Donnerstag, 3. Februar 2022

Great Women #288: Simone Weil

Zwölf solcher Collagen habe ich inzwischen einem Great-Women-Post vorangestellt, zwölf mal vierundzwanzig Frauen habe ich hier in meinem Blog porträtiert, seit ich die Anregung von Barbara Bee Anfang Oktober 2014 aufgegriffen habe. Der Name der heutigen Frau ist bei der Beschäftigung mit dem Paris der Zwischenkriegsjahre immer wieder aufgetaucht, richtig neugierig, da irritiert, wurde ich, als sie von Frauen der "Identitären Bewegung" für sich vereinnahmt worden ist, wusste ich doch, dass sie eine Linke und zudem Jüdin gewesen ist. Heute vor 113 Jahren kam sie in Paris auf die Welt: Simone Weil.



"Ein Mensch, der sich etwas auf seine Intelligenz einbildet, 
ist wie ein Sträfling, 
der mit einer grossen Zelle prahlt."
.....
"Der Verlust der Berührung mit der Wirklichkeit 
ist das Böse."

Adolphine Simone Weil [ ausgesprochen ˈvɛj' ] kommt also am 3. Februar 1909 in Paris zur Welt als Kind gut situierter jüdischer Franzosen, Freidenker und Demokraten - im Pariser Bürgertum des 20. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches!

Ihr Vater, der Arzt Bernard Weil, zur Zeit ihrer Geburt 37 Jahre alt, kommt aus einer Familie von Elsässer Kaufleuten in Straßburg, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 nach Paris ausgewichen sind. Die Mutter Salome, genannt Selma, Reinherz, sieben Jahre jünger als ihr Mann, ist in Rostow am Don geboren, von wo ihre Familie nach den Pogromen 1882 nach Antwerpen ausgewandert ist. Selmas Vater, ein erfolgreicher galizischer Geschäftsmann, ist hochgebildet gewesen und hat hebräische Gedichte verfasst, Selmas Mutter, die bei Simones Eltern wohnt, eine begabte Pianistin. 

Nur die Großeltern väterlicherseits praktizieren die Religion noch, während ihr Sohn und seine Frau ihre Kinder - Simone hat noch einen drei Jahre älteren Bruder, André - im agnostischen Sinne erziehen, so dass dem Mädchen das Judentum von Anfang an fremd bleibt. Später wird Simone versuchen, ihrem Jüdischsein zu entfliehen. Ihre Herkunft ist in ihrer Familie allerdings nie ein Geheimnis gewesen. In ihrem Geburtsjahr hat die Dreyfus-Affäre ganz Frankreich aufgewühlt und selbst gut assimilierte Juden fühlen sich seitdem durch die Hassausbrüche, die damals aufgetreten sind, lange betroffen, erinnert sie das doch an ihre zwiespältige Stellung in der Gesellschaft, der sie sich sonst so zugehörig fühlen. Das scheint auch für Simones Eltern zu gelten.

Die Familie Weil
(1916)
Die Ehe der Eltern ist sehr glücklich und ihren Kindern gegenüber sind sie aufmerksam und liebevoll. Trotz des 1. Weltkrieges ist Simones Kindheit von Wärme und Zärtlichkeit geprägt, obwohl die Tätigkeit des Vaters als Militärchirurg nach Kriegsausbruch ihn für mehrere Jahre fern von zu Hause hält. Darunter leidet das kleine Mädchen allerdings. Später wird deshalb der Wohnort der ganzen Familie häufig gewechselt werden. 

Erzählt wird immer wieder, dass Simone bereits im Alter von fünf, sechs Jahren sich des Elends der Soldaten im Krieg bewusst ist und sich weigert, auch nur ein Stück Zucker zu nehmen, aber fordert, alles an die Front zu schicken. Schon früh zeigt sich ein wesentliches Merkmal ihrer Wesensart: die mitfühlende Liebe zu den Unglücklichen. 

Die Weils lassen ihrem Nachwuchs die Freiheit zu tun, was sie interessiert. Zum Beispiel mag Simone nicht nähen, und deshalb sorgen die Eltern dafür, dass sie vom Handarbeitsunterricht freigestellt wird. Es ist eine sehr wissenschaftlich orientierte Familie, daher entwickeln sowohl Simone als auch ihr Bruder Interesse für Naturwissenschaften und Technik (André ist von klein auf ein mathematisches Genie und wird später Mathematikprofessor werden ). 

