Donnerstag, 3. Januar 2019

Great Women # 166: Elise Ottesen-Jensen


In meiner Jugend in den 1960er Jahren habe ich noch erlebt, wie Mädchen von ihren Familien gedrängt wurden, eine ungeplante Schwangerschaft durch eine Ehe oder Adoption "in Ordnung" zu bringen. Zwecks Abschreckung wurde in meiner Schule der offene Umgang der Skandinavier, insbesondere der jungen Schweden, mit der Sexualität, immer wieder in schwärzesten Farben gemalt. Umso erstaunter war ich, als ich erfuhr, dass diese Offenheit auch dort noch ein sehr junge Errungenschaft war und vor dem Krieg ähnliche Anschauungen & Verhaltensweisen wie in der muffigen Bundesrepublik vorherrschten. ( Der Film "Astrid" über die Jugend meiner berühmten, geschätzten Namensvetterin greift übrigens diese historischen Tatsachen auf. ) Ich selbst war durch einen anderen Film zuvor auf eine Frau aufmerksam geworden, die maßgeblich für die fortschrittliche Entwicklung in Schweden verantwortlich war: Elise Ottesen- Jensen.



"Ich träume von dem Tag, 
an dem jedes neugeborene Kind willkommen ist, 
wenn Männer und Frauen gleich sind 
und wenn Sexualität Ausdruck 
von Intimität, Freude und Zärtlichkeit ist."
Elise Ottesen - Jensen

Elise Ottesen kommt am 2. Januar 1886 als 17. von insgesamt achtzehn Kindern des Pfarrers Immanuel Ottesen und seiner Ehefrau Karen Ursula Essendrop, Tochter eines anerkannten Bischofs in Tromsø, in der Gemeinde Høyland bei Stavanger in Norwegen zur Welt.

Von der großen Kinderschar der Ottensens werden nur elf das Kleinkindalter überleben. Über ihre Mutter wird Ottar, wie sie später genannt werden wird, schreiben: "Mutters Körper sah aus wie eine perforierte Landschaft. Sie hatte Risse am ganzen Körper nach ihren 18 Schwangerschaften. Nur einmal sah ich sie nackt und danach weinte ich."

Über ihre Kindheit an der westnorwegischen Küste wird sie später schwärmen, besonders von der Schönheit der Natur mit den von violetter Heide bedeckten Mooren. Elises Eltern gelten in jenen Tagen sogar als relativ liberal, weil sie ihre Kinder zu Tanzvergnügen gehen lassen, tendieren die Norweger doch generell dazu, solch unschuldige Vergnügungen als sündig anzusehen, so pietistisch und voller Schuldgefühl, wie sie damals sind. 

In der Pubertät beginnt das Mädchen, die religiösen Dogmen & Anschauungen des Vaters in Frage zu stellen und betrachtet sich nicht mehr als Christin. Es entwickelt sich bei ihr eine Einsicht, dass der rigide Moralismus der Religion und die konservative Lebensführung besonders hart den Frauen zusetzt und schadet. Ein dramatisches Ereignis in der eigenen Familie führt dem jungen Mädchen die Folgen fehlender Sexualaufklärung und die unmenschliche Unterdrückung der Frauen plakativ vor Augen:

Als ihre jüngere Schwester Magnhild schwanger wird, schickt der Vater diese, in der Hoffnung, die Schande der Familie vertuschen zu können, nach Dänemark. Dort soll sie bis zur Geburt bleiben und ihr Kind zurücklassen. Magnhild weiß nichts über Schwangerschaft und Geburt und fürchtet sich die ganze Zeit davor, dass ihr Bauch aufplatzen würde, denn sie hört die Schreie der anderen Frauen unter der Geburt, erfährt aber nicht, was da gerade abläuft. Bei ihrer Rückkehr nach Norwegen bleibt die gesellschaftliche Ächtung doch nicht aus, und der ­jungen Frau bleibt ihr Traum von einer Krankenschwesterausbildung verwehrt. Schließlich landet sie in einer Anstalt für psychisch Kranke. Dort verbringt sie ihre Zeit mit dem Nähen von Babykleidung und verwindet den Verlust ihres Babys niemals, bis sie sich 1934 als 44jährige das Leben nimmt.

