Mittwoch, 20. März 2024

Lieben sie Lyrik? {18}

Taras Schewtschenko

Im Kirschengärtchen vor der Hütte 
Der Käfer summendes Gebraus;
Die müden Pflüger ziehn nach Haus. 
Die Mädchen singen. 
Ihre Mütter erwarten sie zum Abendschmaus.

Man ißt zu Abend vor der Hütte;
Der Abendstern geht auf und blinkt. 
Das Abendbrot die Tochter bringt, 
Sie hört nicht Mutters Rat und Bitte, 
Die Nachtigall betörend singt.

Dann legt die Mutter vor der Hütte 
Die Kleinen schlafen wieder mal 
Und geht zu Bett. Still überall.
Es zwitschern nur nach alter Sitte 
Die Mädchen und die Nachtigall.



Dieses Gedicht des Dichters, Schriftstellers und Malers Taras Schewtschenko, Begründer der modernen ukrainischen Literatur, Schlüsselfigur der ukrainischen Kulturgeschichte, auch "Vater der Nation" genannt oder "Goethe der Ukraine", ist in seiner Bedeutung vergleichbar mit "Über allen Gipfeln ist Ruh" bei uns.

Am 9. März vor zweihundertzehn Jahren ist Schewtschenko als Leibeigener in einem Dorf bei Kiew geboren. Und diese Tatsache bestimmt sein Leben während der folgenden 26 Jahre. Dabei ist die Leibeigenschaft in der Ukraine dem Adel erst von Katharina der Großen zugestanden worden und war dort vorher nicht üblich...

Früh verwaist, im Eigentum eines Pawel Engelhardt, dem zu diesem Zeitpunkt das ganze Dorf gehört, dient er zunächst als Hofknecht, wird von seinem Herrn dann aber auf Reisen mitgenommen, nach Vilnius und St. Petersburg. Engelhardt erkennt sein künstlerisches Talent und lässt ihn von einem Maler ausbilden. ( Unter dem Adel jener Zeit war es Mode, seine eigenen Künstler zu haben. )

Taras ist ein "Produkt" der ukrainischen Kultur ( er hat von seinen Eltern noch Lesen & Schreiben gelernt ), die zu seiner Zeit wieder aufblüht, aber auch der in St. Petersburg üblichen europäisierten Bildung. Dort kommt er nämlich in Kontakt mit der kulturellen Elite jener Tage, die seine künstlerischen Talente schulen und prägen. Es sind namhafte russische Kulturschaffende, die schließlich Geld sammeln, um ihn aus der Leibeigenschaft freizukaufen, und die ihm ein Studium an der Petersburger Kunstakademie ermöglichen. 

Sein Leben in Petersburg finanziert er zunächst durch seine Arbeit als Maler, ab 1838 konzentriert er sich stärker auf seine literarische Arbeit. Seine ersten Veröffentlichungen legen seine ambivalente Natur frei: Einerseits eine bäuerliche, aus Knechtschaft und Unfreiheit geborene Stimme, andererseits kultiviert und hochgebildet. Bereits sein erster Gedichtband, "Kobsar", wird stark zensiert, findet aber viel Zuspruch. Liebesglück bleibt ihm lebenslang verwehrt, obwohl sich ihm viele Musen aus allen Klassen & Schichten andienten.

Mit 32 Jahren wird Schwetschenko Mitglied der geheimen politischen Kyrill-und-Method-Bruderschaft, ein rebellischer Ton durchdringt nun seine Dichtungen. Ein Jahr später zieht er den Zorn von Zar Nikolaus I. auf sich, der sich von ihm in einem Gedicht beleidigt sieht. Immer wieder schreibt er zornige Zeilen gegen die Leibeigenschaft und die Monarchie. Als er aber seine politischen Gedichte in ukrainischer Sprache veröffentlicht, wird Schewtschenko verhaftet und zu zehn Jahren Zwangsarbeit nach Kasachstan verbannt. 

