Donnerstag, 1. Juni 2023

Great Women #338: Julie Driscoll

Heute ist mal wieder eine der Göttinnen meines jugendlichen Pop-Himmels dran. Judith Durham, Aretha Franklin, Laura Nyro, Nico, Dusty SpringfieldCass Elliot und Joni Mitchell haben alle schon ihren eigenen Post in meinem Blog bekommen. Ich finde, endlich sollte sie auch mal dran sein: Julie Driscoll. Im inzwischen legendären Beatclub von Radio Bremen habe ich sie damals 1968 entdeckt und war sofort fasziniert.


Julie Driscoll kommt am 8. Juni 1947 im Londoner Proletarierviertel Vauxhall zur Welt. Es müssen eher prekäre Verhältnisse gewesen sein, in denen Julie mit ihrer Schwester Angie aufwächst. Der Vater, ein Trompeter, meist stellungslos, aber manchmal auch Mitglied einer Band, ist nicht zimperlich in seinen Erziehungsmethoden, die Mutter ebenfalls. Die fälscht angeblich Papiere, stopft Julies Busen aus und verpasst ihr eine Betonfrisur, die sie älter macht als fünfzehn, damit sie so mit dem Vater in Nachtclubs auftreten kann. 

Julie nimmt damals sogar eine erste Single bei Columbia auf: "Take Me By The Hand". Doch das Repertoire, das sie singen muss, geht ihr auf die Nerven. "Wenn ich es nicht mehr aushalten konnte", so erinnert sie sich, "schloß ich mich mit einem Transistorradio auf der Toilette ein und hörte Beatmusik." Als ihr die Mutter ihre Elvis-Presley-Platten wegnehmen will, wird Julie handgreiflich. Und nachdem sie auch noch einem Lehrer dir Brille zertrümmert, schicken sie die Eltern in psychiatrische Behandlung. Julie "Jools" gilt als ausgesprochen neurotisch und exzentrisch und mag nicht, wenn man ihr zu sehr auf die Pelle rückt.

"Steampacket" - von links nach rechts:
Rod Stewart, Long John Baldry, Julie, Brian Auger
Ab 1965 arbeitet sie für Giorgio Gomelsky, einen einflussreichen britischen Impresario, Musik-Manager und Produzent mit georgischen Wurzeln, der das Plattenlabel Marmalade Records gegründet hat und bis 1969 betreibt. Sie bearbeitet für ihn die Post, tippt seine Briefe, ist Leiterin des Yardbirds-Fanclubs und versucht nebenher, ihre eigene Gesangeskarriere ans Laufen zu bringen. 

Im gleichen Jahr nimmt Gomelsky den vielversprechenden 26jährigen Brian Auger, einen Organisten, unter seine Fittiche. Auger begleitet die "Yardbirds", ebenfalls in Gomelskys "Stall", auf dem Cembalo bei ihrem ersten Hit "For your love". Darüberhinaus hat er auch seine eigene R&B-Gruppe namens "Steampacket" mit Long John Baldry ( "dem besten Bluessänger Großbritanniens" ) und Baldrys modischem Schützling Rod Stewart ( "Rod war immer unausstehlich – schon damals" ). 

Julie Driscoll wird von ihrem Chef gefragt, ob sie nicht bei der Band mitmachen will, und sie ist einverstanden. Auger ist beeindruckt von der jungen Sängerin, und Julie wird "Mods First Lady" und gleichzeitig Blickfang in einem der führenden Live-Acts Großbritanniens jener Tage, der während ihrer kurzen Existenz aber nie etwas auf Platte veröffentlichen wird. Baldry und Stewart verlassen das Unternehmen dann auch alsbald für eine Solokarriere.

Die Zurückbleibenden gründen 1966 zusammen mit Dave Ambrose (Bass), Clive Thacker (Schlagzeug) und Gary Boyle (Gitarre) "Brian Auger und The Trinity". Diese Gruppe nimmt zwischen den Jahren 1967-69 bemerkenswerte Alben auf: 

"Open" ist das erste, entstanden im Chappell Studio in London, wo die Musiker in fünf Stunden zehn Songs aufgenommen haben. Die Platte hat eine Instrumental-Seite mit Brian Auger und der Trinity, auf der anderen Seite steigt dann Julie Driscoll als Sängerin ein. "Why Am I Treated So Bad", ein Hit der Staple Singers, mit dem die 1967 in die US-Charts gekommen sind, und "Season Of The Witch" des jungen Sängers Donovan. Dieser Song wird später öfter aufgenommen, Julies Version gehört zu den besten.