Für Simone werden die Eltern ihr Leben lang die wichtigsten Bezugspersonen bleiben, die sie oft begleiten und mit ihr Ferien verbringen.

Vor allem die Mutter geht auf die Essens- & Schlafprobleme ihrer sensiblen Tochter mit großer Geduld ein, ist Simone doch auch häufig krank. Ist sie mäkelig mit dem Essen, sorgt die Mutter auch sehr viel später noch für absolut frisches Gemüse & Obst. Das junge Mädchen will aber keine Privilegien genießen, was dazu führt, dass sie dann überhaupt nichts isst. Darüberhinaus verabscheut sie Berührungen ( noch mehr als Essen ), denn ständig hat sie Angst vor Keimen und Bakterien.

1921
Schulisch gesehen erfährt Simone viele Veränderungen: 1916 geht sie für drei Monate in Paris auf das Lycée Montaigne, bevor die Familie nach Chartres und nach acht Monaten nach Laval umzieht, wo sie die Mädchenoberschule bis zum Januar 1919 besucht. Nach Kriegsende wieder zurück in Paris, steht eine weitere Schule an, das Lycée Fénelon, wo sie den ersten Teil ihres Abiturs im Juli 1924 absolviert. Am Lycée Victor-Duruy hat sie Unterricht bei dem Philosophen René Le Senne, Vertreter einer dem Existentialismus verpflichteten, christlichen Philosophie. 

Im Juni 1925, im Alter von sechzehn Jahren, legt Simone an dieser Schule das Abitur in Philosophie ab. Anschließend tritt sie in die Hypokhâgne, der dreijährigen Vorbereitungsklasse für die "'École normale supérieure", am Lycée Henri-IV ein. Dort ist ihr Lehrer der Philosoph Émile-Auguste Chartier - bekannt unter dem Pseudonym "Alain" -, der damals als "moralische Stimme" Frankreichs gilt und sich seit der Dreyfus-Affäre und nach dem Ersten Weltkrieg in besonderem Maße für die Linke einsetzt. Sie setzt sich intensiv mit seiner Gedankenwelt auseinander, die einen großen Einfluss auf ihre spätere Philosophie haben wird. Schon während der Gymnasialzeit engagiert sich das junge Mädchen in der revolutionären Gewerkschaftsbewegung und lehrt an einer Art freien Universität, die für Eisenbahnarbeiter eingerichtet worden ist. 

Im Jahr 1928, nach bestandener Aufnahmeprüfung als Erstplatzierte, zieht Simone Weil mit Simone de Beauvoir als die ersten Frauen in die elitäre "École Normale Supérieure" ein, wo sie weiterhin Philosophie studiert und dort den Spitznamen "rote Jungfrau" verpasst bekommt, weil sie bald für ihre extreme linke Haltung unter den Studierenden bekannt ist.

Die beiden Simones sind sich auch tatsächlich begegnet, und die Beauvoir berichtet von dem Erlebnis in ihren "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause":

Simone Weil links,
Simone de Beauvoir rechts (1928)
"Sie interessierte mich wegen des großen Rufes der Gescheitheit, den sie genoss, und wegen ihrer bizarren Aufmachung; … eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, dass sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung in Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen. Eines Tages gelang es mir, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich weiß nicht, wie wir damals ins Gespräch gekommen sind; sie erklärte in schneidendem Tone, dass eine einzige Sache heute auf Erden zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde. In nicht weniger peremptorischer Weise wendete sie dagegen ein, das Problem bestehe nicht darin, Menschen glücklich zu machen, sondern für ihre Existenz einen Sinn zu finden. Sie blickte mich fest an: 'Man sieht, dass sie noch niemals Hunger gelitten haben', sagte sie. Damit war unsere Beziehung auch schon wieder zu Ende. Ich begriff, dass sie mich unter die Rubrik 'geistig ehrgeizige kleine Bourgeoise' eingereiht hatte."
Das blieb dann der einzige Kontakt dieser beiden wichtigen weiblichen Figuren der Philosophie der Mitte des 20. Jahrhunderts. Simones Radikalität  bzw. Extremismus fasziniert die andere Simone allerdings noch lange. Die Empathie, die Offenheit der Weil für das Leid der anderen ist immer verbunden mit dem Impuls zu handeln, sich tätig solidarisch zu zeigen und führt zu politischen Aktivitäten, womit sie manch anderen wiederum auch Angst einflößt. 

