Donnerstag, 7. Oktober 2021

Great Women #275: Ida Dehmel

Meine heutige Great Women spukt mir schon lange im Kopf herum, seit ich um die Jahrtausendwende ihre Biografie gelesen habe. Die bedingungslose Liebe spielte in ihrem Leben eine große Rolle, und da dass genau mein Lebensthema ist, verspürte ich eine gewisse Nähe. Heute ist sie endlich dran in meinem Blog, die Ida Dehmel, denn ihr Todestag jährte sich vor einer Woche zum 79. Mal.

Christian Böttcher: Am Marktbrunnen von Bingen
(1870)

"Gibt es einen herrlicheren Lohn, 
als vielen Reihen von Menschen 
eine schöne Vorstellung zu sein?"

Mitten im Winter, am 14. Januar 1870, kommt Ida Dehmel als Ida Coblenz in Bingen, dem Tor zum Mittelrhein, zur Welt. 

Ihre Mutter Emilie Meyer, deren Familie zu den alteingesessenen Binger Weingutsbesitzern zählt, die am Markt im ehemaligen Puricelli'schen Stadtpalais ein großbürgerliches Haus führen, hat Idas Vater Simon Zacharias Coblenz am 16. Juni 1863 geheiratet. Mit dieser Ehe soll der Weiterbestand des Weinhandels der Familie gesichert werden, denn Emilies blinder Vater braucht einen Compagnon für seinen wenig versierten Sohn. Simon Zacharias, nationalisierter Franzose, ebenfalls jüdischen Ursprungs, stammt aus dem saarländischen Ottweiler, wo die Familie Coblenz sich zu einer wirtschaftlich erfolgreichen Familie entwickelt und damit einen gesellschaftlichen Aufstieg erlebt hat. Über Trier, eine Winzerlehre in Bordeaux und anschließend Paris ist er nach Bingen gekommen, um dort seine Cousine zu ehelichen. Als äußerst erfolgreicher, weltweit agierender Weinhändler gewinnt er später auch Einfluss auf die politischen Entscheidungen in der Stadt und wird Präsident der dortigen Handelskammer.

Ida ist ihr viertes Kind. Schon 1864 ist die Schwester Elise Rose, genannt Alice, geboren, im Jahr darauf Julie Hedwig, zwei Jahre später Cornelius und 1877 kommt dann noch Marie Louise dazu. Das prachtvolle Elternhaus Idas mit seinem großen Garten hinter einem beeindruckenden Gittertor hat in der heutigen Basilikastraße/Ecke Kaufhausgasse im Schatten der Kirche St. Martin gestanden. Ihre Kindheit in einer wohlhabenden, gut assimilierten jüdischen Familie ohne jeglichen Bezug zur Religion - "An der Art, wie uns die Leute auf der Straße grüßten, merkten wir, daß wir was Besseres waren." - scheint geradezu luxuriös gewesen zu sein.

Der Vater Simon Coblenz verbreitet in diesem schönen Umfeld allerdings eine enge, angespannte patriarchalisch-autoritäre Atmosphäre: Das oberste Gesetz ihres Elternhauses sei nicht die Liebe gewesen, sondern die Pflicht, berichtet Ida später über ihre Kindheit. Der zielstrebige Vater, zurückhaltend in seinen Gefühlen, legt Wert auf Strenge, Ordnung und Disziplin, und die Kinder müssen sich im Alltag einem sehr streng geregelten Tagesablauf unterwerfen. Auch die Mutter ist "keine Kuschelmutter", den Vater erlebt Ida  als regelrecht bedrohlich:
"[...] Unser Vater, oberster Strafgott. Ich habe ihn einmal, viel später sagen hörn, er habe uns nach dem Princip erzogen: Wer seine Kinder lieb hat, der züchtigt sie. Ich habe nie, nie, nicht ein einziges Mal etwas von Liebe unseres Vaters gefühlt. Nur Züchtigungen hab ich von ihm erfahren, als Kind mit dem Stock, als Erwachsener durch seine Ironie."  ( Quelle hier )
Die Mutter kommt also bei Ida besser weg: "Meine Mutter war eine vornehme Gütige, eine sanfte Herrin." Als diese mit 37 Jahren 1878 ein halbes Jahr nach der schwierigen Schwangerschaft & Geburt der jüngsten Schwester, von der sie sich nie erholt hat, stirbt, heißt es bei Ida, "war ihre Welt verwandelt". Zum Glück ist die kleine Schwester ein wahrer Sonnenschein, der die Düsternis im coblenzschen Haushalt erhellt. Auch die in der Nähe lebenden Großeltern Meyer sorgen für leichtere Momente in Idas Leben.