Taras wird nicht nur als gewöhnlicher Soldat in die Provinz Orenburg verbannt, sondern ihm wird auch das Schreiben und Zeichnen verboten - eine grausame Strafe für ihn. Doch seine Aufseher  machen sein Leben relativ erträglich. Er kann die Mehrzahl seiner Erzählungen gerade während dieser Verbannung verfassen.

Kurze Zeit nach seiner Begnadigung & Rückkehr aus der Verbannung, erliegt Schewtschenko seinen Krankheiten, am 10. März 1861, in St. Petersburg, umgeben von seinen Freunden.

Taras Schewtschenko war nicht der erste, der in ukrainischer Sprache schrieb, aber der erste, dessen Texte im russischsprachigen Kulturraum als vollwertige Literatur wahrgenommen wurden. Zu Zeiten der Sowjetunion gehörte der Dichter als großer Internationalist zum Literaturkanon. Die Sowjetunion zeigte Schewtschenko als typischen Kosaken – im Mantel mit Mütze und dichtem Schnurrbart, als Bauernsohn und Vertreter der Arbeiterschaft – einfach und klar für jeden. Seinen Einsatz für eine unabhängige Ukraine ignorierte die Sowjetführung geflissentlich. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde seine pro-ukrainische Einstellung als anti-russisches Ressentiment gedeutet, und der Dichter wurde mitunter in eine radikal-separatistische Ecke gestellt. 

Heute ist nach ihm in Kiew ein Boulevard, das Opernhaus und die bekannteste Kiewer Universität benannt, es gibt ein Taras-Schewtschenko-Denkmal im Schewtschenko-Park und das Nationale Schewtschenko-Museum. Außerhalb der Erde trägt der Merkurkrater Shevchenko seinen Namen und auch der Ende 1976 entdeckte Asteroid (2427) Kobzar wurde zu Ehren des Großen Kobsar, wie Schewtschenko auch genannt wird, benannt.





Zur ukrainischen Geschichte empfehle ich diesen Link.

5 Kommentare:

  1. Sehr interessant heute Deine Lyrik. Natürlich auch schön poetisch, aber eben auch sehr politisch. Ich kannte diesen Dichter noch gar nicht und sein schweres Leben auch nicht. Selbst Poesie erzürnt Diktatoren - oder vielleicht gerade sie... das war ja wohl schon immer so.
    Ob die Nachtigallen und die Mädchen noch singen mögen dort?
    Herzlichst
    Sieglinde

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  2. wahnsinn...wie ein Schrei in der Nacht, ich finde es phantastisch wie du ihn - und seinem Leben Würdigung erbracht...
    ich hab Gänsehaut...folge dem Link und sage Danke....
    dass du ihn - gerade in dieser Zeit - zum Reden gebracht - uns geschenkt hast

    herzlichst angel

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  3. Danke für dieses ausführliche und interessante Portrait des ukrainischen Dichtes Taras Schewtschenko und das wunderschöne Gedicht. Mir ist Schewtschenko ein Begriff. Klar, dass Russland auf Distanz zu ihm gegangen ist, sobald er die ukrainische Sprache benutzte und Nationalstolz zeigte. Es hat sich ja seit damals nichts geändert.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Liebe Astrid,
    dies habe ich mit großem Interesse gelesen und sage herzlichen Dank für diese Horizonterweiterung. So tragisch, dass er nach seiner Begnadigung und Rückkehr aus der Verbannung verstarb. - Ich liebe Lyrik, ja :-).
    Liebe Grüße
    Ingrid

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  5. Ob ich Lyrik mag, liebe Astrid? Ja, sehr! Und ich bin gerade ganz traurig, bisher dieses Label hier bei Dir übersehen zu haben. Ein wunderschönes Gedicht und eine tragische Lebensgeschichte. Alles Liebe, Deine Nicole

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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