Elise kann das ihrem Vater niemals vergeben, und das Schicksal ihrer Schwester wird in Zukunft eine mächtige Triebfeder für ihr Engagement für die Sache der Frauen sein.

Auch ihr Wunsch, Ärztin zu werden, scheitert, allerdings an den begrenzten finanziellen Möglichkeiten der Familie. Und die Alternative - ein Studium der Zahnmedizin -  macht eine Explosion im Chemielabor ihrer Highschool zunichte, bei der sie drei ihrer Finger verletzt bzw. verliert. Der sonst so konservative Immanuel Ottesen drängt seine Tochter, sich trotz alledem einen ordentlichen Beruf zuzulegen und für sich einen Weg in eine selbständige Zukunft zu suchen, auch wenn er eine solche ohne Gott nicht akzeptieren kann.

Eine kurze Zeit arbeitet Elise als Stenografin im nationalen Parlament und ist Sekretärin bei einem Konsul in Trondheim. 

1910

Dort verfolgt sie vor Gericht einen Militärskandal, bei dem es um den Missbrauch öffentlicher Gelder für private Vergnügungen geht. Vor dem Gerichtssaal macht sie die Bekanntschaft mit Håkan Löken, Redakteur der sozialistischen Zeitung "Nidaros", der ihre Sympathien für sozialistische Ideen gewinnt ( denen sie dann ihr ganzes restliches Leben treu bleiben wird ) und der sie ermutigt, ihren Ärger aufzuschreiben und ihr einen Platz in seiner Zeitung anbietet. So wird Elise Journalistin.

Ihre Überzeugung wächst, je mehr sie die politischen Verhältnisse in ihrem Land beobachtet & analysiert, und sie kommt zu dem Schluss, dass ihre Nation dringend soziale und wirtschaftliche Reformen nötig hat. Denn im Gegensatz zu den Skandinaviern der späteren Generationen, die vorbildliche sozialstaatliche Programme genießen können, die die sozialen Bedürfnisse von der Wiege bis zur Bahre bedienen, sind diese Länder Anfang des 20. Jahrhunderts von Armut und Rückständigkeit geprägt: Allein zwischen 1815 und 1939 sind 1.250.000 Schweden und 850.000 Norweger in die Vereinigten Staaten emigriert. Sie nähert sich also immer stärker den Anschauungen der Arbeiterbewegung SAC an:
"Ich wollte Gerechtigkeit. Ich wollte nicht, dass es jemand schlecht geht, während andere auf ihre Kosten faul sind. (...)  Als Kind hatte ich bereits meine Gedankenfreiheit teuer bezahlt, aber ich zweifelte nicht daran, dass die internationale Arbeiterbewegung der einzige Weg zum Frieden war.
Schon 1912 hat sie unter dem Pseudonym "Ottar" über die Olympischen Sommerspiele in Stockholm berichtet. Ihre Artikel über die Notwendigkeit einer Reform der schwedischen Abtreibungsgesetze wird sie mit eben diesem Namen später unterzeichnen. Ihr Engagement für die Rechte der Frauen, einschließlich des Wahlrechts, macht sie bald bekannt. Mit dem Thema Sexualität befasst sie sich journalistisch zum ersten Mal, als in Stavanger ein Mann, der ein zweijähriges Mädchen missbraucht und mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert hat, zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wird und in der Öffentlichkeit Forderung nach einer schwereren Bestrafung & Kastration erhoben werden. Elise schreibt in ihrer Zeitung, der "Arbeidet" in Bergen, solche Maßnahmen seien wirkungslos und der Staat solle besser eine Insel erwerben, auf der solche Sexualstraftäter isoliert in Landwirtschaft und Gartenbau für ihren Lebensunterhalt arbeiten sollen. Elise erntet dafür viel Spott und wird vielfach lächerlich gemacht.

Elise mit Albert Jensen
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1913 lernt Elise Albert Jensen kennen, einen bekannten schwedischen Syndikalisten aus Landskrona. Sie wird später über diese Beziehung sagen, dass es sowohl eine Liebesbeziehung als auch eine politische Schule gewesen ist.

Ein Jahr später verbringt sie mit ihm einen Urlaub in Dänemark in der Nähe der Schwester Magnhild und sie beschließen, zusammen zu wohnen, als der erste Weltkrieg ausbricht und Elise von ihrer Zeitung nach Bergen zurückgerufen wird.