Schon das erste Album macht deutlich, was für ein Potential die zwanzigjährige Sängerin und der acht Jahre ältere Keyborder haben und in dieser Phase der Geschichte der Popmusik als Ausnahmekünstler zu betrachten sind. Auch die folgenden Gemeinschaftsproduktionen werden Meilensteine in der Rockgeschichte. Leider werden es Julies Eigenkompositionen, die John Peel, einflussreicher Förderer von progressiven Musikstilen über Jahrzehnte, bei einem Auftritt der Sängerin im Londoner Untergrund- Club "Middle Earth" bereits 1967 aufgrund ihrer Schönheit beeindruckt haben, nie auf eine dieser LPs schaffen.

Anfang 1968 spielt Gomelsky Brian Auger und Julie Driscoll die sagenumwobenen "Basement Tapes" mit einigen unveröffentlichten Songs von Bob Dylan vor, die dieser mit "The Band" in einem New Yorker Keller aufgenommen hat. Bereits eingesackt davon hat Manfred Mann "Mighty Quinn, aber "This Wheel's on Fire“ ist noch zu haben. Die Coverversion von Julie und der Trinity wird im Frühjahr 1968 veröffentlicht und erreicht den fünften Platz der englischen Top 10. "Wir gingen auf die Sternenreise und die Köpfe der Menschen gingen durch Ozon", wird Auger später dazu sagen.
 
Julie mit Brian Auger
Françoise Sagan ( siehe auch dieser Post ) schwärmt nach dem Konzert der Band im Pariser Olympia von "etwas unendlich Neuem, voll innerer Klugheit, innerer Verwundbarkeit und voller Pathos".

Julie Driscoll und Brian Auger werden jetzt zum elementaren Bestandteil der Erfolgsgeschichte des Psychedelic-Rock und seiner Szene in London an der Schnittstelle von Rhythm & Blues und Jazz.  Julie wird zum hippen Teenie-Idol inklusive Frisuren-Trendsetting, eine schillernde Muse mit ihrem kurzen "Weltraumzeitalterschnitt" und ihren dunkel umflorten Augen und der Erdnussbutter auf den Lippen.

Die britischen Presse machen sie zu "The Face", die internationalen Magazine "Elle" und "Vogue" zum "Typ 1968" und die Zeitschrift "Melody Maker" jazzt sie in demselben Jahr von zur "größten Hoffnung der internationalen Popmusik" hoch. Das Bildverzeichnis alleine bei "Getty Images" beweist, welch Aufmerksamkeit der jungen Sängerin gewidmet, wie sie zur Mode - Ikone gemacht wird. Ihre altertümliche Rüschenkleider, Häkeloberteile, Flokatimäntel und Schlapphüte vom Trödler werden ein angesagter Stil ( auch bei mir damals ). Es ist die Antwort der Londoner Modeszene auf den Hippie-Trend der Vereinigten Staaten. Schlagzeilen machen auch ihre Gewohnheiten: Julie isst nur Rohkost, verschmäht Alkohol und Zigaretten, und ihr Makeup, das sie millimeterdick aufträgt, muss auf pflanzlicher Basis hergestellt sein - damals völlig abgedreht!

Aber die Medien lieben sie und lösen sie regelrecht aus der Band heraus. Äußerst fotogen, ist "Jools" ebenso eine Kultfigur der Swinging Sixties wie Jean Shrimpton und Twiggy, aber weder sucht sie das, noch genießt sie den Hype. Sie ist und möchte kein Show-Mensch sein.

Sängerisch gilt sie als die weiße Aretha Franklin ( siehe dieser Post ), und wohlwollend wird ihre Stimme als Soulstimme bezeichnet, weniger schmeichelnd als schrill und ihr Tremolo als das einer jugendlichen Säuferin "zwischen Kneipe, Gefängnis und Grab". 

Weil "Wheels on Fire" ein riesiger Hit gewesen ist und  die Band viel zu versprechen scheint, produziert Gomelsky eine exzellente und ausgereifte Version von David Ackles "Road to Cairo", die aber in den Charts scheitert. Trotzdem ist Gomelskys Vertrauen in die Band ungebrochen, und 1969 nehmen sie die Doppel-LP "Streetnoise" auf.

