Donnerstag, 10. Oktober 2019

Great Women # 196: Peggy Parnass

Was habe ich ihre Gerichtsreportagen in den 1970er Jahren geliebt und mir deshalb diese Zeitschrift von einem Freund ausgeliehen oder mal gekauft, in der sie erschienen ( und nur wegen ihr, die nackten Mädchen, die wohl ein Kaufargument waren, gingen mir auf den Senkel). Das Polemische, Unduldsame, aber auch ihr Witz und ihre humanistische Haltung haben mir als junge Frau imponiert, und ihre Art radikal und subjektiv zu schreiben beeinflussten meine eigenen damaligen journalistischen Versuche. Heute ist sie eine alte Dame von neunzig Jahren und hat immer noch die Seele von einst: Peggy Parnass ist meine heutige Great Woman.

"Ich will mitten drin sein, 
genau hinsehen, 
Partei ergreifen. 
Nicht in der Distanz erfrieren." 

"Ich interessiere 
mich für alles, 
was mit Menschen zu tun hat, 
Gefühle jeder Art, 
Zustände jeder Art!"


Ruth Peggy Sophie Parnass kommt am 11. Oktober in Hamburg zur Welt, so viel ist klar. Geeinigt hat man sich bei Wikipedia auf das Jahr 1934, gemunkelt wird, es könne auch 1929 gewesen sein, oder 1928 oder gar 1927, so dass morgen ihr zweiundneunzigster Geburtstag zu begehen wäre...

Hertha & Simon Parnass
Ihre Eltern sind die Hamburgerin Hertha Emanuel und ihr 27 Jahre älterer Ehemann Simon "Pudl" Parnass, aus Tarnopol in Galizien ( heute Ukraine ) stammend, aber schon Ende des 19. Jahrhunderts nach Deutschland gekommen. Im Ersten Weltkrieg hat er sogar als Soldat für den Kaiser gekämpft, bis zu einer Lungenquetschung im Schützengraben. Natürlich erhält er deshalb blecherne Auszeichnungen, an die sich die Tochter später erinnern wird - welches Kind findet so was nicht faszinierend? Bei der übernächsten Herrschaft in Deutschland ist das alles nichts mehr wert und es wird ihm nichts nützen, dass er die Orden aus dem Ersten Weltkrieg vorzeigt....

Von Beruf ist er Auktionator, bis ihm als Jude das unter den Nazis verboten wird und er im Hafen sein Auskommen suchen muss. Peggy erinnert sich aber vor allem an eine andere Seite ihres Vaters, nämlich dass er ein Spieler, ein Zocker, gewesen ist, der ungefähr einmal in der Woche geschworen hat, nie wieder zu spielen. 
"Er war klein, schlank, mit vielen schwarzen Locken. Und einem eleganten Schnurrbart. Nicht wie Hitler, sondern die ganze Mundlänge entlang. Ein sehr schöner Mann und ein schönes schmales Gesicht mit hoher Stirn und lachenden Augen. Fast dreißig Jahre älter als Mutti. Ein Junge mit immer neuen Albereien im Kopf. Bunt und abenteuerlich. Immer zu Faxen aufgelegt. Die Hän­de so schlank und sensibel, daß sie auf ganz andere Instrumente als Karten schließen ließen. Aber er war total unmusikalisch. Sang herzzerreißend falsch." ( Quelle hier )
 Noch mehr hängt Peggy an der Mutter:
"Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an meine Mutter. Sie war klein, sie hat eine ganz duftende Haut gehabt, weil sie sich jeden Tag nackt von Kopf bis Fuß im Handstein in der Küche wusch. Wir waren sehr arm, so dass es nur in der Küche fließendes kaltes Wasser gab. Obwohl sie so abgearbeitet war, hatte sie Hände wie Lilien, weil sie sich immer mit Vaseline einschmierte. Und wenn ich besonders brav war, durfte ich immer bei ihr schlafen."
So poetisch das alles klingt, die Kindheit der Peggy Parnass, ab 1935 in der Eimsbütteler Methfesselstraße, ist alles andere als heil und idyllisch: "Solang ich denken kann, waren sie unentwegt in Panik, in Todesangst. Sie wussten ja, was auf sie zukam." Nach der Machtübernahme versuchen Peggys Eltern vergeblich, Deutschland zu verlassen, aber all ihre Anträge werden abgelehnt. Den chronisch lungenkranken Vater will keiner haben, und an finanziellen Mitteln fehlt es der Familie auch. Sie muss sogar von der Wohlfahrt der Jüdischen Gemeinde unterstützt werden.
"Ich konnte mit fünf Jahren schon lesen und da gab es den "Stürmer", da waren überall an jeder Straßenecke , hinter Glas, furchtbare Karikaturen mit Warnungen vor uns: Juden, die Kinder fressen und solche absurdesten Dinge, die aber für wahr gehalten wurden von der Bevölkerung. Und wir durften nichts, überall waren große Schilder. " ( Quelle hier )
Irgendwann wird die ganze Familie verhaftet und mit anderen Juden auf einem Viehwagen durch die Stadt gefahren. Der Vater zu Peggy: "Stell dich mal ganz nach außen. Die sollen sehen, was hier mit Kindern geschieht." Peggy registriert das Lachen der Leute und ihr ist die Situation peinlich. Sie selbst kann die Turnhalle, in der sie anschließend untergebracht werden, mit viel Glück und Chuzpe verlassen und sich zu ihrer Cousine Urselchen flüchten. Den Vater sieht sie nie mehr wieder: Im Zuge der sogenannten "Polenaktion" im Oktober 1938 wird der Staatenlose nach Zbaszyn in Polen abgeschoben.