1930 erhält sie ihr Agrégationsdiplom für Philosophie und promoviert 1931. Im Oktober des Jahres beginnt sie an der Mädchenschule in Le Puy-en-Vélay zu unterrichten. Dort tritt sie der Gewerkschaft "CGT Unifiée" bei und unterstützt Arbeitslose, mit denen sie ihr Gehalt teilt. Sie erregt weniger durch ihre sozialistischen Artikel und Aufsätze Anstoß als durch dieses Verhalten nach ihrem Prinzip, die Theorie mit der Praxis zu vereinen. Simone beteiligt sich an Streiks, aber auch an den Bemühungen, die französische Gewerkschaftsbewegung wiederzuvereinen ( was erst 1936 gelingt ). 

Ihre Teilnahme an Protestaktionen - sie mit roter Fahne an der Spitze - führt zu Inhaftierungen und häufigen Versetzungen an andere Schulen, so 1932 nach Auxerre, 1933 nach Roanne. Ihre Schülerinnen  schätzen ihren unkonventionellen Unterricht, provokante Äußerungen wie "Die Ehe ist eine vom Gesetz gebilligte Prostitution" rufen allerdings Eltern und Vorgesetzte auf den Plan. Eine Lyoner Zeitung betitelt sie als "Moskauer Aktivistin", die es unternehme, "junge Mädchen französischer Rasse" mit schädlichen Theorien zu vergiften. 

Die Sommerferien 1932 nutzt die 23jährige, um sechs Wochen in Deutschland, vor allem in Berlin zu verbringen, um zu studieren, inwieweit die Arbeiterbewegung den aufstrebenden Nazis etwas entgegensetzen kann. Sie kommt zu einer kritischen Haltung gegenüber der deutschen Gewerkschaftsbewegung und der kommunistischen Partei, weil letztere ganz der Loyalität mit der Sowjetunion verhaftet ist. 

Simone Weil hingegen sieht schon bald die Ähnlichkeiten zwischen dem Nazistaat und der Sowjetrepublik. In einem viel beachteten Artikel schreibt sie im August 1933, dass die kapitalistische Unterdrückung nicht, wie Karl Marx geglaubt hat, die letzte Form der Unterdrückung ist, sondern dass sie gegenwärtig von einer weiteren repressiven Epoche abgelöst würde, nämlich der Unterdrückung im Namen der Funktionen, der Organisation und der Bürokratie. Darin unterschieden sich die Systeme in Nazi-Deutschland und Sowjet-Russland kaum: Der einzelne Arbeiter müsse sich dem nationalen Anliegen unterordnen, weil es als höherwertig angesehen wird. In der Sowjetunion herrsche nach ihrer Ansicht "kein Regime sozialer Emanzipation". Die Sowjetunion sei trotz aller Behauptungen kein Arbeiterstaat, sondern teile mit allen modernen Staaten ein Merkmal: Eine sich selbst erhaltende Bürokratie, die dann alle wichtigen Entscheidungen treffe. Auf sie geht ein Riesenschauer an Kritik nieder. Als sie sich selbst über die Verhältnisse in der UdSSR vergewissern will, bekommt sie keine Einreiseerlaubnis.

"Sie teilt daher auch nicht die Meinung der meisten Linken in ihrer Zeit, dass der Nationalsozialismus vor allem ein deutsches Problem sei. Sie wendet sich gegen anti-deutsche Propaganda, denn sie ist davon überzeugt, dass Hitler nur auf radikalste Weise dieses Prinzip des modernen Industriestaats verkörpert, der in Form der Bürokratie herrscht und das Individuum unterjocht, das sich auch in Russland und in Ansätzen auch in Frankreich usw. zeigt", schreibt Antje Schrupp zum 100. Geburtstag von Simone Weil an  dieser Stelle.