"Streetnoise" enthält schließlich drei Songs von Julie – "Czechoslovakia", als Protest zur sowjetische Invasion in Prag, das folkige "Vauxhall to the Lambeth Bridge" und "A Word About Colour", das vom Text her am stärksten und interessantesten ist. 

Darüberhinaus sind auf dem Album Coverversionen zu finden von "Light My Fire" von The Doors, "Take Me To The Water" von Nina Simone ( siehe dieser Post ), "Save the Country" von Laura Nyro ( siehe dieser Post ), "All Blues" von Miles Davis und "Indian Rope Man" von Richie Havens,  "Let The Sunshine In" und "I Got Life" aus dem Musical "Hair". Julie deckt diese breite Palette musikalischer Einflüsse mühelos ab mit ihrem hochemotionalen und unverwechselbaren Gesang. Mit Brian Augers intensiver Hammond-Orgel ist das Album auch instrumental spannend anzuhören. Später wird es eine Remaster-Version in Luxus-Verpackung geben. 

Heute wird "Streetnoise" von vielen Kritikern als die erste Fusion-Aufnahme angesehen. Das Album spiegelt eine beeindruckende Vielfalt an Einflüssen aus der musikalischen Klanglandschaft wieder, angefangen mit funky Orgelintermezzi bis zum Jazz- Rock. Dazu Julies eindringliche Vokalisation.

Der musikalische Eklektizismus des Duos Driscoll/Auger verhindert aber anscheinend, dass ihre Musik ein Massenpublikum begeistert, da reicht auch kein Auftritt mit der Trinity 1969 im Fernsehspecial "33 1/3 Revolutions Per Monkee", in dem sie prominent vertreten sind und das sich mehr auf sie als Gaststars als auf die "Monkees" selbst konzentriert. Julie singt mit Micky Dolenz von den "Monkees" "I'm a Believer" im Soul-Stil:


Das Album "Jools and Brian" wird von Capitol Records in Los Angeles gepresst. Daraus der Titel "I Know You Love Me Not":


Es wird immer deutlicher, wohin Julies musikalische Reise gehen wird...

Doch zunächst tourt man durch Europa - in Frankreich ist die Gruppe besonders  beliebt, aber auch die deutsche "Bravo" widmet ihr immer wieder etliche Seiten  - 

und in den Vereinigten Staaten- für Julie ist das alles offensichtlich nicht so ganz einfach:
"Ich nehme an, ich musste wirklich viel loswerden. Aber da wir viel gereist sind, hatte ich meine Gitarre dabei. Ich habe mir in New York eine Martin gekauft, die ich immer noch habe und die ich liebe, und ich habe angefangen, viel Material zu schreiben."

Und das alles auch noch in Kombination mit der Zusammenarbeit mit einem Plattenlabel, das von einem verschwenderischen Manager geführt wird. "1969 kehrten wir von einer US-Tournee zurück und stellten fest, dass wir überhaupt kein Geld hatten", erzählt Brian Auger dazu. "Giorgio hatte 24 Mitarbeiter, aber wir waren seine einzige erfolgreiche Band. Alle unsere Einnahmen flossen in die Aufrechterhaltung seines Lebensstils. Er ging dann bankrott und wir wurden beraubt. Julie war so aufgebracht..."

Immer noch unter Vertrag mit Gomelsky, wird 1969 eine Solo-LP von Julie produziert ( "1969 - Julie Driscoll" ), aufgenommen mit einigen der besten der neuen britischen Jazzgeneration und mit einer Reihe von Songs, die alle von Julie selbst stammen. Mehrere Tracks werden von Keith Tippett arrangiert, von dem bald noch mehr die Rede sein wird. 

"Giorgio spielte mir eine Demo von Keiths Musik vor und es war, als würde ich etwas hören, auf das ich gewartet hatte, aber noch nicht wusste, was es war. Wirklich ein ziemlich seltsames Gefühl. Er sagte, ich solle kommen und die Gruppe live hören. .. Ich glaube, es war im 100 Club. Ich war genauso hin und weg und so haben wir uns kennengelernt."