Durch Albert kommt sie in Kontakt mit Hinke Bergegren, einem radikalen sozialdemokratischen Aktivisten, der sensibel genug für Frauenfragen ist, die freie Liebe propagiert und den Slogan "Love Without Babies" prägt. Die Realität in den Arbeiterfamilien jene Zeit ist nämlich gekennzeichnet von vielen Babys ohne jegliche elterliche Liebe...

1915 finden sie und Albert in Kopenhagen Zuflucht, nachdem dieser wegen "antimilitaristischer Agitation" von den norwegischen Behörden nach Schweden ausgewiesen worden ist, wo ihm aber auch die Vollstreckung einer Gefängnisstrafe droht. Im Oktober 1917 bekommt die 31jährige Elise dort selbst einen Sohn, der aber schon zwei Tage später stirbt. Da sie an Kindbettfieber über einen längeren Zeitraum erkrankt, kann sie anschließend keine weiteren Kinder mehr bekommen. 1919 werden sie aus Dänemark ausgewiesen und gehen gemeinsam nach Stockholm, wo sie für den Rest ihres Lebens zu Hause sein wird.

Mit Albert Jensen in der Redaktion von "Arbetaren" ( 1923 )
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In der Zeitung "Arbetaren" (Der Arbeiter) betreut sie die Ratgeber -Rubrik für Frauen. Zunächst befasst sie sich mit den Arbeiterfrauen und ihrem Kampf um das tägliche Brot, muss aber bald erkennen, dass Hausarbeit, Kinder und untreue, herumstreunende Männer das Leben der Frauen zu einer viel übleren Plage werden lassen - eine weitere Schlüsselerfahrung für ihre lebenslanges Engagement!

Die Frauen kommen nämlich immer mehr mit Problemen und Fragen zu ihr, die in erster Linie nicht mit dem sozialen Frieden oder gewerkschaftlicher Organisation zu tun haben, sondern mit ihren persönlichen, oft auch sexuellen Angelegenheiten. Elise versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, darunter solche wie: "Muss ich immer, wenn mein Mann es will?", "Was kann ich tun, um eine Schwangerschaft zu vermeiden?". Gerade die Frauen, die besonders arm sind, leben in ständiger Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft. Seit 1910 gibt es in Schweden aber ein Gesetz, dass schwere Strafen für die Abtreibungen vorsieht. Nach diesem Recht ist es auch illegal, Empfängnisverhütung und Informationen über Verhütung anzubieten, und die Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten ist strafbar. Selbst Ärzte dürfen über letztere keine Auskünfte geben. Frauen, die selber über die Zahl ihrer Kinder bestimmen wollen und sich über Verhütungsmöglichkeiten erkundigen, tritt also der Staat gegenüber und verbietet es ihnen - etwas, dass die Anarchistin in Elise schlecht akzeptieren kann.
"Die Sexualgesetze waren damals nicht nur typische Klassengesetze, sondern auch typische Sexualgesetze, die von den wohlhabenden Männern des Parlaments gegen die arbeitenden Frauen geschaffen wurden !", schreibt Elise 1965 hier.
Nach ihrer Ansicht sind ausreichende Informationen und Bildungsangebote der einzige Weg, die Lage der Frauen zu verändern. Da das Diaphragma und der Schwamm, von Marie Stopes in England eingeführt, nach dem Ersten Weltkrieg immer häufiger benutzt werden, sucht sie einen schwedischen Arzt, der bereit ist, mit ihr zusammenzuarbeiten, damit sie Frauen besser beraten & helfen kann.

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1923 veröffentlicht sie ihren ersten Artikel über das Bedürfnis von Eltern, auf ehrliche Art und Weise Fragen zu beantworten, die ihnen ihre Kinder zur Sexualität stellen. Später führt ihr tabuloser Umgang mit dem Thema Sexualität zu Konflikten mit dem männerdominierten Blatt "Arbetaren", und Elise gründet 1925 ihre eigene Zeitung "Vi kvinnor" ( "Wir Frauen" ). Von den rund 300 Artikeln, die sie in den 1920er Jahren verfasst, beschäftigen sich etwa 60 mit sexuellen Themen.