Ihre kritische Haltung - die französische Linke glaubt noch, dass Frankreich & die Sowjetunion als Verbündete gegen Hitler und sein Regime in einem Krieg vorgehen sollen - führt letzten Endes dazu, dass sich Simone aus der praktischen Politik zurückzieht. Mit Leo Trotzki, den sie in einer Art persönlicher Flüchtlingshilfe in der Wohnung ihrer Eltern unterbringt, gerät sie ebenfalls in eine Kontroverse, da der ihr nicht kritisch genug gegenüber dem Stalinismus erscheint.

In Simones Augen liegt der "Grundwiderspruch" nicht im "Privateigentum an Produktionsmitteln", wie es die Kommunisten sehen, sondern an der Art und Weise der Arbeit, die den Einzelnen zum Rädchen in einem Getriebe machen und damit die Grundlage schafft für die Unterordnung des Individuums unter den bürokratischen Totalitarismus. 

Diese ihre These beginnt sie am eigenen Leibe zu überprüfen, indem sie sich aus dem Schuldienst beurlauben lässt und ab Juni 1934 bei Renault als Maschinistin zu arbeiten beginnt. Den Selbstversuch bricht sie jedoch Ende August schon wieder ab: Sie leidet schon länger an heftigen Kopfschmerzattacken, die sie immer wieder ausbremsen, so auch jetzt. Ab Dezember des gleichen Jahres nimmt sie dann eine Fabriktätigkeit bei der Elektrofirma Alstholm als Maschinenbedienerin auf, bis sie erneut krank wird und zur Rekonvaleszenz in die Schweiz geht. Im April-Mai 1935 unterzieht sie sich erneut der Strapaze, diesmal bei J.J. Carnaud et Forges de Basse- Indre in Boulogne-Billancourt als Verpackerin.

"Sie führt über ihre Erlebnisse als Fabrikarbeiterin genau Tagebuch, sie schreibt auf, wie die Arbeit an den Maschinen sich auswirkt, sie beobachtet diese 'Tötung des Geistes' gewissermaßen an sich selber. Sie beobachtet, dass die Arbeiter sich nur beschweren, aber sich nicht wehren. Über soziale Fragen wird nicht diskutiert und nicht nachgedacht, und aufgrund der Erschöpfung ist es auch nicht möglich.[... ]

Dieses Selbstexperiment bestärkt sie in ihrem Pessimismus noch mehr. Sie glaubt nun weder an die Möglichkeit einer Revolution noch an die einer Reform." ( Antje Schrupp )

Die Sommerferien verbringt sie mit ihren Eltern in Spanien und Portugal. Simone fühlt sich nach der Fabrikarbeit seelisch wie körperlich zerstückelt. Dort hat sie ein für sie einschneidendes Erlebnis:

"In diesem elenden körperlichen und geistigen Zustand bin ich damals abends, es war Vollmond, in das kleine portugiesische Dorf am Meer gegangen, das genauso elend war wie ich selbst. Man feierte das Fest des Kirchenheiligen, und es gab eine Lichterprozession. Die Fischerfrauen fuhren mit Booten auf das Meer hinaus, trugen Kerzen und sangen dabei Lieder, die von einer unvorstellbaren Traurigkeit waren. […] In diesem Augenblick hatte ich urplötzlich die Gewissheit, dass das Christentum die Religion der Sklaven ist und dass Sklaven unmöglich nicht dem Christentum angehören können, auch ich nicht." ( Quelle hier )

Kloster St. Pierre, Solesmes
Diese Begegnung ist für sie der erste Kontakt mit dem Glauben, der für sie zählt, hier kommt also erstmals die mystische Simone Weil zum Vorschein, die im Jahr darauf nach Assisi und Rom reisen und die Ostertage 1938 im Benediktinerkloster Solesmes, bekannt für seinen Beitrag zur Erneuerung des Katholizismus in Frankreich, verbringen wird. 

In den folgenden Jahren wird Simone sich neben ihrer beruflichen - ab 1935 ist sie wieder Lehrerin, jetzt in Bourges - und politischen Tätigkeit dem Studium der Bibel, Schriften des Hinduismus, mythischen und religiösen Zeugnissen der vorchristlichen Kulturen des Mittelmeerraums widmen, sich mit den häretischen Lehren der Katharer vertraut machen und die Schriften christlicher und nichtchristlicher Mystiker*innen lesen. Ein Bruch in ihrem Leben wird sichtbar, und das vertrackte Ideengebäude der Simone Weil nimmt Formen an.