Transporte jüdischer Kinder ins Ausland
fanden ab dem 30. November 1938 bis zum Kriegsbeginn 1939 statt
Anfang 1939 nutzt die Mutter die Chance, ihre Kinder zu retten, und setzt Peggy und ihren vierjährigen Bruder Gerd Hans Ludwig (  "Bübchen", später "Gady" ) auf dem Hamburger Bahnhof in einen Kindertransport nach Schweden, der von der jüdischen Hamburger Bankiersfamilie Warburg organisiert worden ist. Sie lässt die Kinder in dem Glauben, auf eine Urlaubsreise zu gehen, und stellt in Aussicht, in einem halben Jahr nachzukommen: 

"Obwohl sie wusste, dass sie uns nie wiedersieht, stand sie da und hat gelacht, ihr herrliches Lachen mit weit aufgerissenem Mund  und gewinkt, so lange wir sie sehen konnten."

Dem Vater gelingt es später, heimlich nach Hamburg zurückzukehren, um seine Frau zu holen und mit ihr nach Polen auszureisen. Dort leben sie erst in Krakau und später im Warschauer Ghetto. Peggy erinnert sich an ihre Eltern als ein sich leidenschaftlich liebendes Paar.

Die Geschwister werden nach der ersten gemeinsamen Pflegefamilie getrennt, was Gady zu einem Hungerstreik veranlasst und ihm die Sprache verschlägt. Peggy selbst wird im Verlaufe der nächsten Jahre in zwölf wechselnden Familien und Institutionen untergebracht, alles jüdische Familien mit einer Ausnahme: Der Cousin der "Reichswasserleiche" Kristina Söderbaum, ein begeisterter Nazi, bei dessen Familie Peggy wohnt, als sie vom Tod der Eltern im KZ Treblinka durch einem Brief erfährt. Kommentar: "Freu dich doch, zwei Juden weniger!"

Als liebevoll erfährt sie auch die anderen Familien nicht, aber sie - so in der Rückschau - ist auch eine echte widerspenstige Kratzbürste, denn das Einzige, was sie will, sind ihre eigenen Eltern. "Ich war ein permanenter Aufruhr." Am übelsten nimmt sie den fremden Erwachsenen, dass sie so tun, als könnten sie den Platz ihrer Mutter einnehmen.

