Donnerstag, 21. April 2022

Great Women #297: Vivian Maier

Heute die dritte Frau in Folge, deren Leben so manches Geheimnis birgt und die beweist, wie viel Frauen leisten, so ganz unbemerkt von ihrer Umgebung. Die heutige Great Woman ist ins Scheinwerferlicht dieser Welt kurz nach ihrem Tod geraten, und das auch nur durch einen jungen Mann. Dabei hat sie uns wunderbare Fotos hinterlassen. Die Rede ist von Vivian Maier, die heute vor 13 Jahren gestorben ist.
CC BY-SA 4.0

"Wir müssen Raum für andere Menschen schaffen.
Es ist ein Rad. Du steigst ein, du gehst bis zum Ende 
und jemand anderes hat die gleiche Chance, 
bis zum Ende zu gehen- und so weiter.
Unter der Sonne gibt es nichts Neues."

Vivian Dorothy Maier  wird am 1. Februar 1926 in der Bronx in eine Immigrantenfamilie heineingeboren. Ihre Mutter Maria Jaussaud, 28 Jahre alt, hat südfranzösische Wurzeln, ihr Vater Charles Maier, vier Jahre älter, entstammt einer österreichischen Familie. Seine Eltern Wilhelm und Maria von Mayer sind 1905 mit ihm und seiner Schwester auf Ellis Island gelandet. Die Region, aus der die Familie von Mayer gekommen ist, ist eine ungarische Provinz gewesen, die heute in der Slowakei liegt. Aus dem Familiennamen von Mayer wird Maier, als sie sich 1912 in den USA einbürgern. Vivian hat noch einen sechs Jahre älteren Bruder, der ebenfalls Carl bzw. Charles heißt.

Die Familienverhältnisse sind wohl sehr desolat, denn der Vater - als egoistischer, aggressiver Alkoholiker und verschuldeter Spieler von Zeitzeugen, darunter die eigene Mutter, beschrieben - hat die Familie immer wieder mal verlassen, endgültig dann 1930. Ab da wird die vierjährige Vivian mit ihrer Mutter in einem Haushalt in Boston bei einer Volkszählung erfasst. Als Haushaltsvorstand wird die französische Bildhauerin und Porträt-Fotografin Jeanne Bertrand geführt. Diese Jeanne stammt aus Agnières-en-Dévoluy, einer kleinen Gemeinde von Hirten ungefähr zwanzig Kilometer westlich von Saint-Julien-en-Champsaur im Département Hautes-Alpes im alpinen Südosten Frankreichs gelegen, dem Geburtsort von Vivians Mutter. Und eine Cousine dieser Jeanne ist vor fast dreißig Jahren zusammen mit Vivians damals noch minderjähriger Großmutter Eugénie nach New York ausgewandert. 

Vallée de Champsaur um 1900
In ihrer südfranzösischen Heimat hat Eugénie Jaussaud als 16jährige unverheiratet ihre Tochter Maria 1897 auf dem Familiengut Beauregard zur Welt gebracht - eine Schande zur damaligen Zeit. Der Kindsvater, ein Knecht und Landarbeiter, hat sich weder zu Eugénie bekannt, noch die Vaterschaft anerkannt. Arm und ausgestoßen ist der jungen Frau eine Zukunft in der neuen Welt als Lösung erschienen, zumal Bekannte aus dem Champsaur-Tal schon dort leben. Finanziert hat die Überfahrt den Beiden ein Onkel jener Jeanne Bertrand. Im Mai 1901 kommen sie in New York an.

