Donnerstag, 21. März 2024

Great Women #371: Tillie Olsen

Mit Tillie Olsen habe ich zu Beginn der 1980er Jahre Bekanntschaft gemacht, als ihr Roman "Yonnondio" in deutscher Übersetzung von Sibylle Koch-Grünberg bei Luchterhand erschienen ist. Ich war fasziniert. Ihre Lebensgeschichte hat mich nicht weniger beeindruckt, weshalb ich sie euch heute präsentieren werde.

"Ich werde einer dieser unglücklichen Menschen sein, 
die im Bewusstsein dessen sterben, 
was nie aufgeschrieben wurde oder was nie fertig wurde." 

Tillie Olsen kommt als Tybele Lerner am 14. Januar 1912 auf einer von ihren Eltern gepachteten Farm in Wahoo/Nebraska zur Welt. Ihr jiddischer Name bedeutet little dove und steht für die Hoffnung ihrer Eltern, in Amerika den Frieden zu finden, den sie in ihrer Heimat nicht finden konnten. 

Ihre Heimat ist der Oblast Minsk in Weissrussland im zaristischen russischen Reich gewesen. Tillies Vater, der zur Zeit ihrer Geburt 28jährige Samuel Lerner, ist dort Mitglied des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes gewesen, einer 1897 gegründeten Vereinigung, die sich zum Ziel gesetzt hat, Ungerechtigkeit und die brutalen Pogrome im Zarenreich zu beenden. Auch ihre Mutter Hashka "Ida" Goldberg ist Anhängerin sozialistischer Ideen. Sie entstammt, wie die Tochter später schreiben wird, "einer langen Ahnenreihe analphabetischer Frauen".

Wegen seiner Beteiligung an der ( gescheiterten ) Russischen Revolution von 1905 wird Samuel verhaftet. Um der drohenden Internierung in Sibirien zu entgehen, flieht er nach England, wo er schnell die Sprache lernt und von wo aus er 1906 in die Vereinigten Staaten auswandert. Ida - den Namen geben ihr die Einwanderungsbehörden - folgt ihm 1907. Sie unterscheiden sich nicht von den anderen russisch-jüdischen Einwanderern in Nord-Omaha, wohin sie sich wenden, weil dort schon Verwandte leben: Sie sprechen zu Hause Jiddisch, sind fleißig und bleiben doch arm und opfern sich für ihre Kinder auf, von denen sie bis 1921 sechs Stück bekommen werden. Tillie ist das zweite nach ihrer Schwester Fannie, ein Bruder, Harry, eine weitere Schwester, Lilian werden folgen. Morris kommt dann schon in der Stadt zur Welt, Yetta ebenfalls im August 1921. Heiraten werden die Eltern übrigens nie.

Als Tillie geboren wird, unternehmen die Eltern gerade einen Versuch, in den Ebenen von Nebraska Landwirtschaft zu betreiben. Als sie scheitern, packen sie nach der Ernte 1916 ihre Habseligkeiten und gehen in die Stadt Omaha zurück, wo sie sich in einem nördlichen Viertel voller osteuropäischer, meist jüdischer Einwanderer, darunter Verwandte, niederlassen. Der Vater arbeitet nun als Anstreicher & Tapezierer, wird Mitglied des Workmen's Circle, einer dem Arbeiterbund ähnlichen Organisation, und Sekretär der Nebraska Socialist Party. Die Eltern gelten als "Reformisten" und ihre politischen und sozialen Überzeugungen beeinflussen das Mädchen stark. Da der Vater Atheist ist, spielt die Religion keine Rolle in der Familie ( Tillie wird die sozialistische Sonntagsschule besuchen ), aber die Yidishkeit ( jüdisches Erbe ) wird die Werte bestimmen, die sie entwickeln wird.

Obwohl die Luft in Omaha nicht so sauber und die Produkte nicht so frisch sind wie auf dem Land, gibt es dort ausgezeichnete Schulen, gute Lehrer, kostenlose Kindergärten und kostenlose Abendkurse für Erwachsene sowie Wasser-, Abwasser- und Elektrizitätsversorgung, was die Familie zu schätzen weiß.