Gady trifft es auch nicht besser, der fünf Jahre in einem katholischen Waisenhaus ausharren muss. Alle zwei Wochen darf Peggy ihn am Sonntag besuchen. Aber ob sie wirklich zu ihm gelassen wird, hängt von der Frau an der Tür ab, einem "Satansweib":
"Ich bin immer in den vierten Stock raufgerast und da stand sie dann riesengroß und stumm und guckte böse auf mich und dann irgendwann, nach langer Zeit, hat sie immer das Gleiche gefragt: Was willst Du hier? Ich habe immer gesagt: „Ich will zu meinem Bruder.“ Und dann war diese lange, lange Pause und ich wusste nie: Sagt sie: „Komm rein“, oder sagte sie: „Geht nicht“. „Ja, warum nicht?“ „Er ist krank“ oder „Er ist nicht da.“ Aber ich konnte ihn ja sehen, klitzeklein hinter ihr, er hat geweint und meinen Namen gerufen. Und sie konnte dann entscheiden. Und dann haben wir uns aneinander geklammert und er hat mir alles anvertraut, was inzwischen gewesen war. (... ) Es war furchtbar. Er bekam immer Schläge, für alles, was ich machte." ( Quelle hier )
Ihr Vormund in Stockholm ist dem rebellischen Mädchen nicht gewachsen, scheint aber auch kein Pädagogentalent gewesen zu sein, denn irgendwann nimmt er Peggy den Karton mit den fünf Postkarten der Eltern aus dem Ghetto, geschrieben vor ihrer Deportation, allen Fotos und sonstigen Briefen ab und verbrennt ihn: "Du wirst trübsinnig", meint er.

Von Schweden aus gelangen die Geschwister nach sechs Jahren über Schottland nach London zu einem Onkel, dem einzigen Überlebenden der zwölf Geschwister ihres Vaters. Drei Jahre bleibt sie dort, verdient ihr Geld mit Sprachunterricht - sie hat mit Auszeichnung ein Cambridge - Examen in Englisch bestanden, aber schon in Stockholm die Sprache gelernt durch eine bei ihrem Vormund angestellte junge Engländerin.

Da staaten- und rechtlos geht Peggy wieder nach Stockholm zurück, wo sie sich die schwedische Staatsbürgerschaft erhofft, was aber nach einer Gesetzesänderung nun erst nach zehn Jahren Aufenthalt im Land möglich ist. Durch eine Scheinehe mit einem Kollegen von der Zeitung, für die sie Filmkritiken verfasst, gelingt es ihr dann doch noch. Auch ihr Sohn Kim wird 1951 in Stockholm geboren und ist schwedischer Staatsbürger. Weniger kompliziert wird ihr Leben dadurch nicht, denn der "Ehemann" will dann jahrelang nichts von einer Scheidung wissen und darf sich von Rechts wegen in ihr Leben einmischen, was ihre Reisern und Auslandsaufenthalte anbelangt. Zwischenzeitlich lebt sie nämlich auch in Paris.

Bei einem Zwischenstopp in Hamburg, zu Besuch bei ihrer Cousine Urselchen, begleitet sie diese zur Universität und bleibt in der Stadt hängen: An der Uni findet sie "lauter dufte Leute, alles Linke und Antifaschisten", unter denen sie sich wohl fühlt. Mit dreien von ihnen - dem Dichter Peter Rühmkorf, Klaus Rainer Röhl, dem späteren Konkret- Herausgeber, und Dick Busse - lebt sie alsbald in einer Wohngemeinschaft in zwei Zimmern einer Baracke in Lokstedt und gehört zu ihrer Kabarettgruppe "Die Pestbeule".

Mit Hilfe der Schauspiellehrerin Margot Höpfner macht sie in zwölf Tagen eine Schauspielausbildung, legt eine Prüfung ab und bekommt ab 1965 ein paar Jahre immer wieder Rollen beim Fernsehen und im Film als exotische Schönheit. Aber auch als Dolmetscherin für die Polizei verdient sie ihren Lebensunterhalt.