Auch der Vater von Maria ist 1901 in die Staaten ausgewandert, kehrt aber im Jahr von Vivians Geburt ins Vallée de Champsaur zurück. Eugénie Jaussaud hingegen arbeitet als Haushälterin, ihr ganzes Leben lang, immer in wohlhabenden amerikanischen Großfamilien, die viele Hausangestellte haben. Die Tochter Maria, die bis dahin bei ihrer unverheirateten Tante Marie Florentine Jaussaud gelebt hat, verlässt ihrerseits ihre Heimatregion, um für eine Amerikanerin, die Europa bereist, zu arbeiten. Nach einigen Monaten in Italien schifft sich diese mit Maria auf der "France" ein, die am 19. Juni 1914 New York erreicht. Dreizehn Jahre haben sich Mutter und Tochter da nicht gesehen.

Maria kommt nur schlecht und recht zurecht, spricht kein Englisch, hat keine Ausbildung und bei der Wahl ihres Ehemannes, den sie 1919 heiratet, hat sie auch kein gutes Händchen. Sie erhält so allerdings die amerikanische Staatsangehörigkeit. Die Ehe ist von Anfang an schwierig, und es gibt Hinweise, dass der Bruder Carl/Charles ein illegitimes Kind ist.

Maria hält sich mit Jobs über Wasser, die ihr ihre ungleich lebenstüchtigere Mutter in Haushalten gehobener Kreise vermittelt. Die Großmutter erweist sich in schwierigen Zeiten als kluge, umsichtige Person und als warmherzige und verantwortungsvolle Familienälteste, die sich um ihre Enkelkinder kümmert, wenn es wieder zu Zerrüttungen zwischen den Eltern kommt. Das Mädchen wächst in einem Sprachgemisch aus Deutsch, Französisch, Englisch auf. 

Nach der endgültigen Trennung der Eltern wird der Bruder seinen Großeltern väterlicherseits anvertraut, Vivian zieht mit Maria zur besagten Jeanne Bertrand. Diese ist bereits 1906 auf einer Fotoausstellung in Boston aufgefallen und wird eine angesehene Fotografin und schließlich auch noch eine talentierte Bildhauerin in New York - eine erstaunliche Reise für ein Mädchen aus der tiefsten französischen Provinz, die sie im Alter von zwölf Jahren verlassen hat.

So kommt Vivian schon in jungen Jahren in Kontakt mit einer professionellen Fotografin. Doch bereits 1932 entscheidet ihre Mutter, mit Vivian in die heimatliche Alpenregion zurückzukehren. Ob sie sich für eine dauerhafte Heimkehr entschieden hat, weiß man nicht zu sagen. Tatsächlich wird das Anwesen der Familie - Beauregard - nur von der alleinstehenden und kinderlosen Tante bewohnt und logischerweise eines Tages Eigentum von Maria bzw. Vivian werden.

Maria mit ihrer Mutter links, Beauregard rechts
Vivian lernt im Champsaur ihre Cousins & Cousinen kennen, mit denen sie gerne draußen spielt und die Wege zwischen den kleinen Orten erkundet. Sie entdeckt die Existenz ihres Großvaters mütterlicherseits, der sich nach seiner Rückkehr in einem Haus in in der Nähe niedergelassen und 1932 vor einem Notar sogar seine Vaterschaft bekannt hat. Und sie besucht die Vorschule zur Vorbereitung auf die "richtige" Schule des Ortes.

1934 zieht Maria Maier mit ihr aus  dem Gut der Familie in eine Wohnung in Saint-Bonnet-en-Champsaur, fünf Kilometer von Saint-Julien entfernt. Vivian wird die nächsten Jahre bis zu ihrem zwölften Lebensjahr in diesem Dorf verbringen und dort die Schule besuchen. Sie spricht jetzt perfekt Französisch. Warum ihre Mutter sich 1938 entscheidet, in die USA zurückzukehren - das bleibt eine offene Frage. Will sie ihren Sohn wiedersehen oder hofft sie auf besser bezahlte Arbeit, die das Champsaur-Tal kaum bieten kann? Am 1. August 1938 verlassen sie die Region und gehen an Bord der "Normandie", die Le Havre mit New York verbindet, und beziehen dann in Manhattan in der 64th Street eine Wohnung.