In dieser Zeit wechselt Ida vom häuslichen Unterricht zu dem im "Pensionat Sobernheim", einer Schule der Töchter des ehemaligen Bingener Rabbiners, von denen eine ein Lehrerinnenexamen gemacht hat. Dort finden sich alle jüdischen, protestantischen und auch katholischen Kinder ein, deren Eltern der Unterricht bei den "Englischen Fräulein" nicht genügt. Doch der Kontakt zu diesen anderen Kindern wird in der Familie Coblenz nicht gewünscht und, wo es geht, unterbunden.

Wie ihre beiden älteren Schwestern muss Ida im Alter von sechzehn Jahren den geschätzten Unterricht in Physik, Chemie, Geschichte und Geographie aufgeben, um, wie es für Töchter ihres Standes als angemessen betrachtet wird, an einem entsprechenden Institut den letzten Schliff als Heiratskandidatin verpasst zu bekommen. Dies tut sie ab dem Frühjahr 1884 in Brüssel, wo sie bei Verwandten wohnen kann. In dieser Privatschule begegnet sie zum ersten Mal antisemitischen Vorurteilen und reflektiert ihre Religion. Das Beste an diesem Aufenthalt ist der hervorragende Klavierunterricht, den sie bekommt.

Diese Zeit in Brüssel wird durch den Unfalltod eines Hausmädchens in Bingen beendet. Da ihre Schwester Alice zwischenzeitlich den Zeitungsverleger Julius Bensheimer geheiratet hat, in Mannheim wohnt und Julie in München mit Bernhard August Neumaier verlobt ist, ist Ida berufen, die "Pariser Großmutter"väterlicherseits bei der Führung des Haushaltes der Coblenz zu unterstützen.

Das wird die "ödeste Zeit meines Lebens", so in ihrer Rückschau. Ihr fehlt der Lebensinhalt. Außer fürs Klavierspiel und Literatur hat sie keine Interessen: "Ein Heißhunger nach schönen Worten, die mich einwiegten oder davontrugen in fremde Schicksale, lebte in mir" beschreibt sie. Ihre Hinwendung zu Musik, Literatur und Kunst sieht ihr Biograf Mathias Wegner als  geradezu "kathartischen Prozess" nach den Verlusten der Mutter und der kleinen Schwester Marie Louise dann im April 1892. Ida schwärmt für Nietzsche, Ibsen und Strindberg und veröffentlicht unter dem Pseudonym "Coba Lenz" oder "ISI" Artikel und Buchbesprechungen in der "Neuen Badischen Landeszeitung" ihres Schwagers Bensheimer. "Schwarz oder weiß, nur nicht grau, kalt oder heiß, nur nicht lau", so wird sie beschrieben.

Bald zeichnet sich ein innerfamiliärer Konflikt ab, als sie sich in den Leutnant Heinz von Hahn verliebt und sich mit ihm trifft, ohne dass der Vater davon weiß. Es wird ihm aber zugetragen und es folgt als väterliche Strafe zwei Jahre Schweigen, denn einen Antrag des jungen Mannes lehnt der Vater aus -  sehr verwunderlich - religiösen Gründen ab. Als 1888 ihre inzwischen verheiratete Schwester in München schwanger ist, kann Ida dorthin "ausweichen" und führt ein abwechslungsreiches Leben auf Bällen, in Oper & Theater. Den darauffolgenden Winter verbringt sie dann bei einer Tante in Berlin, wo sie ebenfalls das gesellschaftliche Leben genießt.

Ida Coblenz & Stefan George
( ca. 1890 )
1892 lernt die 22jährige den in Büdesheim bei Bingen geborenen, zwei Jahre älteren Dichter Stefan George kennen. Dessen Bruder Fritz hat Ida als seiner Tanzpartnerin von den ihm unverständlichen Gedichten seines Bruders erzählt und ihr die "Hymnen" ausgeliehen. Ida hat ihm dann das Buch mit einem enthusiastischen Brief zurückgeschickt, den Fritz an den Dichterbruder weitergeleitet hat. Und als jener nach Bingen zurückkehrt, sucht er Ida auf. 