Damals - eigentlich überzeugte Atheistin - tritt sie auch in die in Hamburg bestehende Jüdische Gemeinde und in die IDK ein, die Internationale der Kriegsdienstverweigerer, und kommt so zu den Ostermärschen: Proteste gegen die Wiederbewaffnung und Atomwaffen.

"Es war eine sehr, sehr gute Zeit, weil wir alle die Illusion hatten, die Welt verändern zu können." Aktiv wird sie auch, "weil es der Selbstrespekt verlangt, den Versuch zu machen, etwas zu bewegen."

Eigentlich will sie als Schauspielerin "gern weltberühmt" werden und wird viel von Feuilletonisten interviewt. Die nervt sie aber immer wieder damit, sie sollten doch richtig wichtige Reportagen machen, zum Beispiel über die NS-Prozesse.

Irgendwann bekommt sie die Antwort: "... wenn’s dir so wichtig ist, geh doch selber hin!" Die "Frankfurter Rundschau" räumt ihr tatsächlich die Möglichkeit ein. Peggy merkt aber schnell, dass ihre Art der Berichterstattung nicht gewollt wird. Also beginnt sie für die (Monats-) Zeitschrift "Konkret" zu schreiben, die von ihrem alten Freund Klaus Rainer Röhl 1957 gegründet worden ist.

1971
CC BY-NC-SA 2.0


Der erste Prozess, den sie verfolgt, ist der gegen René Durand, der das "Salambo" auf der Reeperbahn betreibt, NS - Prozesse finden erst einmal nicht statt. Insgesamt drei wird sie dann während ihrer Zeit als Gerichtsreporterin mitverfolgen und darüber schreiben: Über die Täter, nach wie vor geachtet und respektiert, in einer guten physischen Verfassung, was sie von ihren Opfern deutlich unterscheidet. Die sind körperlich und seelisch vernichtet und weinen vor Gericht. Das Zeigen einer solchen Erschütterung aufgrund die Erinnerung ist in der Öffentlichkeit verpönt. Sie sollen es mit sich alleine abmachen, geht Peggy auf. "Die Zeugen waren kaputt, die Täter nicht. Entsprechend wurden sie vor Gericht behandelt." Die Angeklagten werden von den Gerichtsdienern, Polizisten, Richtern nämlich regelrecht hofiert.

Ludwig Hahn, dem höchsten Gestapo-Mann in Polen, mitverantwortlich für die endgültige Räumung des Warschauer Ghettos und für 300 000 Morde und damit auch für den Tod ihrer Eltern, kriecht der Richter beim Prozess immer wieder in den Allerwertesten: "Entschuldigen Sie, Herr Doktor, dass ich Sie das alles fragen muss."

Der Hermine Braunsteiner - Ryan - von ihren Opfern als "Stute" oder "Schindmähre" genannt - rückt Peggy Parnass im Majdanek - Prozess 1981 regelrecht auf die Pelle:
"Ich will die sehen, von Angesicht zu Angesicht! Ich will die sehen! Diese Frau, von Ehrgeiz zerfressen, dieses Arbeiterkind, das mit seinen eisenbeschlagenen Schaftstiefeln hilflose Frauen tottrampelte. (…) Ich gehe in die Hocke vor ihr. Nichts. Die Verteidiger sind wachsam. Was befürchten sie? Ich hab keine Kugeln im Kugelschreiber. Leider?" ( Quelle hier )
Ihr Gerechtigkeitsempfinden ist geradezu existenziell, und sie stellt sich den Tatsachen bis zur eigenen Verwundbarkeit. Das geht manchen in der Republik ordentlich auf die Nerven, und sie erhält immer wieder Morddrohungen.

In anderen Gerichtsreportagen stehen nie die Großen und Bekannten im Mittelpunkt, sondern die Entgleisten, die Mörderischen, die Wütenden und die in der Tat prekär lebenden Menschen. Peggy nimmt sie sozusagen in Obhut – "auf dass das gebildete linke Volk überhaupt mal erfährt, für wessen Befreiung es sich verwandte", so die TAZ hier. Ihr geht es auch immer wieder so, wenn sie an den Angeklagten vorbeigeht, dass sie denkt: "Reiner Zufall, daß ich nicht dort sitze."