Tillie ist ein lebhaftes, eigenwilliges, ja gar rebellisches & frühreifes Kind, das zum Stottern neigt. In Omaha besucht sie die Kellom Elementary School und absolviert sie mit sehr guten Lernerfolgen, bevor sie 1921 in die Long School wechselt, wo sie drei Jahre später einen Abschluss erhält. Eine weitere schulische Ausbildung strebt sie ab da in der Central High School an, wo sie bereits als Dreizehnjährige als "Tillie the Toiler" ( Toiler bedeutet Arbeiterin ) eine Humorkolumne voll überschwänglichem Witz in der Schülerzeitschrift schreibt. Das macht sie bekannt und sehr beliebt. Sie verfasst auch Gedichte und wird später eine Geschichte anfangen, in der ein Mädchen namens Fuzzy eine Abtreibung erfährt. In ihrem Schreiben wird sie von zwei Lehrerinnen, Sara Vore Taylor und Autumn Davies, gefördert. Dennoch fühlt sich Tillie in ihrer Jugend marginalisiert, ist sie doch eine Mischung aus Jüdin, Arbeiterklasse, Einwanderin, dazu arm und weiblich. 

Es hat nie eine Zeit gegeben, auch nicht in ihrem ganz jungen Leben, in der sie nicht gearbeitet hat, um die desolate finanzielle Lage der Familie aufzubessern. Als Zehnjährige schält sie beispielsweise nach der Schule Erdnüsse. Als Zweitälteste ist sie außerdem schon früh in die Betreuung ihrer jüngeren Geschwister eingespannt

1927
Tillie ist allerdings sehr frei in ihrer Lebensführung. Und so kommt es, dass sie mit sechzehn schwanger wird und die Schule im April 1928 abbricht. Ob sie eine Fehlgeburt erleidet oder einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lässt, ist nicht bekannt. Später kehrt sie an die High School zurück, verlässt sie jedoch am 30. April 1929 mit der elften Klasse ohne Abschluss. Es ist auch in diesem Punkt unklar, ob Tillie sich selbst zurückgezogen hat oder sie ausgeschult worden ist. "Public libraries were my sustenance and my college," wird sie später zu ihrer Bildung sagen.

Sie beginnt nun, unabhängig von ihren Eltern zu leben, arbeitet in einem Antiquariat & hat andere Gelegenheitsjobs und tritt dem Kommunistischen Jugendbund bei - für sie markiert das den Abschied von der Kindheit. Die Erfahrungen während der Weltwirtschaftskrise radikalisieren sie und sie schließt sich dem Omaha Council of the Unemployed an. Sie lernt den sechzehn Jahre älteren Abraham "Abe" Jevons Goldfarb kennen, mit dem sie einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag nach Stockton/Kalifornien durchbrennt, wo seine Eltern leben.

1929
Gemeinsam agitieren & werben sie im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten für die Kommunistische Partei, bevor sie am Valentinstag 1931 heiraten. Während Tillie eine kommunistische Ausbildungsschule in Kansas City besucht und dort in einer Krawattenfabrik arbeitet, wird sie Ende 1931 verhaftet, weil sie Flugblätter an Packhausarbeiter verteilt und damit Arbeiterproteste angeheizt hat. Während ihrer Inhaftierung wird sie von einer Mitgefangenen zusammengeschlagen, weil sie einer anderen helfen will. Sie erkrankt an einer Rippenfellentzündung bzw. Tuberkulose. Die Krankheit bringt ihr die Freilassung, und ihr Mann liefert sie bei seiner Schwester in Faribault/Minnesota, ab, wo sie eine geräumige und friedliche Unterkunft findet. Und während sie beginnt sich zu erholen, fängt Tillie wieder an zu schreiben: "Yonnondio. From the Thirties".