Er, der sich schon einen Namen als Dichter gemacht hat, fühlt sich nach einer gescheiterten "Zwillingsbruderschaft" mit Hugo von Hofmannsthal einsam, will eventuell auch sein Problem mit Sexualität & Erotik klären, denn Ida, so scheint es, bleibt die einzige Frau, der George als Mann zugetan gewesen ist. Es beginnen vier Jahre der Gemeinsamkeit, in denen George Ida zu Hause besucht oder mit ihr Spaziergänge an Rhein & Nahe unternimmt, beglückend und oft auch quälend zugleich. Im Dialog über seine Gedichte können die beiden jungen Menschen ihre verborgenen Gefühle austauschen, ohne zu viel zu offenbaren oder sich dem anderen auszuliefern. Ida gefällt sich in der Rolle der Seelenverwandten, die - asexuell bleibend - zur tröstenden Freundin & inspirierenden Muse eines Dichters wird. George erwartet von ihr, dass sie tiefe seelische Empfindungen in schönen dichterischen Bildern offenbart.

"Ich war Georgianerin geworden – die erste die es gab", rühmt sich Ida später in ihren Erinnerungen. Im Umgang mit dem Stilisten George bahnt sich Idas Verhältnis zu Literatur und Kunst, wie es dann für ihr restliches Leben charakteristisch sein wird. Sie ist eine begabte und interessierte Leserin zeitgenössischer Werke, Kritikerin und Förderin, erkennt aber auch ihren Mangel an eigenem kreativen Potential und stellt sich deshalb in den Dienst des Begabteren. Darüberhinaus sind eigene heimliche Schreibversuche vom Vater entdeckt und Ida dafür heftig gescholten worden.

Ida selbst geht es in dieser Zeit ebenfalls nicht gut: Sie ist viel krank und leidet unter depressiven Stimmungen nach dem Tod der jüngsten Schwester und noch mehr unter dem Druck des Vaters, sich standesgemäß zu verheiraten. Beider schwankende Gefühlslagen schaffen Gemeinsamkeit, machen die Beziehung aber auch anfällig für Störungen. Auf solche reagiert George oft verletzt. Es stört ihn allerdings nicht, als Ida von ihrem Vater in eine Ehe mit Leopold Auerbach gedrängt wird - das Gegenteil ist der Fall, steigert die Lieblosigkeit in dieser Konventionsehe das Gefühl der Vertrautheit in ihrer Seelenverwandtschaft. Ein erotisches Verhältnis ist ja ohnehin zwischen den Beiden ausgeschlossen. Erst ein anderes Verhältnis wird George im November 1896 zum Bruch veranlassen.

1895
Zu Beginn des Jahres 1895 heiratet Ida also auf des Vaters Wunsch hin den Berliner Kaufmann Leopold Auerbach,  Inhaber der Exportfirma Louis Auerbach mit Sitz in der Taubenstraße 20. Liebe spielt in dieser Beziehung keine Rolle, im Gegenteil, dennoch bekommt Ida an Weihnachten desselben Jahres mit Auerbach ihr einziges Kind, den Sohn Heinz-Lux. 

In einer Villa in der Lennéstraße 5, in der Nähe des Tiergartens, mitten im Quartier der Berliner "Geistesgrößen" jener Tage, führt Ida einen mondänen Haushalt und greift bald die da schon verblassende Tradition der Berliner Salons auf. Das Leben in der Stadt verleiht ihr eben eine größere Selbständigkeit als in der Provinzstadt Bingen. "Ich habe mir damals die Freude gemacht, dieses Tohuwabohu von Menschen auf einen ganzen Sonntag zu mir einzuladen", schreibt sie in ihren Erinnerungen. 