1979 bringt der Zweitausendeins - Verlag diese ergreifenden, wahrhaftigen, distanzlosen Geschichten aus den Jahren 1970-78 in einem Buch heraus. Es macht sie im ganzen Land bekannt und zu einer Kultfigur. Sechzehn Auflagen wird es erfahren. 17 Jahre wird sie der Gerichtsreportage übrigens treu bleiben.

1979 wird ihr der Joseph-Drexel-Preis der gleichnamigen Stiftung für hervorragende Leistungen im Journalismus verliehen, im Jahr darauf der Fritz - Bauer - Preis der Humanistischen Union, der ihr besonders wichtig ist. 1982 gewinnt sie zusammen mit ihrem Kollegen Axel Engsfeldt den Bundesfilmpreis für ihren Film "Von Richtern und anderen Sympathisanten" ( hier ist ein Ausschnitt zu sehen, Peggy Parnass ab 1:20 min )

Über ihre Kindheit spricht Peggy Parnass lange nicht. Im Buch "Unter der Haut" erzählt sie (1983) dann ihre Geschichte. Drei Monate geht es ihr schlecht, als sie die Erinnerungen an ihre von den Nationalsozialisten ermordeten Eltern zum ersten Mal aufschreibt. 1985 folgt das Buch "Kleine radikale Minderheit", 1990 "Süchtig nach Leben" und 1993 "Mut und Leidenschaft" -  fast alle ihre Bücher werden Bestseller. Sie macht damit ihr Leben öffentlich, "umgestülpt wie einen Handschuh - von innen nach außen" schreibt Sabine Knappe im Hamburger Abendblatt.

Arbeit steht für Peggy Parnass immer an oberer Stelle, aber im Sinne des Kampfes für die gute Sache. Sie will etwas bewegen, und Wut sei eine ihrer Antriebsfedern, sagt Georg Stefan Troller, der Freund, über sie. Als Aktivistin setzt sie sich für Schwule ein, unterstützt die Frauenbewegung ( als die Debatte um den Paragraphen 218 einen Höhepunkt in den 1970er Jahren erreicht, gehört sie zu den ersten Frauen, die sich selbst anzeigen ).

In den nächsten Jahren ist sie immer häufiger Gast im Fernsehen und auf den Podien. Auch die Schauspielerei gehört wieder irgendwie zu ihrem Leben. Nach "Panische Zeiten" von Udo Lindenberg (1980) und "Der Beginn aller Schrecken ist Liebe"von Helke Sander steht sie 1994 für Doris Dörrie vor der Kamera in "Keiner liebt mich". Sie tritt auf großen Bühnen auf, aber ebenso in kleinen Buchhandlungen mit ihren Lesungen, sie geht in Schulen und stellt sich auch da den Fragen, immer ist sie offen und unkompliziert. Die Illusion etwas ändern zu können, verliert sie allerdings im Laufe der Jahrzehnte: "Ich hatte die Illusion, dass man nur deutlich sein muss."

Mit dem Begriff Heimat - für mich nachvollziehbar - hat Peggy Parnass so ihre Schwierigkeiten: "Wenn ich sage, ich lebe gern in Hamburg, meine ich in Wirklichkeit: Ich liebe das Leben mit meinen Freunden in St. Georg." Dort wohnt sie in einer "Mischung aus Museum und überdimensionalem Zettelkasten". An den grünen Wänden tummeln sich Fotos von Personen, die die Kultur- und Mediengeschichte der Bundesrepublik geprägt haben, hängen Erinnerungsstücke:

© Hendrik Lüders Hamburg
mit freundlicher Genehmigung 

Dort engagiert sich sich für sozial Schwache, gegen Missstände, Mietwucher und schätzt die Nachbarschaft. Für ihre künstlerischen-  kulturellen Leistungen um Hamburg wird ihr 1998 die Biermann-Ratjen-Medaille und 2012 der Goldene Drachen, ein Wanderpokal in Drachenform,  ihres Wohnviertels überreicht.

