Donnerstag, 12. Dezember 2019

Great Women # 203: Ella Maillart

Auf die heute vorgestellte Frau bin ich von Dörte aufmerksam gemacht worden, die eine Ausstellung ihrer Fotografien in Karakol/Kirgisistan gesehen hatte und ganz begeistert war. Als ich mich näher mit ihr befasst habe, fiel mir auf, dass ich ihr schon mal bei der Beschäftigung mit Erika Mann und Annemarie Schwarzenbach "begegnet" war ( die irgendwo auch auf meiner Liste stehen ), aber die Lebensgeschichte von Ella Maillart fand ich dann doch noch viel spannender, so dass ich mich neugierig ans Werk gemacht habe - heute also das Ergebnis!

"Ich bin inzwischen überzeugt, 
dass das Leben selbst 
eine Reise an das Ende der Welt ist, 
eine Rückkehr zu der Einheit, 
die uns abhanden gekommen ist…


Ella Maillart kommt am 20. Februar 1903 als Tochter des wohlhabenden Genfer Pelzhändlers Paul Maillart und seiner sportlichen Frau Dagmar Klim, einer Dänin, zur Welt.

"Kini", so ihr Spitzname, wächst in luxuriöser Einsamkeit auf. Ihre geschäftigen, calvinistisch geprägten Eltern überlassen das Mädchen oft sich selbst, so dass Ella ihre ganz eigenen Wege entwickeln wird. Von eher schwächlicher Konstitution und geplagt von häufigen Erkrankungen flüchtet sie sich zum Beispiel gerne in die Lektüre von Abenteuerbüchern und studiert topografische Karten und träumt so von fernen Weiten. Doch ein Arzt rät  zu sportlicher Betätigung. So schleppt sie ihre sportbegeisterte Mutter jeden Wintersonntag zum Skilaufen in die Berge - damals noch als Exzentrizität der Ausländer angesehen -, um sie körperlich widerstandsfähiger werden zu lassen.

1911
Als sie zehn ist, kauft die Familie in Creux-de-Genthod, 7 Kilometer von Genf entfernt, ein kleines Häuschen am See, wo sie die Sommermonate verbringen werden. Ella lernt dort Hermine ("Miette") de Saussure, die Tochter eines französischen Marineoffiziers aus Paris, kennen, die zwei Jahre älter ist als sie.
"Miette trug immer eine Matrosenbluse und einen Faltenrock aus gestreiftem Twill und ihr  Kastanienhaar mit einer helleren Locke vorne zu einem Bob frisiert. Mit ihren klaren grauen Augen und einem aufrichtigen, zarten Lächeln war immer ein Leuchten in ihrem Gesicht. Als ich später Homer las, hatte ich das Gefühl, dass Pallas Athene wie sie ausgesehen haben muss." 
Bald sind sie unzertrennlich. Mit Miette führt sie der Weg auch bald zu den Seglern am Genfer See, die ihnen zeigen, wie man ein Boot wartet und navigiert. Die beiden Mädchen lernen schnell und sind begeistert vom Gefühl der Unabhängigkeit auf den Wellen des Sees, schätzen sein Glitzern und die ständige Anwesenheit des Windes. Ihre erste Regatta  gewinnen sie im Alter von 13 Jahren.

In Europa wütet zu dieser Zeit ein Krieg, und die beiden Mädchen erleben den Kontinent als "egoistisch und dekadent". Sie schwärmen von anderen Kulturen und würden am liebsten weit, weit weg gehen. Weil das nicht möglich ist, verschlingen sie jeden Tag ein Buch   - kleine Fluchten sozusagen. Der Sport bietet eine weitere Ablenkung: Mit 16 Jahren gründet Ella den ersten Frauen-Hockeyclub in der Romandie, den "Champel Hockey Club".

Als Fünfzehnjährige 
Einen Schulabschluss wird sie nicht ablegen: Ein Jahr vor der Matura bricht Ella ab, um mehr Zeit für ihr Training zu haben. Nur hart erkämpfte Siege gelten für sie, ein "geordnetes Leben", wie der Vater es wünscht, lehnt sie ab. Wie kann man sich nur der Tretmühle des Alltagslebens aussetzen?