Es kommen lauter "junge Wilde", antibürgerliche Bohemiens wie der norwegische Maler Edvard Munch oder der polnische Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski, Conrad Ansorge, ein Pianist, Hedwig Lachmann und Julie Wolfthorn, die Malerin, die Ida porträtieren wird. Und es kommt Richard Dehmel, der Mitbegründer der Zeitschrift "Pan", freier Schriftsteller, der "größte deutsche Dichter" laut Frank Wedekind bzw. einer, von dem Else Lasker-Schüler sagt, er sei "der einzige der außer mir dichten kann". Dehmel verliebt sich sofort in die schwangere Ida und dichtet: "Das Kind, das du empfangen hast,/sei deiner Seele keine Last,/o sieh, wie das Weltall schimmert." Und weiter: ".. du wirst es mir, von mir gebären" ( später vertont von Arnold Schönberg: "Verklärte Nacht" ). Zwischen den beiden wird aus der wechselseitigen Faszination ziemlich schnell eine starke Verbindung, für die es alsbald kein Zurück mehr gibt.
Der am 18. November 1863 in Hermsdorf bei Wendisch Buchholz, Provinz Brandenburg geborene
Richard Fedor Leopold Dehmel, ein Försterssohn, hat nach dem Abitur in Danzig 1882 in Berlin Naturwissenschaften, Nationalökonomie und Philosophie studiert und in Leipzig 1887 promoviert. Bereits während seiner Gymnasial- und Studienzeit enstehen erste Gedichte.Nach seiner Eheschließung 1889 mit der Märchendichterin Paula Oppenheimer, einer Berliner Rabbinertochter, verfasst er mit dieser Kinderbücher. Daneben hat er Kontakt zum Kreis der Berliner Naturalisten um die Gebrüder Heinrich und Julius Hart, die in den 1880er Jahren verschiedene Literaturzeitschriften gegründet haben und damit Wegbereiter der naturalistischen Bewegung sind. 1891 erscheinen seine ersten Gedichtbände "Erlösungen" und "Aber die Liebe" (1893). Die beiden Gedichtbände machen Dehmel zu einer führenden Persönlichkeit im literarischen Leben Berlins. Die gemeinsame Wohnung mit seiner Frau Paula ist ein Treffpunkt für Künstler, Literaten und Intellektuelle. 1894 ist Dehmel Mitbegründer der Zeitschrift "Pan", und im folgenden Jahr gibt er seine Stellung als Sekretär beim Versicherungsverband auf und lebt als freier Schriftsteller. Große Aufmerksamkeit erfährt er mit dem Gedichtband "Weib und Welt" (1896). Das darin enthaltene Gedicht "Venus Consolatrix" bringt ihm eine Anklage wegen Verletzung religiöser und sittlicher Gefühle ein ( das Gedicht im Buch muss geschwärzt werden ). Der Einfluss Richard Dehmels auf die jungen Dichter seiner Zeit, einschließlich der Expressionisten, ist enorm...

Schon um die Jahreswende 1892/93 hat Ida schwere Störungen in der Beziehung zum Dichterfreund George durch ihren Hinweis auf den Dehmelschen Gedichtband "Erlösungen" ( weil "ein großer Zug durch seine Dichtungen" geht ) heraufbeschworen. Jetzt kommt es 1896 zum endgültigen Bruch, als George im Hause Auerbach auf Dehmel trifft. Anschließend kündigt er Ida auf einer Visitenkarte die Freundschaft auf. 

In der Zwischenzeit sind auch immer wieder Gerüchte über den bevorstehenden Bankrott von Idas Ehemann aufgekommen. Er hat den Titel eines lateinamerikanischen Konsuls erworben und sich in riskante Finanzgeschäfte verwickelt. Er ist alles andere, so stellt sich heraus, als der ehrbare Kaufmann, für den ihn Idas Vater gehalten hat, denn er wird wegen Betrugsverdachts festgenommen und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das schöne Stadthaus im Tiergartenviertel muss geräumt werden, und Idas Leben als Gastgeberin der Gesellschaft ist zu Ende - für sie aber auch die Gelegenheit, sich 1898 aus dieser unseligen Ehe zu befreien.

Sie zieht mit ihrem kleinen Sohn nach Pankow, später sogar in ein Nachbarhaus von Richard & Paula Dehmel und führt mit diesen eine Ehe zu dritt - Ida und Richard sprengen so die Konventionen ihrer Epoche. Schließlich trennt sich Dehmel von seiner Ehefrau, und im Sommer 1898 verlassen er & Ida Berlin und reisen die kommenden Jahre gemeinsam nach Italien und Griechenland, bis Ida an Typhus erkrankt, und sie wieder nach Deutschland zurück müssen.