Viele ihrer Freunde in Stockholm - Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter - sind wie sie überzeugt, dass die Familiengröße beschränkt gehört sowie von der Notwendigkeit, Sexualerziehung in der Schule anzubieten. Elise selbst beginnt ebenfalls zu unterrichten und alsbald landauf, landab Vorträge zu halten, für die mit im Voraus verschickten Plakaten geworben wird.

An vielen Orten führt sie getrennte Veranstaltungen für Frauen und Männer durch, um so sensible Themen besser ansprechen zu können, in Zelten, Waldhainen, auf Wiesen, in Dorfhallen oder in gemieteten Räumen vor provisorischen Stuhlreihen, auch zu großen Gruppen von Menschen:

Feld-, Wald- und Wiesen - Vortrag mit Elise (links)
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Sie informiert die Menschen über Diaphragmen, Kondome und Pessare und gibt ihnen die Möglichkeit, sie zu erwerben. Sie informiert über sexuell übertragbare Krankheiten und dem Schutz vor diesen, sie informiert über neu entwickelte Schwangerschaftstests und spricht offen über solch kritische Themen wie Vergewaltigung in der Ehe, Abtreibung und Homosexualität. Unermüdlich bringt sie ihre Botschaft besonders den Frauen im ländlichen Schweden und reist mit ihrem Ford quer durchs Land. Früher oder später ist sie praktisch in jeder schwedischen Stadt und jedem schwedischen Dorf gewesen. Viele dieser abgelegenen und verarmten Gebiete sind das, was man nach dem 2. Weltkrieg als "unterentwickelte Regionen" bezeichnen wird. Da Elise eine charismatische Rednerin ist, erreicht sie ihre Zuhörerschaft nachhaltig. Ihre Botschaft verbreitet sie auch über verständlich geschriebene Flugblättern, z.B. 1926 zum Thema "Unerwünschte Kinder".

Natürlich schlägt einer solchen Person mit einer solchen Mission Misstrauen, Widerstand und Kritik vonseiten der Kirchen und/oder der örtlichen Polizei entgegen, für die die Erörterung der Sexualität in der Öffentlichkeit nach wie vor ein Tabubruch sondersgleichen ist bzw. eine Gesetzesübertretung darstellen. Geburtenkontrolle gilt als "unmoralisch" und als "sündiges" Verhalten begünstigend. Hin und wieder geht die Kritik auch über verbale Angriffe hinaus: So wird Elise einmal in Bergen ( Norwegen ) in einer Straßenbahn tätlich angegriffen.

Ende der 1920er Jahre erweitert Elise ihren Wirkungsbereich über Skandinavien hinaus und begegnet vielen der führenden Verfechter der Geburtenkontrolle weltweit bei einem internationalen Kongress in Kopenhagen 1928. 1929 und 1930 trifft sie auf Konferenzen zur Geburtenkontrolle in London und Zürich die Pionierinnen auf diesem Gebiet, Margaret Sanger und Abraham & Hannah Stone - persönliche Kontakte, die sie in den nächsten Jahren vertiefen wird.

In den 1930er Jahren ist sie beschäftigt wie nie zuvor: 1933 gründet sie zusammen mit einer Reihe von Ärzten und Gewerkschaftsvertretern die Vereinigung für Sexualerziehung in Schweden (RFSU). Zu Beginn stößt deren Arbeit auf starken Widerstand, führt jedoch im Laufe der Zeit zur Einrichtung von Beratungsstellen, nachdem 1938 das Informationsverbot über Verhütung aufgehoben worden ist.

Am Abend vor den letzten freien Parlamentswahlen im Deutschland von 1933 spricht Elise auch in einem überfüllten Hamburger Volkshaus über Sexualerziehung, während draußen die Nazis randalieren und Auseinandersetzungen mit der Zuhörerschaft, alles Arbeiter & eher fortschrittliche Deutsche, provozieren wollen. Elise redet auf Aufforderung also weiter, um Konfrontationen auf der Straße zu verhindern, bis die Nazis aufgeben. Sie und ihr dänischer Freund Joyce Leunbach ( i.e. Jonathan Høegh von Leunbach ) reisen am nächsten Tag ab nach Kopenhagen und treffen im Zug auf Deutsche, die bereits auf der Flucht sind...

