Heute ist mal wieder eine der Göttinnen meines jugendlichen Pop-Himmels dran. Judith Durham, Aretha Franklin, Laura Nyro, Nico, Dusty Springfield, Cass Elliot und Joni Mitchell haben alle schon ihren eigenen Post in meinem Blog bekommen. Ich finde, endlich sollte sie auch mal dran sein: Julie Driscoll. Im inzwischen legendären Beatclub von Radio Bremen habe ich sie damals 1968 entdeckt und war sofort fasziniert.
"Steampacket" - von links nach rechts: Rod Stewart, Long John Baldry, Julie, Brian Auger |
"Ich nehme an, ich musste wirklich viel loswerden. Aber da wir viel gereist sind, hatte ich meine Gitarre dabei. Ich habe mir in New York eine Martin gekauft, die ich immer noch habe und die ich liebe, und ich habe angefangen, viel Material zu schreiben."
Und das alles auch noch in Kombination mit der Zusammenarbeit mit einem Plattenlabel, das von einem verschwenderischen Manager geführt wird. "1969 kehrten wir von einer US-Tournee zurück und stellten fest, dass wir überhaupt kein Geld hatten", erzählt Brian Auger dazu. "Giorgio hatte 24 Mitarbeiter, aber wir waren seine einzige erfolgreiche Band. Alle unsere Einnahmen flossen in die Aufrechterhaltung seines Lebensstils. Er ging dann bankrott und wir wurden beraubt. Julie war so aufgebracht..."
"Giorgio spielte mir eine Demo von Keiths Musik vor und es war, als würde ich etwas hören, auf das ich gewartet hatte, aber noch nicht wusste, was es war. Wirklich ein ziemlich seltsames Gefühl. Er sagte, ich solle kommen und die Gruppe live hören. .. Ich glaube, es war im 100 Club. Ich war genauso hin und weg und so haben wir uns kennengelernt."
Das Album weist schon auf Julies weniger kommerzielle, experimentellere Richtung hin, verweist auf Julies wachsendes Vertrauen in ihr Songwriting - alle Tracks sind ja von ihr komponiert - und zeigt eine Leichtigkeit, mit der sie sich zwischen der Gruppenvertonung von Nummern wie "A New Awakening" und sanfteren Stücken wie "Those That We Love" und "The Choice" bewegt. "Walk Down" ist der interessanteste Titel, sowohl in Bezug auf seine Struktur, seine Lyrik, als auch in Bezug auf die Art und Weise, wie Julie ihre Stimme einsetzt, um sich vom dichten musikalischen Hintergrund abzuheben. Julie ist auch später noch stolz auf ihre Leistung in puncto "1969".
"... ich liebe all die Dinge, die ich getan habe. Ich hätte es nicht herausgebracht, wenn ich gedacht hätte, dass es nicht die Zeit überdauern würde. Wenn ich etwas mache, das ich liebe und mit dem ich glücklich bin, dann weiß ich, dass es nicht nur ein Modeding ist. 1969 ist eines meiner Babys."
Und an anderer Stelle:
"Ich war immer auf der Suche nach meiner Identität. Ich denke, es war fast unvermeidlich, dass die Songs, die ich schrieb – weil sie auf der Gitarre basierten – ein anderes Leben annehmen würden. Ich nehme im Nachhinein an, mich zog es in eine andere Richtung. Aber ich muss eines klarstellen, es lag nicht daran, dass ich die Arbeit, die ich mit Brian Auger und der Trinity machte, nicht liebte. Ich liebte sie und ich würde sie auch heute lieben. Brian hatte gefunden, was er tun wollte, und er hat das perfektioniert. Wohingegen ich wirklich etwas anderes für mich finden musste."
Der introvertierten, sensiblen Person schwebt tatsächlich bald etwas anderes vor als diese Pop-Karriere, diese Art von Berühmtheit: Sie kehrt dem Ruhm den Rücken, verlässt ihre Band mitten auf einer US-Tournee, um kurze Zeit später vom Radar der kommerziellen Musikverwertung zu verschwinden, zugunsten einer Selbstfindung in freier Musik und im Privatleben.
1971 heiratet sie schließlich Keith Tippett, der sie musikalisch neu inspiriert, und nimmt den Namen Julie Tippetts an ( das "s" hat ihr Mann zuvor an seinem Namen gestrichen gehabt ).