Vivian muss die englische Sprache neu lernen. Sie wird einmal erzählen, dass sie es im Theater und im Kino getan hat. Die Freiheit des ländlichen Frankreichs, wo jeder jeden kennt, vermisst sie nach eigenem Bekenntnis. Eine Gelegenheit zu einer besseren Schulausbildung bekommt sie nicht: sie erwirbt keinen High-School-Abschluss. Sie wird als Verkäuferin arbeiten, wahrscheinlich im "Silk Shop" des Ehemannes der Schwester ihres Vaters. Als sie 1950 einen Pass beantragt, steht in der dazugehörigen Akte "Arbeiterin".

In Frankreich
(1950; Jeffrey Goldstein Collection)
1948 stirbt ihre Großmutter Eugénie und hinterlässt Vivian ein Drittel ihrer Ersparnisse. Und in St. Julien en Champsaur erbt sie das Anwesen Beauregard, denn das Testament der Tante schließt die Mutter davon aus. Der neue amerikanische Pass erlaubt Vivian eine Reise dorthin. Sie bleibt bis 1951, um den Verkauf zu regeln, denn sie hat beschlossen, das Gut zu versteigern, welches aus fünfzehn Hektar Land und einem großen Gebäude besteht. 

Die 24jährige erweist sich als Geschäftsfrau: Sie bietet mehrere Lose zur Versteigerung an und zieht sich zurück, wenn ihr das Angebot nicht ausreicht. Während sie auf die Abwicklung des Geschäfts wartet, streift sie mit dem Rad durch das malerische Tal, um ihre überall verstreuten Verwandten zu besuchen, und fotografiert mit ihrer Kodak-"Brownie"-Kamera, einer sehr einfachen Boxkamera für Rollfilme mit nur einer Belichtungszeit.

Bei jeder Begegnung entsteht ein Foto. Und die Modelle posieren gerne, sind sie doch überrascht und haben Spaß daran, sich von dieser jungen Frau, die bei jedem Wetter allein unterwegs ist, fotografieren zu lassen. Ein Landbewohner erzählt später seine Erinnerungen:
"Als wir von der Messe zurückkamen, hielt sie am Rand des Wildbachs an, bewunderte die Eisskulpturen, die den Bach säumten, bat uns, an den Rand des Flusses zu kommen, um Fotos zu machen. Wir akzeptierten, obwohl die Kälte schrecklich war. Nichts hielt sie ab. ... Sie machte bei jeder Gelegenheit Fotos. Eines Tages hielt ich eine kleine Katze in meinen Armen, sie vervielfachte die Aufnahmen, während ich vor der Tür des Familienhauses posierte." ( Quelle hier; viele der Aufnahmen sind dort zu finden )

Manche Bauern wiederum können ihre Leidenschaft nicht nachvollziehen und halten sie für ein Spionin, die die umliegenden Landschaften, die Berge, Gipfel und Pässe auskundschaftet. Mit der Nachbarsfamilie ihres Großvaters versteht sie sich hingegen so gut, dass sie mit deren Tochter die Arbeit auf den Feldern teilt, was sie sich wie eine Hirtin fühlen lässt. Sie fotografiert folglich auch das raue und einfache Leben der Bergbewohner und macht viele Bilder von Nutztieren.

Nach Abschluss des Verkaufes des Familiengutes erwirbt Vivian eine Grabstelle in St. Julien, lässt die sterblichen Überreste der Tante dorthin überführen und einen Stein auf dem Grab errichten. Dann kehrt sie im April 1951 nach New York zurück. Ab diesem Zeitpunkt schweigt Vivian über ihre Familie und schließt sich weder Mutter, noch Vater, noch Bruder wieder an, als ob ihr ein Riss in ihrer Familie & böse Familiengeheimnisse nach dem Besuch der französischen Familienangehörigen bewusst geworden wären. Wohl trifft sie aber die Fotografin Jeanne Bertrand, von der es ein hinreißendes Porträt gibt. Sie hat sich auch mehr als einmal mit ihr und ihren Kollegen, die mit ihren Kameras Karriere gemacht haben, getroffen und von ihnen wahrscheinlich gelernt.