Der Titel ist einem Gedicht von Walt Whitman entnommen, dessen letzten fünf Zeilen sie als Eröffnungszitat wählt. "Yonnondio" bedeutet "Klage um die Verlorenen". Der Roman erzählt von der Familie Holbrook, die während der Weltwirtschaftskrise ums Überleben kämpft, zuerst in einem Kohlenrevier in Wyoming, dann als Pachtbauern in South Dakota und schließlich in einer Stadt mit Schlachthöfen wie in Omaha. 

Es gelingt der Autorin sogar 1934, einen Teil des ersten Kapitels in einer Ausgabe der "Partisan Review" unter dem Titel "The Iron Throat" zu veröffentlichen. Aber aufgrund der Geburt ihrer Tochter Karla (Barucha) am 20. Dezember 1932, ihrer politischen Aktivitäten und ihrer Jobs hat sie die Entwürfe des unvollendeten Romans beiseite gelegt, um sie erst vierzig Jahre später auf der Suche nach  anderen Manuskripten wiederzufinden.

Im Herbst 1933 zieht die junge Familie zurück nach Stockton, wo sich eine Schwägerin um das Baby kümmert, während Tillie als Teilzeitsekretärin ihres Mannes in der Civil Works Administration wirkt, einem Programm der US-Regierung zur Linderung der Armut durch besser bezahlte Jobs.

Als ein gewisser Jack Olsen zu einem Großstreik an der Küste von San Francisco aufruft, ziehen Tillie und ihr Mann dorthin, um die Streikenden zu unterstützen. Unter ihrem Mädchennamen reicht sie zwei wütende politische Gedichte bei den Zeitschriften "Partisan Review" und "Daily Worker" ein. Ab Mai 1934 schreibt sie Sketche und Lieder und tippt Flugblätter und Newsletter für den Streik, der bald die gesamte Westküstenschifffahrt lahmlegen wird. Sie selbst wird wieder einmal während des Streiks verhaftet und lernt Jack Olsen näher kennen. Der, ein Jahr älter als Tillie und noch als Jack Olshansky in Kiew geboren, ist als Einjähriger mit seinen jüdischen Eltern auf der Flucht vor den Pogromen in die USA gekommen, durch die Ereignisse um Sacco & Vanzetti radikalisiert worden und jetzt ebenfalls Mitglied des Kommunistischen Jugendbundes (YCL), von Beruf Hafenarbeiter.

Nachdem eine landesweite Öffentlichkeitsarbeit Tillies Freilassung bewirkt hat, verfasst sie für "The New Republic" und die "Partisan Review" eindrucksvolle Artikel über ihre Verhaftung und den Streik. Es entfacht sich ein intensiver Wettbewerb zwischen amerikanischen Verlagen um ihren Roman. Tillie unterschreibt schließlich bei Random House, der ihr bis 1936 stattliche Vorschüsse zahlen wird. Doch das wird schwierig...

1930er Jahre
1936 verlässt Tillie ihren Mann, zieht mit Jack Olsen zusammen und bekommt mit ihm im Jahr darauf ihre zweite Tochter Julie. In dem Jahr stirbt Abe Goldfarb und sie wird Witwe.

Die New-Deal-Reformen der amerikanischen Regierung sind inzwischen in eine Sackgasse geraten, das Land rutscht zurück in die Rezession, die Welt in den Faschismus. Nach dem Ersten Weltkrieg angeblich entmilitarisiert, besetzt Deutschlands mächtige Armee das Rheinland, italienische Bomber greifen Katalonien an, und Tillie muss letztendlich ihrem Verlag gestehen, dass sie  ihrem Roman nicht fertig bekommt. 