Was uns vernünftig erscheint, ist für Ella abwegig und verrückt, und in der Vorstellung droht sie daran zu ersticken. Freiheit, das zu tun, was in ihren Augen wert ist, getan zu werden, für etwas zu leben, das begeistert und dem sie sich ganz hingeben kann - das ist ihre Vorstellung vom künftigen Leben. Der See und die Alpen haben einen viel größeren Einfluss auf die Heranwachsende als die saturierte, bürgerliche Lebensart: "Ich liebe diese hautnahe Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten, es ist die beste Art, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen."

Das Seglerinnen. - Team der "Bonita",
Ella ganz links
Als Miette eine Schaluppe von sechseinhalb Metern, die "Perlette", kaufen kann, können sie endlich in See stechen und segeln alleine und ohne Hilfsmotor von Cannes nach Korsika. Da ist Ella kaum zwanzig. Bei ihrer Rückkehr werden sie gefeiert und lernen den berühmten Einhand - Segler Alain Gerbault kennen, bevor der den Atlantik überquert.

Im Jahr darauf segeln sie mit zwei weiteren Mädchen auf einer alten 14-Tonnen-Jolle, der "Bonita", wieder nach Korsika und von dort nach Sardinien und Sizilien und schließlich auf den Spuren des antiken Odysseus zu den Ionischen Inseln, besonders zu seiner Heimatinsel Ithaka.

Später versuchen sie auf einem anderen Boot, der "Atalante", einem soliden Lotsenboot,  ihrem Vorbild Alain Gerbault zu folgen. Doch noch in Sicht der bretonischen Küste müssen sie umkehren, weil Miette schwer erkrankt.  Diese lernt danach den französischen Archäologen Henri Seyrig kennen und lieben, und das gemeinsame Abenteuer mit Ella wird obsolet.

Die verdingt sich anschließend zeitweilig als "cabin boy" und "deck-hand" auf englischen Yachten, die auf dem Atlantik segeln. 1924 vertritt sie die Schweiz beim Einhand-Segelwettbewerb der Olympischen Spiele. Unter den Teilnehmern aus 17 Nationen belegt sie den neunten Platz als einzige Frau im Wettbewerb. Gleichzeitig ist sie auch Kapitänin des Schweizer Frauenfeldhockeyteams.

Als Skiläuferin
Ohne Miette sind ihre Träume vom Leben auf dem Meer ausgeträumt. Und weil ihr Vater nicht bereit ist, sie zu finanzieren, verdient sich Ella ihr Geld als Schreibkraft, Handelsreisende, Künstler - Modell  in Paris, als Schauspielerin in Genf und als Französischlehrerin in Wales & London. Es bleibt nach so vielfältigen Erfahrung die Einsicht: "Außer beim Segeln oder Skifahren fühlte ich mich verloren, nur halb lebendig. Alles, was ich sah oder las, war deprimierend."

Der Winter hat immer dem Skifahren gehört. Bald wird sie Mitglied der Schweizer Nationalmannschaft und geht bei vier Weltmeisterschaften von 1930 - 34 für ihr Land an den Start. In ihrer Autobiografie "Cruises and Caravans" wird sie später schreiben: "Manchmal glaube ich, dass das Skifahren dafür verantwortlich ist, dass ich ein ewiger Wanderer bin."

Ihre Qualitäten als Skiläuferin bringen ihr eine Rolle in einem 1929 in Mürren produzierten Skifilm und Engagements als Stuntfrau in von der UFA in Berlin produzierten Bergfilmen. Dort in Berlin schreibt sie Filmkritiken, lernt den neuen russischen Film kennen und kommt auf die Idee, vor Ort  für Reportagen über den Sport und den Film in der Sowjetunion zu recherchieren. Außerdem ist sie neugierig auf das "größte soziale Experiment der Neuzeit", eventuell eine Alternative zum dekadenten Westen? Die Witwe Jack Londons stockt durch eine Finanzspritze Ellas Reisekasse auf 200  US-Dollar auf.