Das Geld aus dem Nachlass dient ihr nun dazu, ihre beiden Leidenschaften, der Fotografie und dem Reisen, zu frönen. 1952 investierte Vivian Maier ihr Geld erst einmal in eine zweiäugige Rolleiflex im Mittelformat. Die Kindermädchenjobs nimmt sie ab jetzt nur an, um ein Dach überm Kopf und ein paar Dollar fürs alltägliche Leben zu haben.

1956 lässt sich Vivian Maier dauerhaft in Chicago nieder. Dort hat sie sogar den Luxus einer Dunkelkammer in Ihrem Badezimmer und sie entwickelt ihre Filme und Abzüge damals selbst ( in den frühen Siebzigern hört sie mangels Möglichkeiten damit auf ). Sobald sie eine freie Minute als Nanny hat, läuft sie durch die Straßen und fotografiert den Alltag der Menschen. Fachkundig ist ihr Blick auf Passanten und Alltagsszenen gerichtet, die uns heute noch einen genauen Eindruck vom täglichen Leben in der Großstadt in diesen Zeiten vermitteln.

1958
(Ron Slattery Negative Collection) 
Gleichzeitig ist sie in jenen Jahren eine unermüdliche Weltenbummlerin: Kanada wird ihr oft einen Besuch wert sein. Die Karibik wird sie bei mehreren Gelegenheiten heimsuchen, Puerto Rico, Kuba, Mittelamerika und Südamerika und immer wird sie einige Tage in allen großen Städten bleiben.

Eines Tages dann der ganz große Aufbruch: 1959 akzeptieren ihre Arbeitgeber einen sechsmonatigen Urlaub, genau das, was Vivian braucht, um um die Welt zu reisen. Sie startet von Los Angeles aus und wird ein halbes Jahr später in New York wieder ankommen. Allein bereist sie Manila, Shanghai, Bangkok, Kochi in Indien. Sie wagt sich in den Jemen, bereist die antiken Stätten von Kairo. Über Italien geht es dann nach Frankreich, ins Tal ihrer Kindheit. 

Dort greift sie ihre langen Radtouren wieder auf und fotografiert die Dörfer, die Bewohner, die Landschaften dieses Tals, das ihre Kindheitserinnerungen bewahrt hat. Sie trifft ihre ehemalige Lehrerin, macht ein Selbstporträt in der Schule ihrer Kindheit - tausende Fotos werden von dieser Reise erzählen, Fotos aus einer anderen Epoche. 

Das Vallée de Champsaur wird Vivian Maier nie mehr wiedersehen. 1960 bereist sie noch einmal die Küsten von Florida, 1965 Westindien. Der Rest ist Schweigen. 

Bleibend aber die Leidenschaft für die Fotografie. Doch sie entscheidet sich eindeutig dafür, ihre Bilder nicht zu teilen, solange sie lebt. Sie führt ein Leben als unabhängige Frau und kultiviert eine geheimnisvolle Aura, während sie nach außen eine Nanny für sehr, sehr viele Kinder ist und es vierzig Jahre bleiben wird. Sie legt sie sich diverse Namen zu, lässt sich Viv, Vivian, Vivianne, Kiki nennen, auch Miss Maier oder Miss Smith, und verwendet unterschiedliche Pseudonyme bei der Arbeit, in Geschäften oder für ihre Korrespondenz. Manche ihrer Schützlinge erinnern sich an sie als eine liebevolle und fantasiebegabte Nanny, andere beschreiben sie als furchteinflößend und grausam. Außergewöhnlich ist, wie sie ihre Aufgabe gestaltet: Sie nimmt die Kinder mit in den Schlachthof oder Industriebrachen, hilft ihnen beim Gestalten von Schildern für den Verkauf von Limonade am Straßenrand, organisiert Ausflüge in Parks oder an den Strand und nimmt an politischen Veranstaltungen teil. Immer dabei: Ihre Kamera.