1936

Doch zurück zum Jahr 1936: 

Eine Veränderung zum Positiven sieht Simone wie viele Linke in Europa im Wahlsieg einer linken Volksfront in Spanien. Als im Juli darauf die Generäle unter Francisco Franco gegen diese Regierung putschen, kommt es zum Bürgerkrieg. Obwohl sie eine überzeugte Pazifistin ist, zieht Simone wie viele Gesinnungsgenossen im August nach Barcelona und schließt sich den internationalen Brigaden an.

Ihr Einsatz ist nicht von langer Dauer, denn schon am 19. August hat die in ihrer Familie als "Trollin" bezeichnete, eher ungeschickte Simone einen Unfall: Sie gerät in einen Topf mit siedendem Öl und verbrennt sich den Fuß. Sie wird nach Barcelona gebracht, wo ihre Eltern sie in Empfang nehmen. Der Unfall rettet ihr das Leben, denn ihre Brigade kommt bald darauf in einem Kampf ums Leben.

In Sitgès wird ihre Verletzung behandelt, und sie kehrt nach ihrer Rekonvaleszens nach Paris zurück. Ihre Desillusionierung hat weiter zugenommen, hat sie doch die Brutalität unter den Mitkämpfern erlebt und sie kommt zu dem Schluss, dass nicht die hehren Ideale, sondern die realen Lebensumstände für das tatsächliche Handeln ausschlaggebend sind. Menschenverachtung konstatiert sie auch unter den Verteidigern der "guten Sache" und die Aufteilung der Mitmenschen in die, die zählen und die, die nichts zählen. Dennoch beteiligt sie sich in Paris weiterhin an Demonstrationen und trägt ihre Anarchistenuniform.

Nach einer Reha im schweizerischen Crans-Montana reist sie nach Italien, wo sie spirituelle Erfahrungen in Assisi macht. In der  Portiuncula-Kapelle, in der der heilige Franziskus einst gebetet hat, erfährt sie: „Etwas Stärkeres als ich hat mich gezwungen, zum ersten Mal in meinem Leben auf die Knie zu gehen."

Sie schreibt diverse Artikel für die "Nouveaux Cahiers". Im Dezember des Jahres beginnt sie als Lehrerin für Philosophie in Saint-Quentin zu unterrichten und tritt schließlich der Redaktion der "Nouveaux Cahiers" bei. 1938 formuliert sie ihre Kritik an der Arbeiterbewegung so:

"Ich glaube nicht, dass die Arbeiterbewegung wieder etwas Lebendiges werden kann, solange sie ihre Inspirationsquelle nicht wieder in jener Tradition sucht, die von Marx und den Marxisten bekämpft und auf völlig irrationale Art und Weise verächtlich gemacht worden ist."

Wieder krankgeschrieben, widmet sie sich 1939 intensiv ihren Studien religiöser, philosophischer und anderer Texte, reist im Frühsommer nach Italien, anschließend in die Schweiz und kehrt mit ihren Eltern kurz vor Kriegsbeginn nach Paris zurück. Sie beantragt anschließend eine Krankschreibung für ein weiteres Jahr.

Nach der deutschen Besetzung Frankreichs im Sommer 1940 werden auch dort die Rassengesetze der Nazis wirksam, und Simone Weil aus dem Schuldienst verbannt. Sie begründet in einem 1941 an den Regierungsbeauftragten für jüdische Angelegenheiten gerichteten Brief, in dem sie um Wiedereinstellung in ihren Beruf nachsucht, warum sie gar keine Jüdin sei. Denn wodurch - so fragt sie in dem Brief - werde man Jüdin? Entweder durch den Glauben oder durch Abstammung! Doch sie lehne den jüdischen Glauben ab, und ihre Abstammung vom biblischen Volk sei nicht nachweisbar: "Ich habe keine Zuneigung für die jüdische Religion, keine Verbindung mit der jüdischen Tradition; seit frühester Kindheit bin ich geprägt von hellenistischer, christlicher und französischer Überlieferung."