In den nächsten zwanzig Jahren wird sie die Frauen- und Mutterrolle am weiteren Schreiben hindern. Sie muss zudem in schlecht bezahlten Jobs als Zimmermädchen, Packerin, in der Wäscherei als Kontrolleurin, als Kellnerin, in Fabriken oder Büros als Schreibkraft Geld verdienen. Sie engagiert sich weiterhin für Frauen und Kinder & verbringt viel Zeit in der Lokalpolitik - sie ist z.B. an der Gründung von San Franciscos erstem kooperativen Kindergarten beteiligt - und bei Gewerkschaftsveranstaltungen. Außerdem bekommt sie 1943 noch eine dritte Tochter, Kathie, und heiratet Jack Olsen schließlich 1944 am Vorabend seiner Abreise zum Militärdienst im Zweiten Weltkrieg. Nur die Ehefrauen von Soldaten haben nämlich Anspruch auf entsprechende Leistungen.

Mit ihren vier Töchtern
(1948 )

Während er an der Front in Europa ist, wird sie zu einer einflussreichen Figur in der Kriegshilfe und schreibt eine Kolumne über Frauen und die Kriegsanstrengungen mit dem Titel "Tillie Olsen Says" für "People’s World". Sie sehnt sich aber nach Zeit zum literarischen Schreiben und macht kein Geheimnis aus ihrer Frustration, die oft in Bitterkeit umschlägt.  

Als ihr Mann aus dem Krieg heimkehrt, bekommt Tillie 1947 noch eine vierte Tochter, Laurie.

Während der McCarthy-Ära erregt ihr Widerstand gegen "Duck-and-Cover"-Übungen für den Zivilschutz an öffentlichen Schulen den Zorn des Ausschusses für unamerikanische Umtriebe des Repräsentantenhauses. "Duck and Cover" ist ein 1951 erschienener Film für Kinder, der sie instruiert, wie sie sich bei Atombombenexplosionen zu verhalten haben. Man beschuldigt Tillie, eine "Agentin Stalins zu sein, die über die PTA die Schulen der Stadt infiltrieren" will. Sie wird nicht angeklagt, aber ihren Mann lädt das Komitee ein und beide verlieren ihre Arbeit. 

Trost findet sie immer wieder in der Literatur. Sie stellt fest, dass zeitgenössische Belletristik solche Themen wie Rassismus & Klassenunterschiede, die ihr in der Nachkriegsgesellschaft weiterhin aufstoßen, nicht behandelt. Also beschließt sie, es selbst zu tun. Doch die Zeit dafür fehlt immer noch. 

"Die Zeit im Bus, auch wenn ich stehen musste, reichte; die gestohlenen Momente bei der Arbeit, genug; die tiefen Nachtstunden, solange ich wach bleiben konnte, nachdem die Kinder im Bett waren, nachdem die Hausaufgaben erledigt waren, manchmal auch währenddessen. Es ist kein Zufall, dass das erste Werk, das ich für veröffentlichungswürdig hielt, mit „Ich stehe hier und bügele“ begann." ( Quelle hier )

Erst 1953 macht sie Ernst damit, als sie auf Anregung ihrer ältesten Tochter an einem Schreibkurs teilnimmt, wo der Lehrer bald feststellt, dass er ihr nichts beibringen kann und sie wegschickt. Ein Schreibstipendium der Stanford University für 1955–56 ermöglicht ihr, ohne Sorge um den Lebensunterhalt ihr Ziel weiter zu verfolgen. Sie veröffentlicht drei weitgehend autobiografische Erzählungen und eine Novelle, die allesamt große Themen in scheinbar einfachen alltäglichen Geschichten verdichten: 

Die erste Geschichte, "I Stand Here Ironing", handelt von einer Frau, die um das Leben ihrer Tochter trauert und die Umstände hinterfragt, die ihre eigene Mutterrolle geprägt haben. Sie wird 1957 in die Anthologie "Best American Short Stories" aufgenommen. Die zweite - "Hey Sailor, What Ship?" - erzählt von einem alternden Matrosen der Handelsmarine, dessen Verhältnis zu einer Familie aus San Francisco unter seinem Alkoholismus zunehmend leidet. 