In Moskau nimmt sie dann eine Gräfin Tolstoi in Empfang und bietet ihr ein Bett und Kontakte. Sie nimmt an Ruderwettbewerben teil und an Filmaufnahmen und reist dann mit einer Gruppe russischer Studenten in das Kaukasus-Gebirge, durchstreift das geheimnisumwitterte Swanetien, eine historische Region im nordwestlichen Georgien, und auf dem Weg zurück nach Europa besucht sie die Krim und überquert das Schwarze Meer. Diese Reise dient einem ersten Aufwärmen für das, was nun folgen wird: Reisen und Schreiben.

1932 in Usbekistan bzw. 1933
Ihr allererstes Buch über diese erste Reise unter dem Titel "Parmi la jeunesse russe" ( auf Deutsch: "Auf kühner Reise – Von Moskau in den Kaukasus" ), erscheint 1932 und bringt ihren einen Scheck in Höhe von sechstausend Franken ein.

Die Schriftstellerei wird ihr allerdings immer Qualen bereiten, denn das Schreiben fällt ihr nicht leicht und sie ist auf diesem Gebiet auch lebenslang nicht von sich überzeugt. Doch sie hat keine Alternative: Nur so  kann sie frei sein und reisen. Ihr Appetit ist jedenfalls geweckt für die Weite des Fernen Ostens. 
"Je mehr ich reise, desto mehr ist mir klar, dass ich nichts weiß, desto mehr möchte ich reisen. (…) Man reist, um der Routine zu entfliehen, jener schrecklichen Routine, die alle Vorstellungskraft und unsere ganze Begeisterungsfähigkeit tötet."
Mit zwei Paaren, die sie in Moskau kennengelernt hat, reist sie mit dem Zug nach Kirgistan, und von dort auf Pferderücken nach Turkestan zum Tienschan - Gebirge ( "Himmlisches Gebirge" im Chinesischen ) und erklimmt dort einen Berg von 5000 Metern, von dem aus sie die pudriggelben Weiten der Taklamakan-Wüste im verbotenen China entdeckt, der zweitgrößten Sandwüste der Erde  ( heute liegt sie im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang, von dem gerade viel die Rede ist ). Für sie ist sofort klar: Dorthin wird sie eines Tages reisen.

Vorerst kehrt sie aber allein nach Europa zurück und durchquert auf diesem Weg südsowjetische Regionen wie Taschkent und Samarkand, in denen gerade die muslimische Aufstände von der Roten Armee niedergeschlagen worden sind. Sie überquert den Syrdarja und den Amudarja und passiert dazwischen die berüchtigte Kysylkum-Wüste ( "Roter Sand" ), immer auf Kamelen, immer alleine und ohne Erlaubnis der Sowjets und muss daher die gefährlichen Kontrollpunkte umgehen.

"Un véritable scoop"! So die Reaktion zurück in Paris, angesichts der Filme, Fotos und Aufzeichnungen, die sie dabei hat. Sie verfasst ein weiteres Buch - "Des Monts célestes aux Sables rouges" - darüber, das 1934 sofort unter dem Titel "Turkestan Solo" ins Englische übersetzt wird ( auf Deutsch: "Turkestan Solo – Eine abenteuerliche Reise ins Ungewisse" ).

Es  braucht einen starken Willen und vor allem eine ungewöhnliche Kondition, um eine solche Reise zu Fuß, mit dem Pferd oder mit dem Kamel zu bewältigen. Es scheint, dass Ellas sportliche Teenagerjahre die perfekte Vorbereitung für ein solches Abenteuer gewesen sind. Genügsamkeit und Not hat sie als verwöhnte Tochter aus gutem Haus nicht erlebt, doch darüber setzt sie sich hinweg. Das einfache, karge Leben empfindet sie als ursprünglich und wahrhaftig. "Schlafen unter dem Sternenhimmel ist romantisch, aber bei –25 ° C und einem fast leeren Bauch braucht es, was die meisten von uns nicht haben", schreibt Dervla Murphy im Vorwort zum zweiten Buch.