In Marseille
(1942)
Ihre Familie ist zu diesem Zeitpunkt schon aus Paris nach Vichy geflohen. Ihr Bruder André ist, um dem Militärdienst zu entgehen, ohnehin bei Kriegsbeginn nach Finnland ausgewichen, wird aber als Spion verhaftet und nach Frankreich überstellt. Dort droht ihm ein Verfahren wegen Desertion, dem er entgeht, indem er sich freiwillig für den Kriegsdienst meldet. 1941 geht er mit seiner Frau in die Vereinigten Staaten. 

Die Weils sind im September 1940 bereits nach Marseille weitergezogen. In Marseille macht Simone 1941 die Bekanntschaft mit dem blinden Dominikanerpater Jean-Marie Perrin, in dem sie einen geduldigen, verständnisvollen Zuhörer findet, und den sie über den Katholizismus ausfragt. Gegen eine Taufe entscheidet sie sich dennoch, denn ihr Denken sei mit den kirchlichen Dogmen nicht vereinbar, so ihre Meinung. Sie betet aber in katholischen Kirchen. 

In Marseille wird Simone in ihrer Wohnung von der Polizei wegen ihrer Zugehörigkeit zu radikalen Gruppen aufgesucht, zur Polizeiwache vorgeladen und vom Militärtribunal verhört, anschließend zwar frei gelassen, aber noch weitere zwei Male dieser Prozedur unterzogen.

Auf ihren Wunsch hin vermittelt Pater Perrin Simone 1941 an den Bauern & christlichen Philosophen Gustave Thibon in Saint-Marcel-d'Ardèche. Simone lebt bei der Familie, arbeitet auf deren Feldern und schreibt bis tief in die Nacht an ihren Notizbüchern, die als "La Pesanteur et la Grâce" ( deutsch: "Schwerkraft und Gnade" ) posthum erscheinen werden. Im September dann verdingt sie sich bei der Weinlese in Saint-Julien-de-Peyrolas.

Nach ihren eigenen Worten entwickelt sich zu Thibon eine "absolut unerschütterliche" Freundschaft, es sei die "große Begegnung" ihres Lebens. Als Simone Weil Frankreich im Mai 1942 in Richtung Amerika verlässt, ist es nur folgerichtig, dass sie Thibon auf dem Bahnhof von Marseille eine mit Papieren gefüllte Aktentasche - ihren Notizbüchern - anvertraut. 1947 wird der Philosoph das Werk unter oben genanntem Titel veröffentlichen, welches von ihm allerdings tendenziösen Auswahlkriterien unterzogen worden ist.

Marseille bleibt also nur ein vorübergehender Zufluchtsort. Die Familie hat das Glück, im Mai 1942 per Schiff zunächst nach Casablanca, von dort aus nach New York ausreisen zu können, wo sie am 6. Juli ankommen, Simone mit eher widerstrebenden Gefühlen. Während ihrer Zeit in Amerika begibt sie sich weiter auf die Suche nach der Wahrheit und setzt sich mit religiösen Fragen auseinander. Sonntags besucht sie eine Baptistenkirche in Harlem, wo sie die einzige Weiße in der Gemeinde ist. Ihre Gedanken schreibt sie in ihr Tagebuch, darunter auch ein meditatives Gebet.

Der Religion als sozialer Macht misstraut sie allerdings weiterhin. Sie zeigt sich entsetzt darüber, was die organisierte Religion mit dieser ihrer Macht anrichtet, so zum Beispiel bei den Israeliten, die ihre Feinde abgeschlachtet haben, oder der katholischen Kirche mit ihren Kreuzzügen, der Inquisition und Zwangsmissionierungen. Auch der Protestantismus bleibt ihr fremd. In ihrem Tagebuch ( ebenfalls posthum veröffentlicht ) schreibt sie über ihn: "Die Tugend der Demut ist unvereinbar mit dem Gefühl, einer von Gott auserwählten sozialen Gruppe anzugehören, sei es eine Nation oder eine Kirche."

Fernab vom Geschehen in Europa zu sein, kann sie auf Dauer nicht ertragen. In New York fühlt sie sich von einigen der entsetzlichsten Leiden der Menschheit isoliert. Also reist sie am 10. November in Richtung England ab, wo sie im Monat darauf in London ankommt und sich der französischen Exilregierung um Charles de Gaulle an schließt. 