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In Elises Privatleben läuft es auch nicht mehr rund:

Obwohl sie und Albert 1931 schließlich geheiratet haben, nachdem sie fast zwei Jahrzehnte zusammen gelebt haben, gibt es in ihrer Beziehung zunehmend erhebliche Spannungen, auf die Elise mit Depressionen bis zu einem Selbstmordversuch reagiert. Als Elise im Frühjahr 1935 von einer Vortragsreise nach Hause kommt, findet sie ihren Mann im Bett mit einer jungen Frau. Noch trennen sie sich bis September 1937 nicht dauerhaft, aber die Ehe ist von da an zum Scheitern verurteilt und wird schließlich 1945 geschieden. Ihre intensive Arbeit hält die knapp Sechzigjährige dennoch auf Kurs, denn ein Jahrzehnt nach der Gründung der RFSU kann sie auf viele Erfolge zurückblicken und andere sind deutlich in Sichtweite:

Grundschulen beginnen, die Sexualerziehung in ihre Unterrichtspläne einzubauen. Das "Ottar House" öffnet seine Pforten für unverheiratete Mütter und ihre Kinder. Eine Journalistenkollegin schreibt über sie: "Elise ist eine der größten Sexualpädagogen Schwedens" und eine Frau mit einer starken Persönlichkeit "die das tut, was sie für richtig hält."Sie umgehe einfach Gesetze und Verordnungen, wenn sie ihr im Weg stehen - eine echte Anarcho -Syndikalistin!  1944 erlebt Elise dann auch die Entkriminalisierung der Homosexualität.

Während des Zweiten Weltkriegs unterstützt sie jüdische Flüchtlinge, die aus dem von den Nazis besetzten Norwegen und Dänemark fliehen müssen. Dem deutsch - jüdischen Arzt Rudolf Elkan vom "Reichsverband für Geburtenregelung und Sexualhygiene" (RV) verhilft sie zur Flucht nach England, der russischstämmigen Berliner Ärztin Lida Tabaznik verschafft sie im Labor der RFSU Arbeit. Die deutsche Ärztin und Psychologin Lotte Bernstein kann bei den Kursaktivitäten der RFSU aktiv werden. Max Hodann, ein anderer bekannter Berliner Sexualerzieher und Arzt, 1933 aus Deutschland nach Oslo geflüchtet, wird von Elise in letzter Minute nach Schweden gebracht, wo auch er bis zu seinem Tod 1946 bei der RFSU arbeitet.

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Im Jahr 1945, nach dem Ende des Krieges, wird die Sexualerziehung im schwedischen Schulsystem verpflichtend. Im folgenden Jahr kann Elise eine internationale Konferenz in Stockholm einberufen, die zur provisorischen Gründung eines internationalen Komitees für geplante Elternschaft führen wird. Die Amerikanerin Margaret Sanger wird als erste Präsidentin dieser Organisation gewählt, die 1952 auf einer in Indien abgehaltenen Konferenz zur "International Planned Parenthood Federation" (IPPF) umgeformt werden wird.

1952 erlebt Elise auch, dass der Verkauf von Kondomen in Friseurläden, Apotheken und Geschäften mit Sondergenehmigungen erlaubt wird, 1964 folgt die Erlaubnis, die "Pille" als Mittel zur Empfängnisverhütung zu verwenden, 1970 wird sogar der Verkauf von Verhütungsmitteln ohne Sondergenehmigung in Schweden möglich. 1975 wird schließlich ein Gesetz verabschiedet, dass eine Abtreibung auf Verlangen bis zur 18. Schwangerschaftswoche zulässt.

1958 wird Elise Ottesen - Jensen die Ehrendoktorwürde der Universität Uppsala verliehen und im Jahr darauf wird sie zur zweiten Präsidentin des IPPF gewählt - ein Posten, denn sie bis 1963 inne hat. Ihre Vorstellungen sind inzwischen so erfolgreich, dass sie die schwedische Gesellschaft nachhaltig verändern, und Staat und Gemeinden viel von dem übernehmen, was bis dahin die RFSU wahrgenommen hat. Die RFSU selbst wird zunehmend zu einem helfenden Rädchen in der "Staatsmaschine".