Die dritte, "O Yes", ist die Geschichte einer weißen Frau, deren Tochter und ein afroamerikanisches Mädchen aufgrund des Druckes ihrer Mittelschüler mit ihrer Freundschaft scheitern. Die Novelle "Tell Me a Riddle" wiederum schildert den Umgang eines älteren Paares mit dem Tod und enthält Anspielungen auf andere literarische Werke. 

Letztere wird weithin gelobt und zur Titelgeschichte der 1961 veröffentlichten Sammlung "Tell Me a Riddle" gemacht. Die Charaktere in den Geschichten sind miteinander verbunden, insofern sie alle einer Familie angehören. Alle sind ständig in Bewegung und auf den Beinen, mit Beruf, Hausarbeit und seelischer Care-Arbeit beschäftigt. Ihre - überforderte - Aufmerksamkeit verteilt sich auf Babys, Kleinkinder, Schulkinder, Teenager und Ehemänner. Darüber beschweren sie sich aber nicht. Fürsorge erfordert Handeln, so die Antwort der Mutter in "Oh Yes" auf die Frage ihre Tochter, warum sie sich kümmern müsse.

Die Titelgeschichte wird 1961 mit dem O. Henry Award als beste amerikanische Kurzgeschichte ausgezeichnet. 

"Die vier Stücke in 'Tell Me a Riddle' sind lyrische Berichte über das Familienleben der Arbeiterklasse, voller emotionaler Details und mit einem Augenmerk auf die Rhythmen des Bewusstseins, die strenger und kraftvoller sind als die meisten Dinge, die man Realismus nennt", schreibt A.O. Scott 2021 in der "New York Times".

Mit 49 Jahren ist Tillie Olsen endlich dort angelangt, wo sie sich lange hingeträumt hat.

Am Radcliffe College

Nach einem Stipendium der Ford Foundation erhält sie eines am Radcliffe College für die Jahre 1962 bis 1964. Ihr Seminarvortrag am Radcliffe von 1963, in dem sie darlegt, wie & wodurch weibliche Schriftstellertalente ausgebremst werden, fällt mit der Veröffentlichung von Betty Friedans "The Feminine Mystique" ( dt. "Der Weiblichkeitswahn") zusammen und befeuert wie dieses die erstarkende Frauenbewegung. Der überarbeitete Vortrag wird 1965 als Essay im "Harper's Magazine" unter dem Titel "Silences: Ways of Being Silent" publiziert und macht Tillie Olsen zu  einer feministischen Ikone.

Tillie entdeckt immer mehr vergessene Schriftstellerinnen und inspiriert 1970 die Gründung der Feminist Press. Ihre Empfehlungen "verlorener "Autorinnen werden als "Tillie Olsens Leselisten" im "Women's Studies Newsletter" aufgeführt.

1970 erscheint die Geschichte "Requa I", die wieder Eingang in die Sammlung der besten amerikanischen Kurzgeschichten von 1972 findet. Nachdem Jack Olsen ihren Roman aus den 1930er Jahren in alten Papieren gefunden hat, veröffentlicht sie ihn unrevidiert und unvollendet 1974. 

In "Silences"(1978; auf deutsch: "Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur", 2022 erschienen ) sammelt sie ihre Erkenntnisse und Texte zu Autor*innen ( aber auch Autoren wie Kafka), die unter den Auswirkungen von Diskriminierung, Unterdrückung, materieller Not und ihrer Rolle als Frau & Mutter am Schreiben gehindert und so auch kein Publikum gefunden haben. Diese einzigartige Essaysammlung findet viel Resonanz in der literarischen Welt & der Frauenbewegung und erlangt enormen Einfluss, wird einmal gar als "Bibel" bezeichnet. Keine geringere als Margaret Atwood urteilt, es sei "unverzichtbar für alle, die verstehen wollen, unter welchen Umständen Kunst entsteht oder verhindert wird"

"Sie hat aus einem ganz einfachen Grund nicht geschrieben: Ein Tag hat 24 Stunden. 20 Jahre lang hatte sie keine Zeit, keine Energie und nichts von dem Geld, mit dem man beides hätte kaufen können." ( Quelle hier )