Der hält sie für nicht geeignet für die aktive Arbeit in der Résistance. Simone entwickelt daraufhin einen Plan für die Ausbildung von Krankenschwestern, die an vorderster Front wirken sollen, um die eigene Truppe moralisch zu stabilisieren und gegenüber dem Feind Überlegenheit zu demonstrieren. Auch davon hält de Gaulle nichts und macht ihr letztendlich den Vorschlag, sich Gedanken über eine künftige Verfassung Frankreichs zu machen und den brieflichen Kontakt zu den Résistancegruppen in Frankreich aufrechtzuhalten. 

Das alles stellt Simone nicht zufrieden, denn sie möchte wie andere Frauen in Frankreich mit dem Fallschirm ab- und im Land eingesetzt werden. Ihre eigenen Grenzen kann sie offensichtlich nicht wahrhaben. Diese Unzufriedenheit wandelt sie um in Schriftstellerei und verfasst ihr einziges zusammenhängendes Buch "L´Enracinement" ( deutsch: "Die Einwurzelung" ).

Im April 1943 dann finden sie Freunde bewusstlos am Boden und lassen sie ins Middlesex Hospital bringen. Diagnose: Lungentuberkulose. Den Eltern schreibt sie nichts von ihrer Erkrankung. Am 17. August wird sie ins Grosvenor Sanatorium in Ashford/Kent verlegt.

Die Gründe für ihren Tod dort am 24. August 1943 um 22.15 Uhr mit gerade mal 34 Jahren bleiben mysteriös: 

Ist es das Fehlen der elterlichen Nähe oder das Bewusstsein der Mangelsituation ihrer Landsleute, die ihr eine Leidenspflicht auferlegen und eine Magersucht begünstigt haben? Ist es eine Herzinsuffizienz als Folge der Tuberkulose? Hat eine Depression in Anbetracht der eigenen Nutzlosigkeit in der Kriegssituation bedingt, dass sie für sich jede "Extrawurst" abgelehnt hat? Sie ist zuletzt immer unerbittlicher und unbeugsamer in ihren Überzeugungen gewesen. Wahrscheinlich ist alles zusammengekommen. Vieles im Leben und Wirken von Simone Weil bleibt ein Geheimnis und ist nicht weiter ausleuchtbar.

Berühmt wird sie nach dem Kriegsende vor allem dank Albert Camus, der eine Auswahl ihrer hinterlassenen Schriften und Tagebücher publiziert. Seit 1988 erscheint in Frankreich eine textkritische Gesamtausgabe. In Deutschland setzt sich u.a. Heinrich Böll mit ihrer Gedankenwelt auseinander.

Antje Schrupp meint, Simone Weil hätte es nicht gefallen, sich nur mit ihrer Lebensgeschichte zu befassen. Der sind immer ihre Anschauungen und Ideen viel wichtiger gewesen. "Ist das, was sie sagt, wahr oder nicht?", sollten sich ihr/e Leser*innen nur fragen. 

Mich in das "labyrinthische Bergwerk" ihres Denkens richtig einzuarbeiten - dazu hat mir Zeit und Muße gefehlt.  Ihre Texte lesen sich zudem manchmal recht unbehaglich. Wer mehr über ihre Gedankenwelt wissen möchte, dem könnte der Wikipedia - Beitrag schon eine ganz gute Übersicht bieten. Zum Nachdenken gebracht hat mich ihr Ansatz, Arbeit weder kapitalistisch noch sozialistisch zu organisieren, sondern auf die Würde des Menschen gerichtet, ihre Philosophie der Aufmerksamkeit & Kontemplation vereint mit Aktion und dieser Satz: "Wer unglücklich ist, braucht nichts auf dieser Welt, außer Menschen, die in der Lage sind, ihm Aufmerksamkeit zu schenken." Wie wahr, auch gerade in unseren Tagen!


10 Kommentare:

  1. Liebe Astrid,

    wieder einmal vielen Dank für diese Vorstellung.

    Werde ich später ganz aufmerksam und interessiert lesen, hoffentlich.

    Mir ist letztens ein Buch in die Hände gefallen, das ich nicht unerwähnt lassen möchte. Du kennst es vielleicht oder magst es vielleicht auch gar nicht lesen.
    "100 Autorinnen in Porträts", 100 Schriftstellerinnen und ihre Biographien. ( Simone de Beauvoir, Mascha Kaléko, Nelly Sachs, Isabell Allende, usw. )

    Oder du hast sie schon fast alle selbst porträtiert, in deiner wunderbaren Rubrik?