1963
CC-BY-NC-ND
Elise wird 1972 sogar für den Friedensnobelpreis nominiert, das Thema Sexualerziehung ist aber immer noch zu umstritten, als dass es auf diese Weise anerkannt werden darf. Manche von Elises Themen sind immer noch tabu, wie Homosexualität und Masturbation. Letzteres ist nach ihrer Meinung bei einem gesunden Jugendlichen eine normale Aktivität, die niemandem schadet. Und in puncto Homosexualität betont Elise immer wieder, dass dies ein biologisches Phänomen sei und damit kein Straftatbestand sein kann. Auch wehrt sie sich dagegen, vorehelichen Sex zu verurteilen, wie es Kirche & Konservative von ihr erwarten. Sie weist auf die dadurch entstehende psychologische Belastung für junge Menschen hin und auf die Stigmatisierung der Kinder, die unehelich geboren werden.

Schon mehrere Jahre an Gebärmutterkrebs erkrankt, stirbt Elise Ottesen-Jensen am 4. September 1973 in Stockholm im Alter von 87 Jahren und wird dort auf dem Skogskyrkogården bestattet. Postum werden ihr weitere Ehrungen zuteil, darunter eine Briefmarke, nach ihr benannte Studienkreise und eine öffentliche Statue. 2014 erinnert das Stadttheater in Malmö an ihre Lebensgeschichte.

Die Veränderungen, die Elise Ottesen - Jensen in Schweden auf den Weg gebracht hat, waren nicht etwas, das den Frauen in den sprichwörtlichen Schoß gefallen ist, sondern etwas, das Elises Leidenschaft, ihre glühende Überzeugung hervorgebracht hat. Wir sollten für den Kampf, den sie geführt hat, dankbar sein und uns immer wieder klar machen, dass eine solche Errungenschaft wieder rückgängig gemacht werden kann. Deshalb war es mir wichtig, ihre Geschichte hier zu erzählen...




22 Kommentare:

  1. Liebe Astrid, wie schön, dass du diese wichtige Reihe auch in diesem Jahr fortführst. Ich kommentiere nicht jedes Mal, aber lese die Porträts sehr oft und mit Begeisterung. Vielen lieben Dank auch für das Festhalten dieser Frauengeschichte und dem klaren Votum für mehr Transparenz, Offenheit und Toleranz zu Themen wie SExualität, Kinderwunsch, Homosexualität etc. Manchmal denke ich, wir leben immer noch in der Steinzeit... Gut, dass es Frauen wie EOJ gibt, die dafür eingestanden sind und uns Vorbild sein können für eigene klare Worte. LG. Susanne

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  2. ...und das war für mich wieder spannend wie ein Krimi! Welche Zeiten umfassten die Frauen dieser Generation! Das hast Du toll geschrieben!
    Ein frohes neues Jahr Dir!
    Lieben Lisagruß!

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    1. Danke, das tut gut! Mich hat diese Frau und ihr Einsatz, ihre Leidenschaft sehr fasziniert und ich lese den Post selber immer noch mal, weil ich das alles so unglaublich finde.
      Dir ein gutes Neues Jahr!

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  3. Liebe Astrid, mir geht's wie Susanne, ich lese Deine Porträts auch sehr oft oder lese wenigstens ein Stückchen, kommentiert habe ich Deine Posts aber noch nicht. Danke, dass ich durch Dich immer wieder etwas über solche starken Frauen erfahre!
    Liebe Grüße von Frau Frosch

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  4. Liebe Astrid, welch ein spannendes Portrait! Für meine Serie über das Bullerbü-Haus habe ich in den letzten Tagen auch etwas über Astrid Lindgrens Leben recherchiert und erkenne einige Parallelen, insbesondere des unabhängigen Denkens! Astrid war nur 11 Jahre jünger als Elise. Ob sie von ihr gehört hat in ihrer Jugend? Ob sie sich später in Stockholm getroffen haben? Astrid wurde mit 18 Jahren unehelich schwanger und ich habe das Gefühl, sie ging sehr selbstbestimmt damit um, gab ihren Sohn zwar in Kopenhagen in Pflege und erlebte schwierige Zeiten, holte ihn sich aber später zurück und auch die Unterstützung ihrer Eltern schien sie zu haben - Alles nicht selbstverständlich in der Zeit! Ich habe auf jeden Fall Lust bekommen, mehr über Astrid Lindgren zu lesen und finde nun auch Elises Lebensgeschichte sehr spannend. Liebe Grüsse, Miuh