Davor hat sie auch - 2008 - bei einem Abendessen im kleinen Kreis in Hamburg das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen, an dem auch der Autor Ralph Giordano teilgenommen hat. Der und der Pariser Freund Troller haben sie überzeugt, es anzunehmen. Sie selbst findet, es passe eigentlich nicht zu ihr.

Mit den beiden Männern verbindet sie die gemeinsame Kindheitserfahrung. Sie haben wie Peggy nie verwinden können, "dass sie als Kinder ausgegrenzt wurden, dass ihre besten Freunde sagten: 'Mit dir nicht!' Die ganze Lebensleistung hat diese tief gehenden Verletzungen in keiner Weise auslöschen können."Auch mit dem wunderbaren Schriftsteller Peter Weiss, als Kind ebenfalls nach Stockholm vertrieben, teilt sie dieses Erlebnis der Ausgrenzung.

Überhaupt Freunde: Die sind dauerhaft in ihrem Leben geblieben, anders als die Männer, mit denen sie Liebesbeziehungen gehabt hat. Liebe ist für sie lebenslang ein Schlachtfeld gewesen:
"Immer wieder will ich, was nicht zu haben ist - die Beständigkeit der Raserei."... "Ich bin liebessüchtig. Und was es an Liebe gab, das ist danach nie wieder irgendwo hergekommen. Ich hab mich immer in Liebesgeschichten gestürzt. Kopfüber rein, drauflos gelebt, hab nach der Liebe gejagt. Das kann nicht glücklich machen." ( Quelle hier )
Sie lebt einfach wahnsinnig gerne und "drauf los" - bis zum heutigen Tage. Und sie lebt ganz bewusst in Deutschland, denn Alternativen sieht sie, die herumgekommen ist, keine: "Ich habe als Kind gedacht, wenn man Deutschland platt machen würde, wäre die Welt in Ordnung. Als ich in anderen Ländern gelebt habe, habe ich sehen können, wie viele aus anderen Ländern mitgemacht haben.

Seit 2017 gibt es eine Filmcollage von Jürgen Kinter & Gerhard Brockmann - "Überstunden an Leben" - über Peggy Parnass für das Hamburger Medienpädagogik-Zentrum (MPZ). Die enthält noch weitere Aspekte des reichen Lebens dieser ungewöhnlichen Frau, der ich noch viele, viele Jahre zum morgigen Geburtstag wünsche!





12 Kommentare:

  1. Guten Morgen Astrid,
    wir Kinder aus den 50ern und weiter kennen sie, denn sie war in aller Munde und gerade heute bin ich sehr niedergeschlagen, denn war passiert ist, das lässt einen nicht los.
    Peggys Eltern sind im Vernichtungslager Treblinka ums Leben gekommen und, wenn das so Jemand daher kommt und den Holocoust leugnet...!
    Die AfD bezeichnet den Holocoust als "Vogelschiss" der Geschichte und das ist ein Angriff auf die Demokratie.
    Wo war die Polizei, wo ist die Polizei in Stuttgart an der Synagoge?
    Auch am höchsten Feiertag der Juden?

    Danke wieder ein guter Bericht über eine erstaunliche Frau.
    Lieben Gruß Eva

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Astrid,
    ich LIEEEEEBE Peggy!!!! Danke, dass du sie vorgestellt hast.
    Lass dich ganz fest drücken.
    Liebste Grüße
    Elisabeth

    AntwortenLöschen
  3. eine starke Frau
    ich kannte sie nicht
    aber beeindruckend wie sie sich durchgekämpft hat
    ja .. das Augerenzt sein.. das kennen wir beide auch oder??
    "Flüchtlingskind".. nicht so extrem wie "Judenkind" aber auch prägend
    wie krank doch manche Menschen im Kopf sind
    und wie anfällig für Propaganda
    immer noch
    danke für das Portrait
    liebe Grüße
    Rosi

    AntwortenLöschen
  4. Liebe Astrid,
    Danke für diese wunderbare und sehr interessante Vorstellung.
    Lieben Gruß
    moni