    Liebe Grüße
    Claudia

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  2. Sie muss wirklich eine wundersame Frau gewesen sein in all ihrer Klugheit und Suche. So jung gestorben und so rätselhaft, wie sie auch gelebt hat.
    Dass es ausgerechnet Camus zu verdanken ist, dass sie in ihren Schriften sozusagen weiterlebt, wusste ich gar nicht.
    Antje Schrupp hingegen habe ich einmal persönlich kennengelernt und war sehr beeindruckt von ihr und der weiblichen Philosophie des Affidamento, die sie damals vorstellte. Da kommen viele schöne Erinnerungen an meine damalige Berufstätigkeit mit Frauen auf.
    Herzlichst, Sieglinde

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  3. Liebe Astrid,

    eine interessante Frau, aber in ihrem Denken und Bemühungen scheint sie ziemlich unglücklich gewesen zu sein. Teilweise auch ihre Aussagen, die mir extrem vorkommen, wie z.B. "Die Ehe ist eine vom Gesetz gebilligte Prostitution."

    Vielleicht hat sie den Kern des menschlichen Wesens durchschaut und war deshalb unglücklich.

    Was hätte sie heute zu der Corona-Situation gesagt oder gedacht? Das habe ich mich öfters beim Lesen gefragt. Da wären wohl zwei Welten in ihr aufeinander geprallt.

    Liebe Grüße,
    Claudia

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  4. Ach, was für ein tragischer Geist in einem nicht ganz gesundem Körper (man hat auch diesen Eindruck bei den Fotos)
    Schade, dass sie sich nicht auch um sich gekümmert hat, sonst hätte ihr kritischer Geist, der so dem "Menschlichen" verschrieben war, noch mehr bewirken können
    Liebe Grüße
    Nina

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  5. Liebe Astrid, ich kommentiere selten, aber bei Dir hier ist es mir ein großes Anliegen! Du bist eine solch gebildete, emphatische Frau. Deine Beiträge zu lesen, sind immer Vergnügen, denn oft recherchiere ich nach Deinen Beiträgen noch selbst in einzelnen Bereichen weiter. In der Schule habe ich Deutsch so geliebt, und Bücher waren mein Lebenselixier. Doch eine Krankheit haben mich von vielen Menschen und vor allem von meiner Konzentration getrennt. Umso schöner ist die Vorstellung, mit Dir über Bücher und Themen querbeet zu klönen! Ich finde Deinen Blog ganz wunderbar! Liebe Grüße von Ivana

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  6. Da merke ich wieder, wie wenig ich bislang von dieser besonderen Frau gewusst habe. Sie scheint auch extrem zu sich selbst gewesen zu sein. Tragisch, dass sie so jung gestorben ist.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  7. Das ist wieder sehr spannend gewesen. Sie war mir nicht unbekannt, aber ich hatte sie völlig aus den Augen verloren. Schön, dass du sie vorgestellt hast.
    LG
    Magdalena

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  8. Oh, da merke ich wieder, von wievielen Menschen man nur den Namen kennt und eigentlich kaum was weiß... Danke und Grüße Ghislana

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  9. ich kannte bisher auch nur ihren namen. sie scheint eine sehr kluge, aber auch sehr anstrengende person gewesen zu sein. und sie hatte das glück, sich von ihren "erlebnissen" als fabrikarbeiterin immer in ihrer wohlsituiierten familie wieder erholen und zu können. das hatten die echten arbeiterinnen wohl nicht...
    liebe grüße
    mano

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  10. Liebe Astrid,
    heute habe ich deinen Beitrag über Simone Weil gelesen. Es ist immer eine Freude, deine Porträts zu lesen. Leider stelle ich dabei auch immer wieder fest, wie begrenzt mein Wissen ist. Wie gerne hätte ich auch Abitur gemacht und studiert. Aber die Zeiten waren in meiner Jugend anders. Und leider kann man sein Leben nicht zweimal leben. Seien wir also zufrieden, mit dem was wir erreicht haben.
    LG Agnes

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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