Selbstporträt New York
Gestartet hat sie als Fotografin in Frankreich, aber ihre Fotografierstrategien bleiben immer gleich, egal ob  im Champsaur, New York oder Chicago. Ihre frühesten bekannten Fotografien zeigen schon eine selbstbewusste und informierte Fotografin, keine übliche Schnappschuss-Shooterin. Vivian  ist geradezu begnadet auf dem Gebiet der  Straßenfotografie. Sie beherrscht auch alle dafür nötigen Tricks. Dazu Joel Meyerowitz, ebenfalls Straßenfotograf: 

"Abtauchen, zum Scheinrückzug antreten, herumtänzeln und -wirbeln, das alles im Wechselschritt, während der Blick durch Menschenaufläufe und Versammlungen schweift, Alleen und Gassen entlang, durch Parks und über Strände, kurz, überall dort, wo das Alltagsleben unsere Aufmerksamkeit bannt und unsere Sehnsucht weckt. Und unsere Unsichtbarkeit hilft uns, den Göttern das Feuer zu stehlen, ohne dabei ertappt zu werden.“

"Das wirklich beeindruckende an diesen mit der Rolleiflex entstandenen Arbeiten ist das Miteinander von Spontaneität und Genauigkeit: Stets sind die Kompositionen perfekt austariert, doch trotzdem ist das Bild selbst eine Mischung aus Zufall und blitzschneller Erfassung des so besonderen Moments", schreibt Marc Peschke hier anlässlich einer Ausstellung in Hamburg 2011.

In den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wechselt die Fotografin auch zum Farbfilm Kodak Ektachrome mit einer Leica IIIc sowie vielen deutschen Spiegelreflexkameras. Darüberhinaus legt sie nun eine weitere Besessenheit an den Tag, was Details des alltäglichen Lebens anbelangt, und häuft  Zeitungen, Hüte und anderem Schnickschnack an. Manche Arbeitgeber*innen sprechen von Messietum.

1975 stirbt Vivians Mutter in New York, ohne ihre Kinder im Nachlass zu erwähnen. Zwei Jahre darauf stirbt der Bruder, an Schizophrenie erkrankt, in einer psychiatrischen Einrichtung in New Jersey, in der er seit 22 Jahren untergebracht ist. Warum Vivian darum ein Geheimnis macht? "Wie viele Familien der oberen Mittelklasse … wollen ein Kindermädchen mit einem gewalttätigen alkoholkranken Vater, einer instabilen Mutter und einem drogenabhängigen Bruder einstellen, der vorbestraft ist und in psychiatrischen Einrichtungen lebt?", meint Ann Marks, die über Vivians Familienleben geforscht hat. 

Bis 1993 arbeitet Vivian Maier in solchen Familien als Kindermädchen. Bei neuen Arbeitgebern stellt sie sich bis dahin mit ihrem französischem Akzent so vor: "I come with my life and my life is in boxes". Ein Badezimmer zum Entwickeln hat sie da schon lange nicht mehr, die allermeisten ihrer Bilder sieht sie allenfalls als Negative und sehr viele gar nicht, weil sie kein Geld für die Entwicklung hat. Es stellt sich die Frage, ob der Akt des Fotografierens - ihre größte Passion und zugleich eine Form, aus ihrer verschlossenen Existenz heraus am Leben anderer teilzuhaben - vielleicht wichtiger gewesen ist als das Schaffen von Abzügen. Dafür spricht auch, dass sie meist nur einen Schnappschuss von jeder Situation gemacht hat.

Nicht mehr berufstätig, verarmt Vivian, wird zeitweise sogar obdachlos und erhält Sozialhilfe, wird anschließend aber von dreien der Kinder unterstützt, die sie zu deren Kinderzeit betreut hat und die sie als zweite Mutter erfahren haben. Sie schmeißen das Geld für Vivians Wohnung & den Lebensunterhalt zusammen. 