1934 schickt sie der "Le Petit Parisien", ein populäres Journal der Dritten Republik, in die Mandschurei, seit 1931 von den Japanern besetzt, um über deren Kriegsgräuel dort zu berichten. Von dort reist sie nach Peking. Eigentlich will sie weiter nach Sinkiang ( heute Xinjiang ), dem chinesischen Turkmenistan. Doch das ist für Ausländer gesperrt: Die dort wohnenden, mehrheitlich muslimischen Turkmenen und Uiguren erheben sich im Laufe der Geschichte immer wieder gegen die Macht in Peking.

Dort in Peking trifft Ella Maillart auf den Korrespondenten der "Times", Peter Fleming , den sie seinerzeit in einem Londoner Nachtclub kennengelernt hat. Mit diesem beschliesst sie etwas Ungeheuerliches: Von Peking aus will sie bis nach Indien kommen!

Peter Fleming und Ella in Gilgit ( im Karakorum )


Ein ungleiches Paar macht sich da im Februar 1935 für sieben Monate auf einen Weg von sechstausend beschwerlichen Kilometern:

Da ist der ungeduldige Brite, der das Ziel so rasch wie möglich erreichen will, um ja im Herbst zur Birkhuhnjagd zu Hause zu sein. Der sich nur so lange als nötig an einem Ort aufhalten will, während Ella sämtliche Abschweifungen und Umwege bevorzugt und für die die Reise ewig dauern könnte, da sie kein Verlangen mehr hat, nach Europa heimzukehren. Sie weiß aber seinen schwarzen Humor zu schätzen, seinen Pragmatismus und die Tatsache, dass er wohl mit einer Glückshaut geboren worden ist. Wahrscheinlich harmonieren sie deshalb wie ein altes Ehepaar, während sie sich auf Pferden, Kamelen und zu Fuss durch Salzwüsten, Sandwüsten, Sumpfplateaus über die Gebirgsketten des Pamir und des Karakorum bewegen, bevor sie Kaschgar und Srinagar erreichen, wo sich Islam und Buddhismus treffen, und schließlich den indischen Himalaya. "Eine Reise, in der nichts passiert, doch dieses Nichts wird mich ein Leben lang erfüllen", wird Ella danach sagen.

Peter Fleming (1935)
Perfekt geht auch zusammen, dass er sich auf die Infrastruktur und die sozialen Verbindungen des britischen Empire verlassen kann, die Sprachen der chinesischen Händler & Behörden besser spricht und zudem ein guter Schütze ist. Und sie wiederum kann seine so erbeuteten Wildtiere auf dem offenen Feuer zubereiten, sie kann seine Wunden versorgen, spricht Russisch und kennt das Leben in der Karawane.

Im Übrigen ist diese Reise kein Sujet für einen Hollywood - Film: Peter Fleming und Ella Maillart finden sich nicht wirklich attraktiv, eine verfilmenswerte spektakuläre Romanze findet also nicht statt.

Zurück in Europa verfassen sie  dann ihre unterschiedlichen Reiseberichte:

Während Fleming Ella in "News from Tartary" galant als die Heldin der Expedition beschreibt und sich beeindruckt von ihrer beinharten Natur gibt, stellt sie ihn zwar liebevoll, aber auch mit einer gewissen Ironie als etwas pompösen & pomadisierten Pfeifenraucher mit den Attitüden eines "Public School Peter Pans" dar, der auch mitten in der Wüste seine Patiencen legt. Er beschreibt die erheblichen Schwierigkeiten witzig und unterhaltsam, sie zeigt mehr Interesse & Mitgefühl für die Menschen, die sie treffen, und überlegt auch, welche ökologischen Auswirkungen selbst eine kleine (relativ) moderne Expedition auf die nomadischen und semi-nomadischen Kulturen hat ( zivilisatorische Errungenschaften wie Streichhölzer, Primus - Kocher und Kamera wecken deren Begehrlichkeiten ). Ihr Buch ist "written for the ages" ( Simon Schreyer ), seines zum Ruhme des Britischen Imperiums. Am Ende konstatiert sie:
"Ich bin tieftraurig, dass es nun vorbei sein soll mit dem einfachen, freien Leben unter dem weiten Himmel Asiens, das solange das meinige war."
Die "Verbotene Reise" macht Ella Maillart 1937 geradezu schlagartig berühmt und wird ein Bestseller, was Ella eine gewisse finanzielle Freiheit gewährt. Trotzdem arbeitet sie weiter als Reporterin für "Le Petit Parisien", u.a. fährt sie in die Türkei, in den Iran, nach Afghanistan und Indien. Eine kleine, aber erfolgreiche Lesetour unternimmt sie durch Europa.