Das Album weist schon auf Julies weniger kommerzielle, experimentellere Richtung hin, verweist auf Julies wachsendes Vertrauen in ihr Songwriting - alle Tracks sind ja von ihr komponiert - und zeigt eine Leichtigkeit, mit der sie sich zwischen der Gruppenvertonung von Nummern wie "A New Awakening" und sanfteren Stücken wie "Those That We Love" und "The Choice" bewegt. "Walk Down" ist der interessanteste Titel, sowohl in Bezug auf seine Struktur, seine Lyrik, als auch in Bezug auf die Art und Weise, wie Julie ihre Stimme einsetzt, um sich vom dichten musikalischen Hintergrund abzuheben. Julie ist auch später noch stolz auf ihre Leistung in puncto "1969". 

"... ich liebe all die Dinge, die ich getan habe. Ich hätte es nicht herausgebracht, wenn ich gedacht hätte, dass es nicht die Zeit überdauern würde. Wenn ich etwas mache, das ich liebe und mit dem ich glücklich bin, dann weiß ich, dass es nicht nur ein Modeding ist. 1969 ist eines meiner Babys."

Und an anderer Stelle: 

"Ich war immer auf der Suche nach meiner Identität. Ich denke, es war fast unvermeidlich, dass die Songs, die ich schrieb – weil sie auf der Gitarre basierten – ein anderes Leben annehmen würden. Ich nehme im Nachhinein an, mich zog es in eine andere Richtung. Aber ich muss eines klarstellen, es lag nicht daran, dass ich die Arbeit, die ich mit Brian Auger und der Trinity machte, nicht liebte. Ich liebte sie und ich würde sie auch heute lieben. Brian hatte gefunden, was er tun wollte, und er hat das perfektioniert. Wohingegen ich wirklich etwas anderes für mich finden musste."

Der introvertierten, sensiblen Person schwebt tatsächlich bald etwas anderes vor als diese Pop-Karriere, diese Art von Berühmtheit: Sie kehrt dem Ruhm den Rücken, verlässt ihre Band mitten auf einer US-Tournee, um kurze Zeit später vom Radar der kommerziellen Musikverwertung zu verschwinden, zugunsten einer Selbstfindung in freier Musik und im Privatleben.

1971 heiratet sie schließlich Keith Tippett, der sie musikalisch neu inspiriert, und nimmt den Namen Julie Tippetts an ( das "s" hat ihr Mann zuvor an seinem Namen gestrichen gehabt ). 

Keith Graham Tippetts ist am 25. August 1947 in Bristol geboren. Schon als Teenager hat er auf dem Piano traditionellen Jazz und Bebop gespielt. 1967 geht er als Berufsmusiker nach London. 1969 kommt es zur Zusammenarbeit mit der britischen Band "Soft Machine", die sich stilistisch zwischen dem Artrock und dem Jazz bewegt. Tippetts innovativer Stil prägt seit den 1960er Jahren nicht nur den Jazz, sein markantes Spiel ist auch in der Rockmusik zu hören, u. a. auf Platten von "King Crimson", wo er an drei Platten mitwirkt.

Als Julie Tippetts wendet sie sich nun der Free- und Improvisationsszene zu, die in England auf der experimentellen Seite von Bands wie King Crimson und Soft Machine blüht. Gemeinsam komponiert das Ehepaar das monunmentale Werk "Septober Energy", das 1971 unter dem Namen "Centipede" veröffentlicht wird: Bis zu 50 Musiker aus der ersten Liga der Progressive-Rock- und Jazz-Szene  der Insel führen das spektakuläre Werk auf, das bis heute Kritik und Publikum spaltet. 1974 singt Julie auf Carla Bleys Album "Tropic Appetites", arbeitet mit dem Improvisationsquartett "Ovary Lodge" ihres Mannes zusammen und ist am "Theatre Royal Drury Lane"-Konzert des Robert Wyatt beteiligt, einem querschnittgelähmten Schlagzeuger, der zahlreiche namhafte junge Musiker aus der Canterbury-Szene für seine Projekte gewinnen kann.