Die Boxen der ehemaligen Nanny, in denen ihr ganzes Leben in Form von Briefen, Kleidung und Quittungen, sogar von nicht eingelösten Schecks steckt neben jenen mit ihren rund sechstausend Filmen ( darunter zweitausend noch nicht entwickelte ) hat sie in einem entsprechenden Lager verwahrt. Als sie das Geld für die Lagermiete nicht mehr aufbringen kann, kommt es 2007 zur Zwangsversteigerung.



Der Immobilienmakler und Hobbyhistoriker John Maloof, ein junger Spund von 26 Jahren, erwirbt dabei für 380 Dollar eine Kiste mit Maiers Negativen. Für seine Zwecke - Fotos zur Bebilderung für ein geplantes Buch zur Stadtgeschichte - taugen sie nichts, aber er ist begeistert von den Aufnahmen. Er scannt zweihundert Motive, stellt sie ins Internet und erntet enthusiastische Reaktionen. Zwei weitere Käufer anderer Konvolute erkennen ebenfalls die überragende Qualität von Vivians Werk.



Die rutscht 2008 auf Glatteis aus und zieht sich eine Kopfverletzung zu, von der sie sich nicht mehr erholt und am 21. April 2009 mit 83 Jahren in einem Pflegeheim verstirbt. Zwei Jahre nachdem er die erste Kiste gekauft hat, googelt John Maloof den Namen, den er in der Kiste gefunden hat, erneut und zu seiner Überraschung findet sich jetzt eine Anzeige, die von Vivian Maiers Tod wenige Tage zuvor kündet. Der kurze Text enthält gerade genug Informationen, um daraus schließen zu können, dass sie als Kindermädchen in  Vororten von Chicago gearbeitet hat.

"Warum sollte eine Fotografin mit der leidenschaftlichen Hingabe, der kreativen Vision und dem formalen Geschick eines Robert Frank, einer Diane Arbus oder eines Garry Winogrand ihre Arbeit der Welt vorenthalten und sich stattdessen dafür entscheiden, ihr Leben damit zu verbringen, die Kinder anderer Menschen großzuziehen?"  
Das fragt sich nicht nur Rose Lichter-Marck, eine Drehbuch-Autorin, im "New Yorker". So fragen sich auch die beiden anderen Käufer der Hinterlassenschaften, denn der untrügliche Blick für besondere Details, an denen andere achtlos vorbei gehen, die Kompositionen, die ästhetisch höchst ausgeklügelt, obwohl sie Schnappschüsse sind, die oft schrägen oder skurrilen Zufallseindrücke, die ganze Geschichten zu erzählen scheinen, diese ganz spezielle Vivian-Maier-Aura traut man einem bloßen Kindermädchen nicht zu.

Obwohl sie ihre Kunst verborgen hat - vernichtet hat Vivian Maier sie eben nicht. Ein moralischer Konflikt bleibt.

Eine erste Einzelausstellung zeigt das Chicago Cultural Center von Januar bis April 2011. In Deutschland sind im gleichen Zeitraum ihre Fotografien in der Hamburger Galerie Hilaneh von Kories zu sehen,  gefolgt weiteren Ausstellungen im Amerika-Haus in München noch im gleichen Jahr, 2015 in Monschau und im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Im November 2011 publiziert John Maloof den Bildband "Vivian Maier Street Photographer" sowie zwei Jahre später den oskarnominierten Dokumentarfilm "Finding Vivian Maier" und zwei weitere Fotobände. 

Der zweite Käufer, Jeffrey Goldstein, will da nicht das Nachsehen haben und bringt einen Band mit Fotos aus seiner Sammlung heraus. Zusammen mit dem dritten im Bunde, Ron Slattery, steigt man mit Originalvergrößerungen ins Kunstgeschäft ein. Und das Geschäft mit Vivian Maier läuft und läuft...