    AntwortenLöschen
  5. Gerade heute trifft diese erschütternde Lebensgeschichte der großartigenn Peggy Parnass mich ganz besonders. Kürzlich war ich kulturell unterwegs in Halle und ich hoffe, dass diese Stadt aufsteht gegen diese Gesinnung. Es reicht!
    Peggy Parnass, der furchtlosen Zeitzeugin, wünsche ich noch ein langes Leben in Würde und Gesundheit und alles Gute zu ihrem Geburtstag.
    Danke Dir, liebe Astrid, für ihr Portrait hier,
    Sieglinde

    AntwortenLöschen
  6. von Helga:

    Liebe Astrid,

    was für ein wunderbarer, einfühlsamer Bericht. Danke, der Name war schon irgendwie bekannt, aber näheres wußte ich nicht über sie.
    Eine einsame kalte Wasserstelle hatten wir auch, überhaupt ist mir vieles in Erinnerung, denn die Zeit war damals so. Heute müßen wir höllisch aufpassen, daß sich das braune Gesockse nicht wieder von hinten einschleicht. Man müßte vieles nicht zulaßen, im Vorfeld eindämmen. Warum sind wir nur so von Schuld geplagt, andere Länder haben keine Skrupel unschuldige Menschen und Kinder das Leben zunehmen. Warum läßt der Erdogan die Kurden nicht leben. Sie wollen doch auch nur leben.
    Werden wir denn nie mit der Vergangenheit fertig, die jetzige Zeit ist auch keinen Deut besser. Vor der Zukunft kann einem bange werden, was erwartet wohl unsere Enkelkinder und Urenkel noch?

    Nachdenkliche Grüße von der Helga

    AntwortenLöschen
  7. So eine tolle Frau! Jahrelang habe ich mich mit den Karrieren der braven Nazibürger beschäftigt. Gerade die Reportagen vom Majdanek-Prozess waren so wichtig.
    LG
    Magdalena

    AntwortenLöschen
  8. Mir ist sie kein Begriff, interessante Frau. Erschreckend das Leben und bewundernswert. Vielen Dank.

    AntwortenLöschen
  9. Danke, für diese (prompt zeitlich so passende,) sehr schöne Reportage über eine wahnsinnig tolle Frau!
    Das Foto in ihrer Bibliothek (sag ich Mal so, denn wunderbar, wie viel an Büchern und Bildern dort um sie herum sind) ist ganz besonders, sieht man ihr dort doch ihr Leben an, mit diesem strahlenden Lächeln.
    Liebe Grüße
    Nina

    AntwortenLöschen
  10. peggy parnass gehörte über einen sehr langen zeitraum zu unserer politischen entwicklung dazu. r. hatte die konkret viele jahre abonniert... jetzt habe ich lange nichts mehr von ihr gehört, umso mehr freue ich mich über deinen bericht und über viele details über sie, die ich noch nicht kannte. ich hoffe sehr, dass es ihr gut geht und sie ihren geburtstag mit freunden feiern kann.
    liebe grüße
    mano

    AntwortenLöschen
  11. Ich habe sie wohl damals nur am Rande und "von drüben" aus wahrgenommen, und freue mich jetzt hier bei dir soviel mehr über sie zu erfahren. Und wie dieser Post in diese Woche passt. Mir fehlen zz. immer mehr die Worte nach außen. Ich fühle mich so müde. Also weiter, im Kleinen wenigstens. Und die Zuversicht behalten. Liebe Grüße an dich und euch, mit lächelndem Blick auf dein bezauberndes Begrüßungsblumenkörbchen am Eingang - Ghislana

    AntwortenLöschen
  12. Wieder so spannend und wichtig!!
    Liebe Grüße
    Andrea

    AntwortenLöschen

Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

Mit dem Abschicken deines Kommentars akzeptierst du, dass dieser und die personenbezogenen Daten, die mit ihm verbunden sind (z.B. User- oder Klarname, verknüpftes Profil auf Google/ Wordpress) an Google-Server übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhältst du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.