Letztendlich will sie diesen Kontinent aber hinter sich lassen "und so weit wie möglich gehen".  Ihr wachsendes Unbehagen aufgrund der immer unsicher werdenden politischen Verhältnisse in Europa und ihre Ahnung vom "Untergang des Westens" lassen den Wunsch nach einem erneuten Aufbruch aufkommen. Der Plan konkretisiert sich dann tatsächlich rasch:

Durch Henri Seyrig, der Archäologe & Ehemann von Miette, hat sie im Libanon die Bekanntschaft mit Annemarie Schwarzenbach  gemacht und sich mit ihr in Zürich wiedergetroffen. Als Ella sie Anfang 1939 in Sils erneut besucht, erfährt sie, dass Annemarie einen neuen Wagen geschenkt bekommen hat. Sofort erkennt sie das Potenzial dieses Präsents: "Einen Ford! Das ist der Wagen, mit dem man die neue Hasarejdschatstrasse in Afghanistan hinauffahren sollte!"
Annemarie Schwarzenbach,  fünf Jahre jünger als Ella, Sprössling einer der reichsten Familien Zürichs - Vater einer der grössten Seidenfabrikanten der Welt, Mutter Generalstochter und dem Faschismus zugeneigt - ist Schriftstellerin und Feuilletonistin, die mit ihrem Lebenswandel nicht minder von sich reden macht als mit ihrem literarischen Werk. Ihre unheilvolle Beziehung zur Mutter, unglückliche Liebesverhältnisse und die Gelegenheit im Berlin der Endphase der Weimarer Republik  bringen sie ans Morphin. Sie absolviert etliche Entzugskuren und reist rastlos zwischen den Kontinenten umher, u.a. mit Klaus Mann und Marianne Breslauer
Eine "Reifeprüfung" verspricht sich die Jüngere von einem solchen Unternehmen: "Ich tu es gewiss nicht 'for fun' ", bedeutet sie Erika Mann. Nächte im Schlafsack auf blosser Erde, unterwegs in einer Welt aus Steinen, Staub und Hitze - Afghanistan soll ihr dazu verhelfen, von den Drogen zu lassen.

Annemarie Schwarzenbach (links) mit Ella (1939)
Ella sieht gerade unter dieser Prämisse eine besondere, da doppelte Herausforderung bei dieser neuen Reise. Durch ihre mentale Stärke sollte es ihr doch gelingen, woran bisher alle gescheitert sind, Annemarie von ihrer Morphinsucht zu befreien. Sie fühlt sich der Freundin brüderlich ( "fraternellement" ) zugetan und verbunden.

Noch im Frühjahr des Jahres beschaffen sich die beiden Frauen die notwendigen Dokumente, Visa und Karten, informieren sich bei Orientexperten, kaufen Campingmaterial und rüsten den Ford mit Schneeketten für Schlammpisten, mit zwei Reserverädern und verstärkten Federn auf. Immerhin soll die Fahrt durch kaum erschlossene Gegenden gehen. Und: Sie "wollen nicht wie englische Ladies mit eisgekühlten Flaschen, mit Herrenbegleitung und mit Boys möglichst schnell Afghanistan durcheilen".

Auch dieses Mal hätten die Persönlichkeiten der beiden Reisegefährtinnen nicht gegensätzlicher sein können:

Auf der einen Seite die zähe & ausdauernde, inzwischen von robuster Gesundheit gesegnete Abenteuerin, die vor nichts zurückschreckt und nicht leicht aus der Façon zu bringen ist. Auf der anderen Seite eine hoch empfindsame Schriftstellerin, exzentrisch, dazu süchtig und gesundheitlich labil, gepeinigt von Existenzängsten. Im Gegensatz zu Ella, die Schreiben als notwendiges Übel betrachtet und als etwas, das ihr die Zeit in der Natur beschneidet, ist Annemarie in erster Linie Schriftstellerin, die über eine Sprache verfügt, so komplex wie ihr Seelenleben. In puncto Reisen stimmen sie überein sowie in ihrer Einstellung zum bürgerlichen Leben, sind sie doch zutiefst unzufrieden damit und offen für alternative Lebensmodelle.