Aber auch die Fragen, warum die Kunst der Vivian Maier zu ihren Lebzeiten so im Verborgenen geblieben ist zum Beispiel, beschäftigen seit Jahren die Gemüter. Ein bisschen ist das wie bei Jutta Hipp, dass man weibliche Lebensentwürfe begreifen möchte, aber es nicht hinbekommt ( und es besser sein lässt ). "Biografen behandeln ikonoklastische Frauen wie Yoko Ono, Marie Curie, Emily Dickinson und Vivian Maier oft als Probleme, die gelöst werden müssen", meint dazu Rose Lichter-Marck. Solche unkonventionellen Lebensentwürfe von Frauen werden tatsächlich gerne mit Geisteskrankheiten, Traumata oder sexueller Unterdrückung erklärt und nicht als aktive, selbstbestimmte Reaktionen auf strukturelle Herausforderungen oder einfach durch bloße Vorlieben. Vivian Maier fordert uns heraus - mal von den schönen Fotos abgesehen -, unsere Vorstellungen darüber, wie ein Mensch, eine Künstlerin und insbesondere eine Frau sein soll, zu hinterfragen.






12 Kommentare:

  1. Liebe Astrid,

    wieder mal - was für ein Frauenporträt von dir geschrieben.

    Der erste Gedanke, der mir kommt:
    bedauernswert. Solch eine Kindheit, Jugend. Hin- und herziehen müssen mit einer instabilen Mutter, die wohl überhaupt nicht als Mutter geeignet war. Dann das Erwachsenwerden und immer wieder kämpfen müssen, um seinen Neigungen und künstlerischen Lieben nachgehen zu können.

    Auch wenn es nicht zu verstehen ist, den Bruder nicht zu erwähnen.

    So große Kunst und dann so verarmt gestorben, ungerecht das Ganze.

    Danke für`s Vorstellen,

    viele Grüße
    Claudia

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  2. Und wieder ein Name, der mir zuerst nicht viel sagte, außer "Da ist etwas mit Fotografien..." . Was für ein zerrissenes Leben, gespalten und doch durch einiges geeint. Und sollte man nicht generell Menschen zubilligen, nur das der Welt zu zeigen, wofür sie sich selbst entscheiden? Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Den Ruhm sammeln nun andere, wie so oft. Aber es gibt durchaus Menschen, die Ruhm in ihrem Leben nicht brauchen.Und trotz aller Widerstände und unseligen Umstände hat sie sich durchgekämpft. Wenn man das mit dem häufigen Gejammere heutzutage vergleicht...Danke für die ausführliche Information über diese interessante Frau. Herzlich, Sunni

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  3. Vivian Maier finde ich seit längerem schon ungemein spannend. Die Dokumentation habe ich natürlich schon begeistert gesehen. Dein Portrait ist sehr bereichernd und macht mich schon wieder neugierig. Das Zitat am Ende von Rose Lichter-Marck ist nur zu wahr. Nicht ins übliche Bild reinzupassen, wird meist nur Männern zugebilligt.
    Danke für die Arbeit und die tolle Ausführung, liebe Astrid.
    Herzliche Grüße
    Andrea

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  4. chère Astrid, Vivian Maier avait un don exceptionnel * j'adore l'appareil photo qu'elle utilisait pour prendre de façon discrète des images des passants * peut-être est-ce cet anonymat qui lui a permis de composer son œuvre de façon personnelle * je pense à cette foule citadine et ces personnages qu'elle observait et qu'elle a si brillamment fixés sur pellicule comme un témoignage de son temps *
    merci pour ton article !
    liebe grüsse
    mo

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  5. Begabt zu sein heißt nicht unbedingt, lebenstüchtig zu sein. Was hat ihr das genutzt, frage ich mich, hätte sie nicht vielleicht auch andere Wege finden können... aber nicht gewollt? Durch eine Kamera schauen bedeutet immer AUCH eine sehr eingeschränkte Sicht zu haben, sich einen Ausschnitt zu suchen - und alle Möglichkeiten ringsherum nicht adäquat wahrzunehmen.Bewundern kann ich sie nicht.
    Gute Nacht,
    anna