Nach der Scheidung von ihren Ehepartnern legalisieren sie 1901 ihre Verbindung durch eine Heirat in London, weil die Tabubrecherin letztlich doch "keine zigeunerhaften Zustände" ertragen kann. Zu guter letzt akzeptiert auch Idas Vater die neue Verbindung.

Zunächst lebt das Paar in Heidelberg, wo ihr Freund, der Dichter Alfred Mombert, wohnt. Während dieser Zeit knüpfen und pflegen sie wichtige Kontakte mit der Künstler-Kolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt. Ende 1901 ziehen sie auf Wunsch ihres Dichterfreundes Detlev von Liliencron endgültig nach Hamburg - Blankenese. Zunächst mieten sie für zehn Jahre eine Wohnung in der Parkstraße.

Die Dehmels genießen alsbald einen gewissen, nicht unumstrittenen Bekanntheitsgrad, denn ihre intensive, körperlich wie seelische Verbindung sowie ihr gefühlsmäßig wie geistig befreiendes Miteinander wird von Teilen der Gesellschaft nicht akzeptiert, von anderen wiederum bewundert & idealisiert. Sie stilisieren sich in dieser Hoch-Zeit der Lyrik zum Traumpaar der literarischen Jahrhundertwende. 

Das Leben mit Ida an seiner Seite bestimmt Dehmels Dichtkunst: Aus der Liebe zu ihr schöpft er hemmungslose Verse, und diese provozieren durch ihre Offenheit. Der Dichter wird so berühmt, dass er von seinen Gedichten und Lesungen gut leben kann. Beide sind von seinem Können zutiefst überzeugt, und Ida lebt ganz selbstverständlich in der selbst gewählten Rolle der Dichtergattin, als Gefährtin eines großen Mannes - und zwar bis an ihr Lebensende.

Ida & Richard Dehmel (1905)


In Blankenese umgeben sie sich mit Freunden, Künstlern, Schriftstellern, Gleichgesinnten und Bewunderern und pflegen die Geselligkeit und Diskussionen. Zum Alltag gehören aber auch Reisen und das Aufrechthalten familiärer Verbindungen. Ida wird beschrieben als 

"... außergewöhnliche Erscheinung. Sie trug Reformkleider, weite Kleider, nicht mit den großen Unterröcken und den engen Schnüren, sie sprach mit rheinischem Akzent. Und sie hat immer versucht, Frauen aus den unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft zusammenzuführen. Und es haben wirklich viele auch Anstoß genommen an diesen grenzüberschreitenden Ideen und an ihrem Eigensinn", so Carolin Vogel vom Hamburger Dehmelhaus an dieser Stelle.

Ida liebt den großen Auftritt und dass sie die Blicke auf sich zieht. Auf Fotografien ist sie in extravaganten Kleider und Kostümen zu sehen. Keineswegs strebt sie nach Anpassung an den bewährten, konservativen Stil der Hamburgerinnen. Für manche Bekleidungsstücke ist auch der Künstlergatte federführend.

Julie Wolfthorn:
Bildnis der Frau Konsul A (Ida Dehmel)
(1897)
Doch das ist nicht die ganze Ida: Sie ist intelligent und sprachgewandt und - bei aller Hingabe an ihren Künstlergatten als seine Frau und Muse – verfolgt ihre ganz eigenen Ziele und will selbst etwas bewegen. Dazu befähigt sie ihr ausgeprägter Wille, ihr Verstand, ihr Organisationstalent, ihre Dynamik und Beharrlichkeit gepaart mit großer Hilfsbereitschaft. Sie engagiert sich sowohl in der Entwicklung der Kunst aller Sparten - ganz Kulturmanagerin im heutigen Sinne - als auch für die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. 