Im Juni starten sie endlich von Genf aus nach Istanbul, Teheran und weiter nach Afghanistan und befahren als erste Frauen im August von Herat ausgehend die Nordroute nach Masar-e Scharif und erreichen nach etwas mehr als drei Wochen über den Hindukusch Kabul.

Ella am Auto, im Iran fotografiert von Annemarie Schwarzenbach
Enttäuschend: Die westliche Zivilisation hat bereits im Land Einzug gehalten mit asphaltierten Straßen, Stauseen, Fabriken und bedroht das Nomadentum. Und Annemarie muss sich unterwegs immer wieder ihren "Stoff" verschaffen, so dass es Ella langsam dämmert, dass wohl "viel Eitelkeit und Stolz" hinter ihrer Motivation, Annemarie von ihrer Sucht zu heilen, gestanden hat.

Bei der Ankunft in Kabul erfahren sie, dass der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist. Auch zwischen ihnen kommt es zum Streit. Annemarie hält den Rückzug in ferne Länder für schiere Resignation und meint, man müsse nach Europa zurück, um sich im Kampf gegen den Faschismus zu engagieren.

Sie trennen sich. Die "Reifeprüfung" ist gescheitert und beide fühlen sich als Versagerinnen. Annemarie reist aber erst einmal weiter durch Nordafghanistan, beteiligt sich an archäologischen Ausgrabungen im afghanischen Turkestan und trifft sich noch einmal mit Ella in Bombay, von wo aus sie sich nach Europa einschifft. Sie trudelt weiter durch die Welt, bis sie drei Jahre später in Sils an den Folgen eines Fahrradunfalls stirbt.

In Afghanistan, fotografiert von Annemarie Schwarzenbach
Ella hingegen reist von Kabul aus weiter nach Südindien. Dort entdeckt sie das meditative Leben. Ihr wird klar, dass sie fern vom "tobenden, fiebernden Europa" unterwegs sein wollte, um ihr Innerstes zu erforschen und Ruhe und Frieden zu finden. "Weite muss in uns sein, sie kann nur in uns  sein, denn sonst würde es sich nur um ein geographisches Mass handeln", erkennt sie.

Sie verbringt die nächsten sechs Jahre in Tiruvannamalai südlich von Madras, in der Nähe des Ashrams von Ramana Maharishi und erfährt bei den indischen Meistern die Unabhängigkeit von äusseren Bedingungen. Sie meditiert, schreibt, hört sich Vorträge von Atmananda Krishna Menon in Kerala an und lebt bescheiden von ihren Lizenzgebühren ( die finanzielle Ausbeute der Afghanistan-Reise ist eher enttäuschend, denn zu dieser Zeit beschäftigen die Europäer andere Themen ). Zwischendurch geht sie nach Tibet und sucht dort Einkehr.

1940er Jahre
Ihr Buch "Ti-Puss – Drei Jahre in Südindien mit einer Katze als Kamerad" (1954) beschäftigt sich mit dieser entscheidenden Phase ihres Lebens und handelt von ihrer geliebten Katze  namens Ti-Puss und ihrer spirituellen Suche.