Keith Graham Tippetts ist am 25. August 1947 in Bristol geboren. Schon als Teenager hat er auf dem Piano traditionellen Jazz und Bebop gespielt. 1967 geht er als Berufsmusiker nach London. 1969 kommt es zur Zusammenarbeit mit der britischen Band "Soft Machine", die sich stilistisch zwischen dem Artrock und dem Jazz bewegt. Tippetts innovativer Stil prägt seit den 1960er Jahren nicht nur den Jazz, sein markantes Spiel ist auch in der Rockmusik zu hören, u. a. auf Platten von "King Crimson", wo er an drei Platten mitwirkt.
Als Julie Tippetts wendet sie sich nun der Free- und Improvisationsszene zu, die in England auf der experimentellen Seite von Bands wie King Crimson und Soft Machine blüht. Gemeinsam komponiert das Ehepaar das monunmentale Werk "Septober Energy", das 1971 unter dem Namen "Centipede" veröffentlicht wird: Bis zu 50 Musiker aus der ersten Liga der Progressive-Rock- und Jazz-Szene der Insel führen das spektakuläre Werk auf, das bis heute Kritik und Publikum spaltet. 1974 singt Julie auf Carla Bleys Album "Tropic Appetites", arbeitet mit dem Improvisationsquartett "Ovary Lodge" ihres Mannes zusammen und ist am "Theatre Royal Drury Lane"-Konzert des Robert Wyatt beteiligt, einem querschnittgelähmten Schlagzeuger, der zahlreiche namhafte junge Musiker aus der Canterbury-Szene für seine Projekte gewinnen kann.
Ihr zweites Solo - Album "Sunset Glow" erscheint 1974 und wird durchaus noch gefeiert, sieht man sie doch auf Augenhöhe mit der Art-Rock-Legende Robert Wyatt. Sie selbst singt, spielt Klavier, Akustikgitarre und Percussion und wird von zahlreichen Koryphäen der sogenannten Canterbury-Szene unterstützt, darunter auch ihr Mann. Die Titel darauf sind alles andere als Popsongs, sie vereinen Jazz, freie Improvisation, Prog-Rock und Blues. "Das Album hat eine seltsame, traumwandlerische Qualität, als würde man es durch die Schläfrigkeit eines langen, warmen Sommernachmittags hören, die noch lange nach seinem Ende anhält", findet Duncan Heining hier.
Musikalisch wie mit ihrem Privatleben bewegt sich Julie jetzt aber immer weiter unter dem Radar ihrer einstigen Fans. 1977 bringt sie ihre Tochter Inca zur Welt, später noch einen Sohn, Luke. Einblick in die familiäre Situation der einstmals so medial präsenten jungen Frau erhält man nirgends. Sie forscht in dieser Zeit, so sagt sie einmal, nach ihrer eigenen Seele, macht keine großen Auftritte oder gar Tourneen. "Das war ich", meint sie nur dazu.
Seit 1976 arbeitet sie auch als Teil des A cappella-Quartetts "Voice" mit den Sängern Maggie Nicols, Phil Minton und Brian Ely zusammen. Mit der schottischen Jazzsängerin veröffentlicht sie 1978 ebenfalls ein Album: "Sweet and s'Ours".
Die Lücke zwischen "Sunset Glow" und "Shadow Puppeteer", Julies drittem Soloalbum, umfasst einige Jahre. Schon alleine die Aufnahme hat drei Jahre gedauert und ungefähr genauso lange muss die Künstlerin suchen, um eine Plattenfirma für die Veröffentlichung zu finden:
"Für die Leute ist es schwierig, es einzuordnen. Es lässt sich nicht wirklich kategorisieren. Eine Zeit lang hatte ich einen Umschlag voller Ablehnungen. Ich konnte es nie verstehen. Ich dachte, die Leute würden es auflegen und denken: 'Oh mein Gott. Das ist wunderschön.' Ich sagte, ich wollte einfach ein wirklich schönes Album machen."
Mit Keith Tippett |
In der Zwischenzeit hat sie immer wieder mit anderen musiziert. So ist sie an der Peel-Session von "Working Week" beteiligt, einer Band, zu deren Mitgliedern einige aus der experimentellen, frei improvisierenden Szene gehören ( in diesem Musikbeispiel ist Julie gegen Ende zu hören ).
Die 1990er Jahre bieten Julie erneut die Gelegenheit, in mehreren großen Ensembles zu arbeiten, darunter "Mujician and The Georgian Ensemble", "The Dedication Orchestra" (in Erinnerung an die im Exil lebenden südafrikanischen Musiker von "The Blue Notes") und Keith Tippett's "Tapestry".