In ihren letzten Lebensjahrzehntengewinnt Tillie Olsen weiterhin Auszeichnungen, Stipendien, wird "Artist in Residence" in Künstlerkolonien, Gastprofessorin an renommierten Hochschulen und Universitäten, hält im ganzen Land Lesungen und Vorträge. Sie präsentiert sich weiterhin als eine Frau, die durch ihren Hintergrund aus der Arbeiterklasse, durch Armut, Diskriminierung und die Pflichten der Mutterschaft benachteiligt gewesen ist. 

Die meiste Zeit der 1970er und 1980er Jahre lebt sie allein, getrennt von ihrem Mann ( der 1989 stirbt), um zu schreiben. Ein einziger später Roman von 1984 - "Dream-Vision", privat "My Mother's Dying Vision" genannt -, stößt in ihrer Familie wegen seiner christlichen Implikationen auf wütende Kritik. Zusammen mit einer Reihe früher Gedichte mit dem Titel "At Fourteen Years" wird ihre frühe Geschichte über Fuzzy, die ich oben erwähnt habe, wiedergefunden und als "Not You I Weep For" in "First Words" 1993 herausgebracht.

Im Jahr darauf veröffentlicht sie im "Newsweek- Magazin" den Aufsatz: "Die 30er Jahre: Eine Vision von Angst und Hoffnung". 


Trotz lebenslang angeschlagener Gesundheit überlebt Tillie Olsen mit bemerkenswerter Vitalität. Mit 85 Jahren zieht sie dann zu ihrer jüngsten Tochter nach Berkeley in ein Cottage hinter deren Haus. Die letzten drei Jahre ihres Lebens leidet sie an der Alzheimer-Krankheit. Zwei Wochen vor ihrem 95. Geburtstag, am  Neujahrstag 2007 stirbt die sozialkritische amerikanische Autorin im Kaiser Oakland Medical Center in Kalifornien

Tillie Olsens Enkelin Ericka Lutz, Redakteurin und Kolumnistin bei "Literary Mama" hat in ihrem Nachruf auf ihre Oma damals aufgefordert, an ihrem 95. Geburtstag sich mit Freunden zu Hause und in öffentlichen Bibliotheken zu treffen, um ihr Leben zu feiern und gemeinsam ihre Werke zu lesen - ich finde, das sollte nicht nur auf diesen Tag beschränkt bleiben!

3 Kommentare:

  1. Ich glaube, außer selber betroffene Frauen versteht niemand, dass neben Arbeit und Familie keine bis kaum Zeit für etwas anderes bleibt (vor allem wenn kein Geld da ist)
    Umso wunderbarer, dass sie uns doch Bücher (und mehr) hinterlassen konnte.
    Liebe Grüße
    Nina

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  2. welch ein Leben! liebe Astrid...kaum heute noch vorstellbar...
    unglaublich was diese Frau alles erlebt und geleistet hat. Solange ein Leben in Armut gelebt, wenig bis keine Unterstützung erfahren hat und dann so weit gekommen.
    sie muss eine unheimlich starke und mutmachende Persönlichkeit gewesen sein, dieser Lebensweg in einer Zeit die keiner von uns kennt, aber nun durch diese Biographie ein schweres Gewicht bekommt.
    ich habe sie eingebettet in die starken Persönlichkeiten deiner Autor*innen sehr interessiert gelesen.
    welch ein Leben....bin sehr beeindruckt...
    herzlichst angel

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  3. Es ist sehr beeindruckend, das sie immer irgendwie drangeblieben ist, egal wie ihre Lebenumstände waren und sie nicht erschöpft aufgegeben hat und alle hingenommen. Ich glaube sie war eine Frau mit großem Gerechtigkeitsgefühl ! Erstaunt hat mich, dass ihre Eltern nie geheiratet haben, sehr ungewöhnlich zu der Zeit.
    VG Karen

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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