Mit dem Kriegsende 1945 kehrt sie nach Europa zurück. Sie schreibt ihre Erlebnisse auf der Reise mit Annemarie Schwarzenbach auf und veröffentlicht sie 1948 unter dem Titel "Auf abenteuerlicher Fahrt durch Iran und Afghanistan". Ebenfalls 1948 baut sie sich selber mit Hilfe von drei Bauern ein Chalet in Chandolin, auf einer schmalen Terrasse an einer der eindrucksvollsten Stellen des Wallis auf zweitausend Metern Höhe gelegen, mit Blick auf Sierre und das Rhonetal im Süden. Sie tauft es "Atchala", in in Erinnerung an Arunatschala, dem "Berg des heiligen Feuers",  in Südindien:
"… diese fast unbewohnte Region hat etwas Unberührtes. Dieselben Eigenschaften (Abflüsse) wie im Skennis Skali-Tal. Oder über dem Yatung bei der Rückkehr aus Chumbitang: Jedes Blatt, sogar jedes Moosbüschel, ist die Königin der Welt, die über ihre Macht und ihre Schönheit verfügt", schreibt sie.
Das Haus ist vom Dorf Saint-Luc lange nur über einen Kreuzweg - Pfad zu erreichen. "Vom letzten bis zum ersten Schnee" verbringt Ella Maillart ihre Zeit in Chandolin, in der übrigen Zeit reist sie. Dort oben verfasst sie ihre 1952 erscheinende Autobiographie "Croisières et caravanes" ( auf Deutsch: "Ein Leben ohne Rast" ).

1951 reist sie nach Nepal, das gerade seine Grenzen geöffnet hat, und darf sich als erste Westlerin frei im Land bewegen. Von den Einheimischen wird sie wahrgenommen als eine Art "Ausnahmewesen - weder Frau noch Mann". Sie besucht Kathmandu und die Regionen Bagmati und Langtang und, mit Unterstützung von Toni Hagen, einem Schweizer Geologen, wandert sie ins Melamchi-Tal und zum heiligen Gosainkunda-See. Ihren ersten Besuch in Nepal wandelt sie wieder um in ein Buch, mit ihren eigenen Fotos gespickt: "The Land of the Sherpas" (1955). Mit dieser Reise ebnet sie auch diskret den Boden für die Everest-Expedition ihres Freundes Raymond Lambert: Der Genfer gelangt im Jahr darauf auf bis zu 200 Metern unterhalb des Gipfels und ist zusammen mit dem Sherpa Tenzing Norgay der erste Mensch, der am Everest die Höhe von 8600 Metern überwunden hat.

Bis 1987 wird sie mindestens vierzig Mal als Führerin kleinerer Touristengruppen auf das Dach der Welt zurückkehren. Ein letzter Besuch in ihrem geliebten Asien führt Ella Maillart 1994 an die Strände von Goa.

1989 werden ihre in den 1930er Jahren entstandenen Reisefotografien im "Musée de l’Elysée" von Lausanne, dem Ella Maillart ihre Negative vermacht hat, in einer ersten Retrospektive gezeigt. Mit " La Vie immédiate" werden 1991 rund 200 Fotografien einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die von einzigartigem dokumentarischem Interesse sind.

In den letzten Lebensjahren macht ihr die Entwicklung auf unserem Planeten zunehmend Sorgen. Es heißt, dass sie noch einen Tag vor ihrem Tod an ihrem Lieblingsplatz unter dem weiten Walliser Himmel beim Wegkreuz auf dem "Calvaire" gesessen hat. Beim Sterben bemerkt sie noch: "Du hörst einfach auf zu atmen. Was ist daran so beängstigend?" Am  27. März 1997 schließt Ella Maillart, 94 Jahre alt, in ihrem Haus in Chandolin für immer ihre Augen.

Ihre Reiseberichte, in mehrere Sprachen übersetzt, gelten bis heute als Klassiker des Genres. Ihr schriftlicher Nachlass wird in der "Bibliothèque de Genève" verwahrt, ihr photographisches Werk  im "Musée de l’Elysée" in Lausanne ( hier sind einige davon zu betrachten - zum Vergrößern anklicken ), ihre Dokumentarfilme in der Sammlung der "Cinémathèque Suisse" ebendort. In Chandolin gibt es eine Dauerausstellung. Der Film "Die Reise nach Kafiristan" (2001) der Brüder Donatello und Fosco Dubini ( mit Nina Petri als Ella Maillart ) thematisiert sehr frei die gemeinsame Reise mit Annemarie Schwarzenbach. Der Dokumentarfilm "Ella Maillart: Double Journey" von Marianne Lewinsky und Antonio Bigini verwendet restauriertes Filmmaterial Maillarts von ihren Reisen in den Iran, Afghanistan, Indien und Nepal ( darunter also Gegenden, von denen wir heute nur als Kriegsgebiete etwas mitbekommen):