Es ist auch in den 1990ern gewesen, als die Komikerin Jennifer Saunders eine neue BBC-Sitcom mit einem Retro-Feeling der Sechziger geschrieben hat, "Absolutely Fabulous". Ihr gelingt es doch tatsächlich, Julie ins Studio zu locken, um mit ihr 1992 den Song "This Wheel’s on Fire" als Thema der Show neu zusammen mit dem Comedian Adrian Edmondson aufzunehmen:
1996 gestaltet sie mit ihrem Mann Keith Tippett das Album "Couple in spirit", um dann Anfang der 2000er eine bis heute andauernde Zusammenarbeit mit dem Multi-Instrumentalisten Martin Archer zu beginnen, mit dem sie eine zeitgenössische, genre-offene Version ihrer Musik zwischen Jazz und Elektronik realisieren kann. Archer kennt Julie seit ihrer Plattenaufnahme mit Maggie Nicols und hat auch zwischendurch einige Sessions mit ihr gehabt. Sie schlägt ihm deshalb vor, ein gemeinsames Album herauszubringen. Und schon ist "Ghosts of Gold" fertig. Das ist 2009.
"Ghosts of Gold" scheint eine natürliche Weiterentwicklung von "Sunset Glow" und "Shadow Puppeteer" zu sein. Fünf weitere Alben folgen, das letzte 2022.
Julie sieht es auch als ihre Aufgabe an, ihre musikalischen Erfahrungen & Fähigkeiten in einer Reihe von künstlerischen Bildungsprojekten und Workshops ( sowohl mit Schulkindern als auch mit Erwachsenen ) weiterzugeben. Ab den 1990er Jahren finden mit ihr Kurse für Stimmimprovisation unter ihrer Anleitung an der "Dartington International Summer School", dem "Welsh College of Music and Drama" und bei "Crossings"- Workshops. Schon 1998 hat sie eine Bildungsreise nach Kapstadt unternommen, wo ihre natürliche Fähigkeit zu kommunizieren und andere zu ermutigen, voll zum Tragen gekommen ist.
Mitten in der Corona-Zeit, im Juni 2020 stirbt ihr "Seelenverwandter" Keith Tippett mit knapp 73 Jahren. Details werden in guter Tippetts-Manier nicht bekannt gegeben. Julie selbst, die in einer Woche 76 Jahre alt wird, macht weiter mit der Musik. Inzwischen ist sie anerkannt als eine der führenden europäischen Sängerinnen im Bereich des zeitgenössischen Jazz und der improvisierten Musik. Ihre konsequente Suche nach sich selbst und der ihr eigenen Musik ist beeindruckend in einer Zeit, in der weit weniger begabte Künstlerinnen sich in allen Medien vermarkten (lassen) und sich auf alle erdenkliche Weisen präsentieren. Wie erklärt sie sich das?
"Du kannst deine Wurzeln nicht ausradieren. Dinge, die du in deiner Jugend geliebt hast, die dich wirklich berührt haben, wirst du immer lieben. Warum bringt dich etwas emotional entweder zum Weinen oder zum Lachen? Das liegt daran, dass dich etwas berührt. Das ist die Magie der Musik. Diese ganze Sache des Hörens und Sehens ist für mich eine ständige Quelle des Staunens. Selbst jetzt greift man auf alle Ressourcen zurück – auf all die Dinge, die man ist und war. Ich sehe Musik immer als ein Spiegelbild davon, wer und was du bist und was dein Leben ist."
Julie Driscoll ist an mir völlig vorübergegangen. Weder als junge Frau kannte ich sie noch ist sie mir sonst in all den Jahren begegnet. Wahrscheinlich ist das symptomatisch für sie in gewisser Weise. Entweder man kennt und liebt sie oder man kennt sie gar nicht.
AntwortenLöschenDu bist ja auch immer in Sachen Jazz musikalisch unterwegs. Das war ich so nie.
Auf jeden Fall ist sie ein hochinteressante Frau und sicher eine sehr gute Sängerin. Wie sie ihren Weg gegangen ist und auf sich geschaut und geachtet hat, beeindruckt mich. Andere sind am Ruhm und Rock'nRoller-Leben zerbrochen und haben sich verloren. Sie nicht.
Jetzt kenne ich sie auf jeden Fall ein wenig.
Herzlichst, Sieglinde
Danke Dir! Habe mir gleich Mal wieder "weels on fire" in die Playlist gepackt.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Nina
Mir war Julie Driscoll überhaupt kein Begriff. Danke, dass du mit deinem Portrait mal wieder ein Fenster bei mir aufgestoßen hast.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Andrea
ich werde nachher mal deinen links folgen und mir einiges anhören, denn julie driscoll kenne ich nur dem namen nach. ich bin gespannt, ob ich vielleicht doch einiges wiedererkenne.
AntwortenLöschenliebe grüße
mano