Angeregt durch ihre in der überregionalen Frauenbewegung aktive Schwester Alice Bensheimer setzt sie sich ab 1902 für das Wahlrecht für Frauen ein und macht sich für dessen Durchsetzung in Verbänden stark. 1911 wird sie beispielsweise Vorsitzende der "Norddeutschen Liga für Frauenwahlrecht". Darüberhinaus ist ihr die Hilfe für Bedürftige ein Anliegen. 1906 setzt sie sich für die Gründung des Hamburger Frauenclubs ein und ist in dessen Vorstand. Die Mitglieder kommen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten. Sein Ziel ist eben nicht nur auf breitere progressive feministische Anliegen bezogen, sondern auch auf die einschränkende Klassen- und Geschlechterpolitik der wilhelminischen bürgerlichen Gesellschaft.

Ida selbst wird Mitglied des 1907 gegründeten "Deutschen Werkbundes", stellt ihre perlenverzierten Kleidungsstücke aus und baut gegen Ende des Ersten Weltkriegs mit einer Perlenwerkstatt ein profitables Geschäft auf.

1916 gründet sie mit der Kunsthistorikerin und Sammlerin Rosa Schapire den "Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst" und wird eine bedeutende Netzwerkerin für Künstler des Expressionismus und hält Mäzen*innen an, Werke lebender Künstler zu kaufen und den Museen als Geschenk zuüberlassen. Auch widmet sie sich der Vermittlung von Schriftstellerinnen an Verlage und begleitet deren weiteres Schreiben.

Schon 1911–1912 hat sich das Paar in Blankenese in der Westerstraße (heute Richard-Dehmel-Straße) von Walther Baedeker ein Haus nach ihren eigenen Plänen, aber auf seine Kosten, bauen lassen. Viele Freunde sammeln Geld  für das Haus und schenken es dem Dichter schließlich zum fünfzigsten Geburtstag 1913. Unter diesen Gönnern sind Stefan Zweig und Arthur Schnitzler, Walther Rathenau und die Unternehmer bzw. Verleger Eduard Arnhold, Samuel Fischer und Gustav Kirstein.

Bei Peter Behrens, den sie aus Darmstadt kennen, bestellen sie die Champagnergläser, jedes Möbel, sogar die Tapete, wird von ihnen selbst entworfen. Beeinflusst werden sie dabei nicht nur von Behrens, sondern auch vom inzwischen in Weimar lebenden Belgier Henry van de Velde und Reformelementen des Jugendstils. Das Haus wird zu einer Insel der Avantgarde in der konservativen Hamburger Umgebung.

Der Kriegsausbruch 1914 bringt für Ida einschneidende Veränderungen: Ihr Sohn Heinz-Lux wird eingezogen. Und auch ihr 51jähriger Ehemann gerät in den nationalen Rausch & fühlt sich verpflichtet, aktiv am Ersten Weltkrieg teilzunehmen. Der Sohn fällt 1917 an der französischen Front und wird im Garten des Dehmel-Hauses beerdigt. Richard Dehmel kommt gesundheitlich beeinträchtigt aus dem Krieg zurück. Während seiner Abwesenheit hat sich Ida stark auf karitativem & sozialpolitischem Gebiet in unterschiedlichen Frauenorganisationen betätigt. Vor allem organisiert sie Hilfe für Witwen und Waisen. Doch entzieht der Krieg auch dem großzügigen, mäzenatischen Stil der Dehmels die gewohnte, traditionelle Grundlage.

Richard Dehmel stirbt schließlich am 8. Februar 1920 an einer Venenentzündung, einer Kriegsfolge. Ida ist kurz zuvor gerade fünfzig Jahre alt geworden und gerät in eine tiefe Lebenskrise, aus der sie nie wieder ganz herausfindet. Ihre finanzielle Situation wird jetzt durchaus problematisch, so dass sie für den Erhalt des Nachlasses eine Stiftung und die Dehmel - Gesellschaft gründet. Ida entscheidet sich schließlich für die Rolle der Hüterin des Hauses & Werkes Richard Dehmels, ja, sieht sich gar als seine "Dienerin", Gott dankend, dass sie "Dehmel glücklich machen durfte". Sie beginnt eine umfangreiche Auswahl seiner Briefe zu editieren, die sie in einem großen Archivschrank gesammelt hat. Das gesellschaftliche Leben im Haus erhält sie aufrecht und sie macht aus dem privaten Künstlertreff jetzt eine begehrte Adresse im Hamburger Kulturleben. Ihre Perlenwerkstatt im Keller ist ein weiteres Standbein.