"Einer der wichtigsten Aspekte am Reisen ist es, ein Gefühl der Solidarität in uns zu erzeugen, von Einigkeit, ohne die keine bessere Welt möglich ist." So ein Fazit der großen weiblichen Reisenden des 20. Jahrhunderts. Schade nur, dass in einem Land, das als Reise - Weltmeister gilt, so wenige Menschen sich solidarisch mit denen fühlen, die am meisten - jetzt schon - unter der Klimaerwärmung zu leiden haben. Beim Betrachten ihrer Fotos und Filme ist mir noch einmal bewusst geworden, wie viel wir schon verloren haben.

10 Kommentare:

  1. Tolle Biografie, super Blogbeitrag
    Liebe Grüße
    Susa

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  2. Was für eine interessante Reisende, innerlich wie äußerlich. Ich habe noch nie etwas von ihr vorher gehört. Sie hat das Wesen des Reisens begriffen.
    Danke für dieses ausführliche Portrait, sehr wertvoll!
    GlG Sieglinde

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  3. Wieder ein neues Fenster aufgestossen, liebe Astrid, vielen Dank! Ich hatte bislang noch nie etwas von Ella Maillart gehört. Was für ein spannendes Leben, anstrengend, nicht ungefährlich und sehr abenteuerlich.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Wieder ein tolles und informatives Portrait. Ganz herzlichen Dank! Die great women sind immer ein Highlight der Woche.
    Ein wunderbares Buch, das in der Mongolei ungefähr in der Zeit spielt: Fritz Mühlenweg, Großer Tiger und Christian (auch unter "In geheimer Mission durch die Wüste Gobi" erschienen). Vom komischen Titel nicht abhalten lassen. Ein großartiges Buch!
    Liebe Grüße
    Marion

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  5. Gestern Abend schon begeistert gelesen, aber am Handy... Nun nochmal, rückwärts von den zauberhaften Freitagsblümchen. Eine begeisternde Frau, und wer weiß, wäre ich allen geblieben, wäre ich vielleicht auch eine Reisende, Wandernde... Es juckt mich immer noch. Hab Dank, auch für das süße Extra. Rs kommt auf den Familientisch am 4. Advent. Liebe Grüße Ghislana

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  6. wow
    was für eine Biografie ..
    eine Frau die immer ihrem eigenen "Wesen" nach ging
    und nur das tat was ihr behagte..
    großartig was sie geleistet hat

    danke für die Biografie

    Rosi

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  7. Liebe Astrid,
    was für ein spannendes, entbehrungsreiches und abenteuerliches Leben - beeindruckend, dass sie es erfüllend empfand, ihre Sehnsucht in die Ferne zu reisen kraftvoll und engagiert zu leben.
    Danke dir für diese Biografie...leider fehlt mir im Moment Zeit und Muße in die tollen Lebenswege deiner porträtierten Frauen einzutauchen.
    Einen lieben Gruß, Marita

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  8. Liebe Astrid,
    wieder eine schöne Samstagsleküre. Deine Frauenbiografien sind interessant und informativ und sehr kurzweilig zu lesen. Vielen Dank.
    LG
    Agnes

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  9. das leben von ella maillart hat mich sehr fasziniert, bin ich selbst doch so gar keine große reisende. was für eine frau! leider war sie mir bis heute gänzlich unbekannt.
    liebe grüße
    mano

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  10. so lernt man Namen und Menschen und deren Lebensgeschichten kennen die auf ihre ganz eigene Art einzigartig sind...
    im Leben verweilen, nun, das hat sie sicher nicht getan sondern war immer unterwegs zu neuen Ufern, neuen Eindrücken, dem Alltag entflieghen und lernenv was neu auf dieser welt ist.
    Großartig zu lesen, großartig diese Frau die keine Strapaze scheute um immer wieder neu zu erkunden wohin sie selbst auf der Suche war.
    Faszinierend und eine große Reisende der damaligen Zeit..
    herzlichst ein Danke fürs lesen...
    angelface

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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