Ihr zweites Solo - Album "Sunset Glow" erscheint 1974 und wird durchaus noch gefeiert, sieht man sie doch auf Augenhöhe mit der Art-Rock-Legende Robert Wyatt. Sie selbst singt, spielt Klavier, Akustikgitarre und Percussion und wird von zahlreichen Koryphäen der sogenannten Canterbury-Szene unterstützt, darunter auch ihr Mann. Die Titel darauf sind alles andere als Popsongs, sie vereinen Jazz, freie Improvisation, Prog-Rock und Blues. "Das Album hat eine seltsame, traumwandlerische Qualität, als würde man es durch die Schläfrigkeit eines langen, warmen Sommernachmittags hören, die noch lange nach seinem Ende anhält", findet Duncan Heining hier

Musikalisch wie mit ihrem Privatleben bewegt sich Julie jetzt aber immer weiter unter dem Radar ihrer einstigen Fans. 1977 bringt sie ihre Tochter Inca zur Welt, später noch einen Sohn, Luke. Einblick in die familiäre Situation der einstmals so medial präsenten jungen Frau erhält man nirgends. Sie forscht in dieser Zeit, so sagt sie einmal, nach ihrer eigenen Seele, macht keine großen Auftritte oder gar Tourneen. "Das war ich", meint sie nur dazu. 

Sie singt, spielt, improvisiert und komponiert sich in den folgenden Jahrzehnten in verschiedenen Konstellationen oder auch als Solistin durch die Welt der Avantgarde-Musikszene mit gelegentlichen Veröffentlichungen klassischerer Machart wie das gemeinsame Album mit Brian Auger von 1978: "Encore". Der Titel "Don't Let Me Be Misunderstood" erinnert noch an die alte Julie Driscoll bzw. die Aufnahmen mit der "Trinity".

Seit 1976 arbeitet sie auch als Teil des A cappella-Quartetts "Voice" mit den Sängern Maggie Nicols, Phil Minton und Brian Ely zusammen. Mit der schottischen Jazzsängerin veröffentlicht sie 1978 ebenfalls ein Album: "Sweet and s'Ours".

Die Lücke zwischen "Sunset Glow" und "Shadow Puppeteer", Julies drittem Soloalbum, umfasst einige Jahre. Schon alleine die Aufnahme hat drei Jahre gedauert und ungefähr genauso lange muss die Künstlerin suchen, um eine Plattenfirma für die Veröffentlichung zu finden: 

"Für die Leute ist es schwierig, es einzuordnen. Es lässt sich nicht wirklich kategorisieren. Eine Zeit lang hatte ich einen Umschlag voller Ablehnungen. Ich konnte es nie verstehen. Ich dachte, die Leute würden es auflegen und denken: 'Oh mein Gott. Das ist wunderschön.'  Ich sagte, ich wollte einfach ein wirklich schönes Album machen."

Mit Keith Tippett
Nach 30 Jahren im Geschäft und über 25 Jahren mit ihrem Ehemann gibt sich Julie völlig "nackt", insofern als sie alleine alle Instrumente auf dem Album spielt und alle Stimmen ihr gehören. Sie nutzt dafür das 8-Spur-Studio eines Freundes. Sie ist "ins Freie gegangen und hat ein Traumwerk für die Ewigkeit geschaffen", um den US-amerikanischen Musikjournalisten Thom Jurek zu zitieren.

In der Zwischenzeit hat sie immer wieder mit anderen musiziert. So ist sie an der Peel-Session von "Working Week" beteiligt, einer Band, zu deren Mitgliedern einige aus der experimentellen, frei improvisierenden Szene gehören ( in diesem Musikbeispiel ist Julie gegen Ende zu hören ).

Die 1990er Jahre bieten Julie erneut die Gelegenheit, in mehreren großen Ensembles zu arbeiten, darunter "Mujician and The Georgian Ensemble", "The Dedication Orchestra" (in Erinnerung an die im Exil lebenden südafrikanischen Musiker von "The Blue Notes") und Keith Tippett's "Tapestry".

Es ist auch in den 1990ern gewesen, als die Komikerin Jennifer Saunders eine neue BBC-Sitcom mit einem Retro-Feeling der Sechziger geschrieben hat, "Absolutely Fabulous". Ihr gelingt es doch tatsächlich, Julie ins Studio zu locken, um mit ihr 1992 den Song "This Wheel’s on Fire" als Thema der Show neu zusammen mit dem Comedian Adrian Edmondson aufzunehmen:


1996 gestaltet sie mit ihrem Mann Keith Tippett das Album "Couple in spirit", um dann Anfang der 2000er eine bis heute andauernde Zusammenarbeit mit dem Multi-Instrumentalisten Martin Archer zu beginnen, mit dem sie eine zeitgenössische, genre-offene Version ihrer Musik zwischen Jazz und Elektronik realisieren kann. Archer kennt Julie seit ihrer Plattenaufnahme mit Maggie Nicols und hat auch zwischendurch einige Sessions mit ihr gehabt. Sie schlägt ihm deshalb vor, ein gemeinsames Album herauszubringen. Und schon ist "Ghosts of Gold" fertig. Das ist 2009. 