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  6. es ist immer wieder beeindruckend, um nicht zu sagen faszinierend, wie sich frauen trotz schwierigster familienverhältnisse und armut auf den weg machen und mit stärke und energie ihre leidenschaften verfolgen. dass sie dabei immer wieder völlig unangemessen eingeschätzt werden, ist leider auch heute noch gang und gäbe.
    den film kenne ich noch nicht, werde ihn mir aber besorgen.
    liebe grüße und ein schönes wochenende
    mano

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    1. den film habe ich inzwischen gesehen und bin noch mehr fasziniert. was für eine künstlerin im verborgenen!! danke john maloof!! und danke dir, liebe astrid, für deinen beitrag!

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  7. Die Fotos von Vivian Maier sind einfach grandios und absolut sehenswert, ich bin ein großer Fan von ihr und besitze auch ein Buch mit ihren Fotos und ihrer Lebensgeschichte.

    Wie schön, dass du hier über sie schreibst. Viele Fragen bleiben nach ihrem Tod, die wohl nur sie allein beantworten könnte. Aber ihre Fotos sind einfach grandios und sie ist wohl nicht die erste Künstlerin die erst posthum geehrt wird.
    Wobei viele Menschen Fotografie gar nicht als Kunst ansehen, leider.
    Viele Grüße
    Gabi

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    1. Deine letzte Bemerkung lässt mich schmunzeln, hat doch mein Schwager selig in den 1960er Jahren ein Buch "Fotografie als Kunst" geschrieben und neben Malerei & Co auch Fotos gesammelt, u.a. Originalabzüge von August Sander. Mein Blick ist dadurch auch geschult.
      GLG

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  8. Wieder ein tolles Portrait einer Frau, die zu Lebzeiten nicht weiter aufgefallen ist. Vor ein paar Jahren habe ich zufällig den Street Photographer Bildband günstig erstehen können und ich schaue immer wieder gerne rein. Die in einem anderen Kommentar hier so benannte "eingeschränkte Sichtweise" der Fotografin hat mir persönlich neue Horizonte eröffnet und ich bin sehr dankbar dafür. Man muss das Leben eines anderen Menschen nicht komplett verstehen können oder deren Entscheidungen gutheißen, um trotzdem Aspekte dieses Lebens zu bewundern. Ich fotografiere selber seit vielen Jahren, bin aber nicht in der Lage, das Wesen der Menschen auch nur annähernd so einzufangen wie sie es getan hat.

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  9. Ein sehr subtiles Portrait einer sehr außergewöhnlichen Frau. Was sie alles erlebt und gesehen hat - und das nicht nur durch das Objektiv der Kamera!
    Ihr Brotberuf hat ihr immer eine Art Familienleben gesichert und Ihre Leidenschaft zum Fotografieren das Ausleben von ganz anderen Möglichkeiten. Auf jeden Fall hochinteressant. Und dass ihr Werk nun so viele Menschen interessiert und von vielen geschätzt wird, ist vielleicht ganz in ihrem Sinn: sie nicht dabei, aber mitten drin.
    Danke für dieses Portrait, liebe Astrid!
    Herzlichst, Sieglinde

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  10. auch wieder eine Frau die ihren Interessen unbeirrt gefolgt ist
    dass sie ihre "Kunst" eher im Verborgenenen ausgeübt hat und für sich behalten hat ist eigentlich schade
    aber ihr genügte es wohl
    und anscheinen fehlten ihr auch die Verbindungen um bekannt zu werden
    und sie war anscheinend auch damit zufrieden
    gut dass ihr Werke erhalten blieben
    und man sich jetzt daran erfreuen kann

    liebe Grüße
    Rosi

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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