ihrer Bilder, kannte auch ihren Namen , - wusste aber nicht dass, - und wie sie ums Leben kam.
    ihr den Platz der besonderen Persönlichkeiten die herausragend sind bei dir in deinem Archiv mit diesem Bericht zu geben finde ich phantastisch....
    herzlichen Dank... er hat mich sehr beeindruckt
    angelface

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  3. So ein intensives engagiertes Leben, leidenschaftlich .Hochbegabt ! den nam kann ich, aber mir war nicht mehr bewußt wie ihr Leben endete. Die Tat läßt mannigfaltige Interpretationen zu, es ist so bittertraurig.Ein wichtiger Beitrag in deiner Reihe. Danke.
    VG Karen

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  4. Sie hat wirklich gebrannt für ihre Berufung und ihre Überzeugung. Über ihren grausamen Tod wusste ich nichts. Ja, manche ihrer Bilder kenne ich. Und viele erinnern mich an jene Bilder, die uns gerade aus der Ukraine erreichen.
    Danke für dieses sehr besondere und bewegende Portrait.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  5. oh ja..
    ich kann mich noch erinnern an die Meldung ihres Todes
    über ihr Leben wußte ich allerdings wenig
    doch die Bilder und Berichte haben eine Macht
    denn anders ist es nicht zu verstehen dass so viele Journalisten
    ermordet werden
    es sind so sinnlose Taten
    danke für das Portrait
    liebe Grüße
    Rosi

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  6. Eine junge Frau aus der deutschen Provinz. Ich kannte sie überhaupt nicht, geschweige denn ihr grausames Ende.
    Es überrascht mich immer wieder wie Menschen ihre Berufung finden und alles dafür tun, egal wie gefährlich das ist und wo auf der Welt das ist.
    Und dann aber auch, so wie sie, eine Heimat in der deutschen Provinz hüten und von dort immer wieder neu starten in diese so ganz anderen Welten.
    Wer solch eine Sicht der Dinge hat, kann sie auch fotografisch ganz anders darstellen. Das zeigen ihre Fotos. Einige kannte ich ohne sie selbst zu kennen.
    Danke für dieses eindringliche Portrait einer sehr mutigen Frau.
    Herzlichst, Sieglinde

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  7. ich bin wirklich regelrecht erschöpft von deinem beitrag und weiß nicht, ob ich ihr engagement mutig oder selbstmörderisch finden soll. schon immer habe ich mich gefragt, was menschen dazu treibt, sich in die vordersten reihen eines krieges zu begeben um fotos davon zu machen. wie verkraftet man so etwas auf dauer? gut, dass sie in dem forsthaus ihrer schwesterfamilie zumindest zeitweise zur ruhe kommen konnte. aber so traurig ihr schreckliches ende.
    liebe grüße
    mano

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

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