"Ghosts of Gold" scheint eine natürliche Weiterentwicklung von "Sunset Glow" und "Shadow Puppeteer" zu sein. Fünf weitere Alben folgen, das letzte 2022.

Die Texte stammen aus einer von Julies Gedichtsammlungen unter dem Titel "Mirror Image", die Musik stammt meist von Archer. Aus dem Aufeinandertreffen zweier so starker musikalischer Persönlichkeiten entsteht ein großer musikalischer Reichtum, allerdings abseits des Mainstreams.

Julie sieht es auch als ihre Aufgabe an, ihre musikalischen Erfahrungen & Fähigkeiten in einer Reihe von künstlerischen Bildungsprojekten und Workshops ( sowohl mit Schulkindern als auch mit Erwachsenen ) weiterzugeben. Ab den 1990er Jahren finden mit ihr Kurse für Stimmimprovisation unter ihrer Anleitung an der "Dartington International Summer School", dem "Welsh College of Music and Drama" und bei "Crossings"- Workshops. Schon 1998 hat sie eine Bildungsreise nach Kapstadt unternommen, wo ihre natürliche Fähigkeit zu kommunizieren und andere zu ermutigen, voll zum Tragen gekommen ist.

Mitten in der Corona-Zeit, im Juni 2020 stirbt ihr "Seelenverwandter" Keith Tippett mit knapp 73 Jahren. Details werden in guter Tippetts-Manier nicht bekannt gegeben. Julie selbst, die in einer Woche 76 Jahre alt wird, macht weiter mit der Musik. Inzwischen ist sie anerkannt als eine der führenden europäischen Sängerinnen im Bereich des zeitgenössischen Jazz und der improvisierten Musik. Ihre konsequente Suche nach sich selbst und der ihr eigenen Musik ist beeindruckend in einer Zeit, in der weit weniger begabte Künstlerinnen sich in allen Medien vermarkten (lassen) und sich auf alle erdenkliche Weisen präsentieren. Wie erklärt sie sich das?

"Du kannst deine Wurzeln nicht ausradieren. Dinge, die du in deiner Jugend geliebt hast, die dich wirklich berührt haben, wirst du immer lieben. Warum bringt dich etwas emotional entweder zum Weinen oder zum Lachen? Das liegt daran, dass dich etwas berührt. Das ist die Magie der Musik. Diese ganze Sache des Hörens und Sehens ist für mich eine ständige Quelle des Staunens. Selbst jetzt greift man auf alle Ressourcen zurück – auf all die Dinge, die man ist und war. Ich sehe Musik immer als ein Spiegelbild davon, wer und was du bist und was dein Leben ist."

4 Kommentare:

  1. Julie Driscoll ist an mir völlig vorübergegangen. Weder als junge Frau kannte ich sie noch ist sie mir sonst in all den Jahren begegnet. Wahrscheinlich ist das symptomatisch für sie in gewisser Weise. Entweder man kennt und liebt sie oder man kennt sie gar nicht.
    Du bist ja auch immer in Sachen Jazz musikalisch unterwegs. Das war ich so nie.
    Auf jeden Fall ist sie ein hochinteressante Frau und sicher eine sehr gute Sängerin. Wie sie ihren Weg gegangen ist und auf sich geschaut und geachtet hat, beeindruckt mich. Andere sind am Ruhm und Rock'nRoller-Leben zerbrochen und haben sich verloren. Sie nicht.
    Jetzt kenne ich sie auf jeden Fall ein wenig.
    Herzlichst, Sieglinde



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  2. Danke Dir! Habe mir gleich Mal wieder "weels on fire" in die Playlist gepackt.
    Liebe Grüße
    Nina

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  3. Mir war Julie Driscoll überhaupt kein Begriff. Danke, dass du mit deinem Portrait mal wieder ein Fenster bei mir aufgestoßen hast.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. ich werde nachher mal deinen links folgen und mir einiges anhören, denn julie driscoll kenne ich nur dem namen nach. ich bin gespannt, ob ich vielleicht doch einiges wiedererkenne.
    liebe grüße
    mano

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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