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    1. Mir ging es im "Astrid"-Film zeitweilig so, als habe die Geschichte von Magnhild Ottesen in manchen Punkten als Vorlage gedient. Und auch einige andere Punkte ( die Tanzvergnügen, die kritische Haltung gegenüber bigotter, unhinterfragter Religionsausübung ) haben mich an Elise erinnert.
      Astrid Lindgren porträtiere ich nicht, weil sie einfach zu berühmt ist und genug über sie zu finden, obwohl ich sie sehr verehre ( da ist es wie mir Frida Kahlo ). Aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Und konsequent bin ich nicht, wenn ich Lust auf etwas habe...
      Dir ein gutes Neues Jahr!

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  5. Spannende Lektüre. Was für eine großartige Frau. Ihren sich und andere Frauen befreienden Weg zu verfolgen hast du wunderbar geschafft. Einschließlich der Traurigkeit. Herzlich grüßt Ghislana 💛 PS Vom schönen Lebkuchenbaum nasche ich zu späterer Stunde...

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  6. Eine spannend geschriebene Biografie einer wirklich außergewöhnlichen Frau hast Du uns heute geschenkt, vielen Dank. Die Skandinavier waren eben auch so rückständig wie alle hier in Europa. Und heute sind sie Vorbilder. Das finde ich schon tröstlich, dass frau oder man doch etwas bewegen und bewirken kann.
    Im Sommer werde ich nach vielen Jahren wieder einmal nach Dänemark fahren, das erste Mal war ich dort vor über 30 Jahren. Und damals schon beeindruckt vom Menschenbild der Dänen. Das hat sich nachhaltig gezeigt als wir später dort einen schweren Auto-Unfall hatten und als Familie im Krankenhaus lagen. Krankenhäuser zeigen einem wie eine Gesellschaft tickt.
    Besonders Deinen letzten Absatz möchte ich aber nochmals betonen. Wie leicht sind hier Rückschritte möglich...
    Ich finde es wunderbar, dass Du die Great Woman Reihe weiterführst. Da kann ich mich schon darauf freuen in 2019.
    Herzlichst, Sieglinde

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  7. Wieder ein sehr interessantes Frauenportrait, liebe Astrid. Gut, dass sich nicht zuletzt durch das Engagement solcher Persönlichkeiten seither einiges geändert hat. Von einer Sexualität, die "Ausdruck von Intimität, Freude und Zärtlichkeit" ist, wie Elise Ottesen-Jensen es so treffend ausrückt, sind wir als Gesellschaft jedoch immer noch sehr weit entfernt.
    LG, Varis

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  8. Liebe Astrid,
    ja, ich habe mich schon mehrmals gefragt, wie unsere Welt / das Leben von uns Frauen hier wohl aussähe ohne die mutigen Frauen, die da und dort gekämpft, ihre Meinung gesagt, nicht locker gelassen haben. Wieder ein sehr spannendes Portrait, das ich gern gelesen und viel Neues daraus erfahren habe, danke! Und du hast recht, nichts von den Errungenschaften besitzt automatisch einen "Ewigkeitsanspruch" - wenn politische / religiöse Verhältnisse sich drastisch ändern, können wir alle wieder auf die einstige Realität zurückgeworfen werden. Ich hoffe (u.a. für meine Tochter und die nächsten Generationen) dass es nie so weit kommt...
    Ganz herzliche Grüße und die besten Wünsche zum Neuen Jahr,
    Traude

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  9. Liebe Astrid, vielen Dank für einen weiteren sehr sehr spannenden und aufklärenden Post. Ich lese Deine Frauenportäts immer sehr gerne und bin hinterher immer schlauer! Wo wären wir heute ohne diese Frauen?! Danke! LG Ute

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  10. Ein wirklich spannendes und interessantes Portrait einer Frau, die leidenschaftlich für ihre Ziele kämpfte und soviel erreicht hat. Ich hätte wirklich nicht gedacht, wie wesentlich diese Entwicklung in Schweden von einigen wenigen Menschen abhing...
    Liebe Grüße
    Andrea