"Ihre wohl folgenreichste Gründung aber war die Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstförderer, kurz Gedok: Ida Dehmels Idee, Künstlerinnen aller Sparten mit Kunstfreunden unter einem Dach zu vereinen, griff von 1926 an wie ein Lauffeuer um sich. Immer neue Ortsgruppen schossen aus dem Boden. Binnen kurzer Zeit zählte die Gedok siebentausend Mitglieder. Als Vorsitzende des Dachverbandes fand ihre Gründerin auch in der Kulturpolitik Gehör", schreibt Carolin Vogel in der FAZ.

Der Bundesvorsitz und die Verwaltung der neuen GEDOK mit bald 7000 Mitgliedern nimmt sie bis 1933 stark in Anspruch. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, muss sie als Jüdin dieses Amt niederlegen. Auch ihrer anderen gesellschaftlichen Ämter geht sie verlustig, und sie wird mit einem Publikationsverbot belegt. Doch die künstlerischen Veranstaltungen im Dehmel-Haus finden weiterhin statt. Mit Hilfe ihrer Nichte Emmi-Marianne Gärtner, die in ihrer Nähe wohnt, widmet sie sich weiter dem Dehmel-Archiv. Die Nazis zwingen die Sekretärin, die von Ida wegen eines Augenleidens zum Schreiben gebraucht wird, die Tätigkeit bei ihr einzustellen. So  kann sie die endgültige Version ihres (nie veröffentlichten) autobiografischen Romans "Daija" nicht überarbeiten.

1935
Auch Idas Schwester Alice wird aus dem öffentlichen Leben ausgesperrt und muss von ihrem Amt als Sekretärin des "Reichsverbandes Deutscher Frauenvereine" zurücktreten.  Ihr Tod 1935 lässt Ida weiter vereinsamen. 

Doch sie unternimmt noch Kreuzfahrten - u.a. nach Westindien & Amerika und übers Mittelmeer -, aber die Chance zu emigrieren, ergreift sie nicht, zu groß ist die Sorge um den Nachlass ihres Mannes: "…, ich würde nie auswandern im Moment in dem ich das Dehmelhaus verlassen muß, mache ich Schluß..", schreibt sie noch im Dezember 1938. Im Jahr darauf darf sie Hamburg gar nicht mehr verlassen.

Danach lebt sie zurückgezogen, nach wie vor umgeben von Freunden. Ihre Jugendliebe Heinz von Hahn, an den sie sich um Unterstützung bittend gewandt hat, geht zu ihr allerdings auf Distanz. Dank ihrer Freundin Mary von Toll ( in Zusammenarbeit mit dem Prinzen Friedrich Christian von Schaumburg-Lippe ) kann Ida nach wie vor in ihrem Haus bleiben. Peter Suhrkamp, der Verleger, interveniert, damit sie keinen Judenstern tragen muss und verhindert später immer wieder ihre Deportation. In einem Brief an Marie Stern hält Ida in Einzelheiten die Verhaftungen und Deportationen Hamburger Juden fest. Doch die Schlinge zieht sich auch für sie immer mehr zu:

Im Herbst 1942, als ihre Untermieter bereits nach Theresienstadt deportiert worden sind, schreibt sie in einem anderen Brief: "Eine arische Bekannte meiner Mieterin kam zu Besuch. Ich schloß ihr die Haustüre auf. Eine junge Frau. Sie sagte zu mir: 'Wie gut, daß Sie noch nicht dran sind, da können Sie doch bessere Reisevorbereitungen treffen.' Und da schlägt kein Blitz ein und lähmt ihr die Zunge …"

Schwer krank, fast erblindet und völlig deprimiert setzt Ida Dehmel am 29. September 1942 ihrem Leben mit einer Überdosis Schlaftabletten in ihrem Haus ein Ende.

"Eine angemessene Würdigung ihres Werkes steht noch aus. Aufgrund seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung ist das von ihr aufgebaute Archiv heute einer der am meisten nachgefragten Bestände der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Arnold Schönbergs 'Verklärte Nacht' wird noch immer gespielt. Frauen fordern weiter Rechte ein. Die Gedok zählt heute noch 2800 aktive Mitglieder in 23 Städten. Das Dehmelhaus wurde denkmalgerecht restauriert. Ida Dehmels Erbe also lebt", so Carolin Vogel, die einen nicht unerheblichen Beitrag dazu leistet.