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  11. Liebe Astrid
    Wieder ein sehr spannender Bericht über ein großartige Frau. Vielen Dank. Ich freue mich auf jedes deiner Porträts und habe schon viele mir unbekannte Persönlichkeiten dadurch kennenlernen dürfen. Freue mich auf weitere. Liebe Grüße Brigitte

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  12. Liebe Astrid. Das war eine starke Frau, die Bahnbrechendes geleistet hat. Vielen Dank wieder an dich für die Recherche und das so aussagekräftige Portrait. Wie selbstverständlich doch all das heute ist, ohne dass jemand darüber nachdenkt, wie es in der damaligen Zeit war. Solche Menschen werden heute in der Öffentlichkeit überhaupt nicht erwähnt, geschweige denn ihre Leistungen gewürdigt. Herzliche Grüße von Rela

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  13. Ein sehr spannendes Porträt wieder mal, vielen Dank! Bei manchen Frauengeschichten fragt man sich wirklich, wo eine Gesellschaft stünde wenn es diese eine Person nicht gegeben hätte.
    Unglaublich, was manche Menschen leisten.
    Dir einen herzlichen Gruß und ein frohes neues Jahr- ich bin noch nachlässiger in der Pflege der Kontakte als sonst, wir stecken mitten im Umzug.
    Doro

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  14. Großartig! Die schwedische "Verklemmtheit" ist in vielen Büchern Thema, aber hier war es ja nicht anders. Wenn mir jemand von den tollen 50gern was vorschwärmt, werde ich aggressiv. Unter anderem solchen Frauen verdanken wir unsere Selbstbestimmung. Ich habe das diskrete Wegschicken bis nach der Geburt noch in meiner Umgebung erlebt. Kennst Du noch den Begriff "Heim für gefallene Mädchen"?
    LG
    Magdalena

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  15. Liebe Astrid,

    gerne habe ich die Lebensgeschichte von Elise Ottensen-Jensen gelesen, sehr beeindruckend. Wo wären wir heute, wenn es solche Frauen nicht gegeben hätte.
    Ich mag Deine Berichte über besondere Frauen immer gerne, man lernt noch einiges dazu und es ist sehr kurzweilig zu lesen.
    Liebe Grüße
    Agnes
    gartenbienenweide.de

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  16. Es sit nicht selbstverständlich, wie ich aufgewachsen bin. Nur durch solche Frauen, hatte ich das Glück einfach nur mein Ding durchziehen zu können. Man vergisst schnell, dass es keine Selbstverständlichkeit ist.
    Hast du den Astrid Lindgren Film gesehen?
    Lieben Gruß
    Andrea

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  17. es heißt immer
    ach.. als einzelner kann man doch gar nichts tun
    aber deine Reihe der starken Frauen beweist

    eine einzige kann ein ein ganzes Land umkrempeln
    danke für das tolle Portrait

    liebe Grüße
    Rosi

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  18. Was wären wir, wo wären wir, ohne die Frauen, die Vorkämpferinnen, die streitbaren, sie haben uns die Wege geebnet - und leider leider, ja, es kann auch ganz schnell wieder rückwärts gehen. Nix ist selbstverständlich. Danke Astrid für diesen Post über diese unglaubliche Frau ! Eva

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  19. Wieder eine besondere Geschichte, mit einem Namen dem ich schon einmal begegnet bin. Bloß wo? Eins meiner ältesten Reisetagebücher brachte mich nach einiger Grübelei und Suche auf die Spur. Norwegen 1978, per Interrail unterwegs, mit Halt in Stavanger und unsere Unterkunft mit Bus und zu Fuß im Nirgendwo ...
    Skandinavische Offenheit und Aufgeklärtheit ließen sich im Hinterland Norwegens und Schwedens noch in den späten 1970ern und frühen 1980ern ab und an mit der Lupe suchen - kein Vergleich zu den großen Städten Oslo, Göteborg, Malmö und Stockholm.
    Bis heute bin ich jeden Tag dankbar als Frau in dieser Zeit, an diesem Ort leben zu können. Was nicht heißt, dass alles gut ist und für nichts mehr zu kämpfen ist. Da gibt es noch etliches zu tun, allein schon um das Lebenswerk von Frauen wie Elise zu erhalten und weiterzuentwickeln.
    Mit vielen Grüßen,
    Karin

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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