CC BY-SA 2.0
1948 wird die alte GEDOK wieder ins Leben gerufen. Seit 1968 wird von ihr alle drei Jahre der Ida Dehmel Literaturpreis für das Gesamtwerk einer deutschsprachigen Autorin vergeben, zuletzt 2020 zu ihrem 150. Geburtstag an Ulrike Draesner. Aus Anlass dieses Geburtstages hat die Gesellschaft auch einen Sonderpreis für Bildende Kunst ausgelobt, Preisträgerin Susanne Krell

Das Dehmel-Haus erhält zunächst die Familie unter großem Einsatz und harten Entbehrungen, bis das denkmalgeschützte Haus, leer und verfallen, 2014 in die Trägerschaft der eigens gegründeten Dehmelhaus Stiftung übergeht, die es dank der Unterstützung durch die Hermann Reemtsma Stiftung wieder originalgetreu herrichtet. Es ist inzwischen zu besichtigen.

In Idas Geburtsstadt Bingen ist im Stefan-George-Haus, Freidhof 9, im Dachgeschoss ein Vortragssaal für max. 70 Personen nach ihr benannt, außerdem eine Straße. Auch in Mannheim trägt eine Ringstraße ihren Namen.

Gelungen ist es den Nazis also nicht, die Erinnerung an die schöne & begabte Netzwerkerin vom Rhein gänzlich auszulöschen...


 



6 Kommentare:

  1. Liebe Astrid,

    da freue ich mich richtig drauf, später diesen Beitrag zu lesen.

    Zumal mir beim Drüberlesen 3 Worte aufgefallen sind, C(K)oblenz, Bingen, Rhein. Der schönste Abschnitt des Mittelrheins ( für mich ) zwischen Koblenz und Bingen. Und eine sicher sehr interessante Frau, die du vorstellst. Vorfreude.

    Liebe Grüße
    Claudia

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  2. In welchem Zusammenhang ihr Name in meinem Gedächtnis einen Anker geworfen hat, weiß ich gar nicht mehr. So interessant und auch bewegend ihr Leben bei Dir wieder so ausführlich zu lesen. Danke Dir dafür!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  3. Dass sie die GEDOK gegründet hat, wusste ich nicht. Ich kenne einige Künstlerinnen, die stolz darauf sind Mitglied bei der GEDOK zu sein. Sie wirkt also bis heute noch, die faszinierende Ida Dehmel.
    Das finde ich so schön, wenn ich so etwas erfahre.
    Deine Parallelen erspüre ich, wenn auch zum Glück wir heutigen Frauen uns aber eine finanzielle Unabhängigkeit aufgebaut haben. Weiblich, alt und arm sein, dass ist keine gute Mischung.
    Danke für dieses hochinteressante Portrait sagt herzlich,
    Sieglinde

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  4. Liebe Astrid,
    wieder ein Lesegenuss! Wieder eine große Frau und ein prall gefülltes Leben, wieder eine Biografie, die Mut macht und traurig zugleich.
    Danke dafür
    Alles Liebe und eine schöne Zeit
    Elisabeth

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  5. Liebe Astrid
    Jede deiner Great Women Geschichten erwarte ich ungeduldig und gönne mir dann eine lange Lesepause. Diese von Ida Dehmel packte mir sehr.
    Danke, dass du dir die Zeit nimmst, diese Geschichten zu portraitieren.
    Liebe Grüessli
    Eda

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  6. jaa .. Ida Dehmel..
    endlich mal ein bekannter Name ;)
    allerdings habe ich mich auch nicht näher mit ihr befasst und jetzt
    eine Menge dazu gelernt
    ihr Leben ist ein auf und ab von schlechten und guten Zeiten
    trotzdem bleibt sie sich treu ..
    sie war auch eine hübsche Frau ;)
    danke für das Portait
    liebe Grüße
    Rosi

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst! Ich setze allerdings voraus, dass am Ende eines anonymen - also von jemandem ohne Google- Account geposteten - Kommentars ein Name steht. Gehässige, beleidigende, verleumderische bzw. vom Thema abweichende Kommentare werde ich nicht veröffentlichen.

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